Ein neuer Fall
Detective Andrew und ich verlassen den Streifenwagen und ich werfe ihm einen nachdenklichen Blick zu. „Also bedeutet das, es ist etwas Ähnliches wie beim letzten Mal?"
Er nickt knapp, während er unter dem vertrauten Absperrband hindurchschlüpft.
„Ja, das gleiche Motiv. Überall wieder diese verdammten Schriftzeichen." Seine Stimme ist nüchtern, aber die Anspannung in seinem Kiefer verrät, wie sehr ihn diese Morde innerlich belasten.
Ich folge ihm, und als ich die Szenerie um uns herum wahrnehme, spüre ich ein beklemmendes Déjà-vu. Wie beim letzten Tatort ist die Atmosphäre gespenstisch still. Die Polizisten arbeiten konzentriert, fast mechanisch, jeder in seiner Rolle, während neugierige Bewohner des Wohnblocks aus ihren Fenstern schauen und leise miteinander tuscheln. Anders als beim letzten Mal befinden wir uns nicht in einem Einfamilienhaus, sondern in einer Wohnung. Die Vorstellung, dass hier mehr Menschen dicht beieinander leben und diesen Albtraum so nahe miterleben müssen, gibt mir einen Stich.
„Gehen wir gleich rein, Pater", sagt Andrew mit seiner rauen, ruhigen Stimme und und gibt mir zu verstehen das ich ihm in den ersten Stock folgen soll. Die alte Holztreppe knarrt unter unseren Schritten, und die enge Treppen-hausbeleuchtung wirft lange Schatten an die Wände, die meine Unruhe nur verstärken.
Als er die Wohnungstür aufschließt und sie langsam aufdrückt, bemerke ich sofort den Unterschied zum letzten Tatort. Kein verrottender Leichengeruch, der mir den Atem raubt. Stattdessen... Stille. Eine beklemmende, fast unangenehm klare Luft, als wäre der Tod hier noch frisch.
„Die Morde sind erst vor Kurzem geschehen", erklärt Andrew, ohne mich anzusehen. Seine Stimme hat diesen eigenartigen Ton, als könnte er meine Gedanken lesen. „Aber das macht es nicht weniger grauenvoll."
Wir betreten die Wohnung, mein Blick wandert über die schäbige, spärlich eingerichtete Umgebung. Alles wirkt noch wie in einem normalen Haushalt... eine halbleere Kaffeetasse auf dem Tisch, ein geöffnetes Buch auf dem Sessel, als wäre das Leben hier plötzlich unterbrochen worden. Doch der Kontrast zu dem, was ich gleich sehen werde, lässt eine eiskalte Vorahnung in mir aufsteigen.
Andrew führt mich ins Wohnzimmer, und ich spüre, wie mein Magen sich zusammenzieht, bevor ich überhaupt die Szene erfasst habe.
An der Decke hängen zwei Körper. Die Zwillinge, ich kenne sie. Ihre Leichen baumeln an groben Seilen, ihre Köpfe grotesk abgeschlagen. Blut kleckert in dicken Tropfen von den Wunden auf den Boden, wie eine makabre, pulsierende Quelle des Lebens. Doch es sind nicht nur die kopflosen Korper, die den Raum mit ihrer abscheulichen Präsenz erfüllen.
Die Köpfe selbst liegen auf der Couch, als wären sie achtlos darauf abgelegt worden.
Sie starren leer und unbarmherzig in den Raum. Ihre Gesichtszüge sind eingefroren in einer Mischung aus Schock und Entsetzen, als hätten sie den Moment ihres Todes in all seiner grausamen Intensitat miterlebt.
Ein Schauder läuft mir über den Rücken, und ich zwinge mich, ruhig zu atmen. Das Entsetzen, das ich hier empfinde, ist nicht neu, aber jedes Mal fühlt es sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Ich kann mich nicht daran gewöhnen. Niemand kann das.
„Schriftzeichen", flüstert Andrew leise und deutet auf die Wände. Tatsächlich. Überall sind sie. Dieselben unverständlichen, fast rituell wirkenden Symbole, die wir auch am ersten Tatort gefunden hatten. Sie ziehen sich wie eine unheimliche Botschaft über die Wände, mit Blut gezeichnet, und verstärken den Eindruck, dass dies mehr ist als nur ein brutaler Mord - es ist eine Inszenierung, ein Ritual.
„Was auch immer hier vor sich geht", murmelt Andrew neben mir, „es ist nicht vorbei. Das wird weitergehen." Seine Stimme klingt müde, fast resigniert.
Ich schlucke schwer und wende den Blick von den Leichen ab und versuche die Szene zu verarbeiten.
„Haben Sie schon mit jemandem gesprochen?
Nachbarn oder Zeugen?" frage ich leise, um meine Gedanken zu ordnen.
Andrew schüttelt den Kopf. „Keiner hat was gesehen. Die Leute hier sind wie immer... neugierig, aber blind, wenn's drauf ankommt." Er seufzt schwer, bevor er mir ins Gesicht blickt, seine Augen dunkel und von Müdigkeit gezeichnet. „Was auch immer es ist, es ist größer, als wir dachten."
„Ich hab natürlich recherchiert. Die Schriftzeichen sind nicht sehr aussagekräftig. Wie schon dachte, sind sie hebräisch, aber in verschiedenen Auslegungen. Mehr als heiliger Vater steht da nicht. Der Täter hat sich einfach einen Spaß erlaubt und das in so vielen verschiedenen Varianten geschrieben."
Detective Andrew schaut mich enttäuscht an. Ich weiß, dass er gehofft hat, dass ich mehr dazu sagen kann. Doch es gibt nicht so viel zu entschlüsseln, es sieht mehr aus, als es tatsächlich ist.
„Aber ich habe eine andere Idee", sage ich. „Kennen Sie den alten Priester? Er hat mir davon erzählt, dass er eine Gruppe von Menschen aus der Gemeinde entfernen musste. Sie haben komische Rituale durchgeführt."
Mein Blick wandert erneut zu den Leichen, welche von der Decke hängen. „Das hier sieht ebenfalls aus wie ein Ritual. Vielleicht eher wie eine Opfergabe, diese toten Körper und das ausbluten lassen..."
Der Detective folgt meinem Blick. Er nickt ganz leicht und scheint zu verstehen. „Diese Gruppe... wissen Sie wo sich diese aufhält?"
„Leider nein", sage ich. „Aber ich kann es in Erfahrung bringen."
„Wie wäre es, wenn wir etwas essen gehen? Burger. Haben Sie Lust?", fragt Detective Andrew beiläufig.
Ich starre ihn ungläubig an. „Essen? Nach all dem, was wir gerade gesehen haben? Wie können Sie da an Essen denken?"
Er zuckt mit den Schultern, als wäre es das Normalste der Welt. „Nach dem letzten Fall war ich mit meiner Frau beim Italiener. Man muss irgendwie weitermachen, wissen Sie? Geben Sie sich einen Ruck."
Skeptisch mustere ich ihn. Ich verstehe nicht, wie er in solchen Momenten so gelassen sein kann. Trotzdem stimme ich zu und folge ihm.
. . .
„Sie essen keinen Burger?", fragt Andrew kauend, während er herzhaft in seinen Cheeseburger beißt.
„Doch", sage ich und schiebe mir eine Pommes in den Mund, die ich in Mayonnaise gedippt habe. „Aber nach dem ersten Tatort kann ich kein Fleisch mehr sehen. Geschweige denn essen."
Er ignoriert meine Bemerkung, nimmt stattdessen einen großen Schluck von seinem Milchshake und wischt sich den Mund ab. „Diese eine Nonne – Schwester Lahela, oder? – in welcher Verbindung stehen Sie zu ihr?"
Ich runzle die Stirn. „Was meinen Sie mit Verbindung? Wir leben im selben Kloster. Wieso fragen Sie?"
Er zieht eine Augenbraue hoch, während er mich mit einem scharfen Blick taxiert. „Sie scheinen eine engere Beziehung zu ihr zu haben als zu den anderen. Liege ich da richtig?"
Ich verschränke die Arme. „Schwester Lahela ist eine gute Freundin. Sie ist mir wichtig. Aber das gilt für alle im Kloster."
Er nickt langsam, ein Grinsen umspielt seine Lippen. „Verstehe. Aber hat sie Ihnen erzählt, dass sie auf mich zugekommen ist? Nicht umgekehrt?"
Überrascht schüttele ich den Kopf. „Nein, das hat sie nicht erwähnt. Wieso sollte sie auch?"
Andrew lehnt sich entspannt zurück, als wäre das Ganze ein lockeres Gespräch, aber ich spüre, dass etwas in der Luft liegt. „Sie war früher Reporterin, richtig?"
„Ja, das war sie. Aber das Leben als Nonne erfüllt sie jetzt mehr als alles andere." Ich denke kurz nach. Schwester Lahela ist in ihrer Rolle als Nonne tatsächlich aufgeblüht, ihre Hingabe zum Glauben ist beeindruckend.
„Das merkt man ihr an", sagt Andrew nachdenklich. „Sie wirkt sehr zufrieden."
Ich nicke, doch bevor ich eine weitere Pommes nehmen kann, dreht er das Gespräch plötzlich um.
„Und Sie?"
„Was ist mit mir?" Ich bin verwirrt von dem abrupten Themenwechsel.
„Vor und während Ihres Theologiestudiums haben Sie in einem Fitnessstudio gearbeitet, stimmt's?"
„Ja, und was ist daran so besonders?" frage ich und schaue ihn direkt an.
Er lächelt, aber seine Augen bleiben kühl. „Gar nichts. Ich versuche nur herauszufinden was für ein Priester Sie sind."
„Ein ganz normaler Priester", antworte ich, doch das Gefühl, dass er mich in die Enge treiben will, verstärkt sich.
Andrew grinst nur, beißt wieder in seinen Burger und kaut langsam, als würde er meine Reaktion abwarten. „Sie haben keine weiße Weste, Pater. Sie sind kein gewöhnlicher Priester."
Seine Worte treffen mich wie ein Schlag. Ich lege meine Pommes beiseite und blicke ihn forschend an. „Was meinen Sie damit?"
Er beugt sich leicht vor und spricht leise, aber eindringlich. „Ihr Vater hat Sie rausgeworfen, als Sie dreizehn waren. Das ist kein typischer Werdegang, vor allem nicht für jemanden aus wohlhabendem Hause. Warum hat er das getan?"
Ich spüre, wie mein Magen sich zusammenzieht. Woher weiß er das? Und warum interessiert es ihn?
„Er hat Sie rausgeworfen, weil er gesehen hat, wie Sie mit einem Jungen Händchen gehalten haben."
Ich starre ihn an, mein Herz schlägt schneller. „Okay, stopp. Woher wissen Sie das alles? Und was genau geht Sie das an?" Meine Stimme ist scharf, und ich lehne mich nach vorne, um ihm klarzumachen, dass ich keine weiteren persönlichen Fragen mehr dulde. „Was wird das hier?"
Andrew setzt seinen Burger ab und fixiert mich mit einem ernsten Blick. „Ich versuche herauszufinden, ob Sie mit den Morden in Verbindung stehen."
Mir bleibt der Mund offen stehen. Für einen Moment fehlen mir die Worte. „Das kann nicht Ihr Ernst sein. Sie glauben doch nicht wirklich, dass ich..." Ich halte inne, um mich zu sammeln, senke die Stimme und spreche leise, um nicht die Aufmerksamkeit der anderen Gäste zu erregen. „Verstehen Sie überhaupt, wie sehr mich diese Morde belasten?"
„Vielleicht. Aber wenn Sie meine Fragen beantworten, können Sie mich vielleicht davon überzeugen, dass Sie unschuldig sind."
Wut kocht in mir hoch, aber ich zwinge mich zur Ruhe. „Also gut", sage ich schließlich und lehne mich zurück, resigniert. „Stellen Sie Ihre Fragen."
Andrew nickt und fährt fort, als würde er aus einem Bericht vorlesen. „Mit dreizehn wurden Sie von Ihrem Vater rausgeworfen. Danach haben Sie sich über Wasser gehalten, indem Sie in einem Fitnessstudio gearbeitet haben, obwohl Sie so jung waren. Sie haben die Schule beendet, sind Theologie studieren gegangen und sind schließlich Priester geworden."
„Und das ist mein Leben", sage ich trocken. „Was wollen Sie jetzt damit anfangen?"
„Warum sind Sie Priester geworden?" fragt er plötzlich.
Ich seufze. „Weil ich es immer wollte. Ich habe mir nie etwas anderes vorstellen können. Ist das so schwer zu verstehen?"
„Nein. Aber Sie wirken auf mich nicht wie ein typischer Priester. Es gibt etwas an Ihnen, das anders ist."
Ich starre ihn an, versuche seine Absichten zu lesen, doch sein Gesicht bleibt undurchdringlich. Was genau denkt er von mir?
„Und was genau wäre das?", frage ich ihn und verschränke die Arme vor der Brust. „Sie wissen doch so viel über mein Leben, dann können Sie mir bestimmt auch das sagen."
Andrew lehnt sich zurück und sieht mich durchdringend an, als hätte er längst alle Antworten. „Ihr Vater war ebenfalls Priester, bis er Ihre Mutter kennenlernte und sich in sie verliebte. Danach war es mit seiner Berufung vorbei. Sie haben geheiratet und dann kamen Sie zur Welt. Das Ende seiner Laufbahn als Priester. Ich nehme an, Sie wollen jetzt in seine Fußstapfen treten."
„Sie werden es kaum glauben, aber genau das tue ich gerade", sage ich und halte seinem Blick stand. „Aber ich bin nicht Priester geworden, weil er es von mir erwartet hat. Auch nicht, um es besser zu machen als er."
„Dann warum?", fragt er und nimmt einen weiteren Schluck von seinem Milchshake. „Sie können mir die Frage doch selbst nicht beantworten."
Ich runzle die Stirn und überlege kurz. „Ist es nicht offensichtlich, warum jemand Priester wird?"
Andrew schüttelt langsam den Kopf. „Eigentlich schon, aber in Ihrem Fall bin ich mir da nicht so sicher."
Seine Worte verwirren mich. Warum ist er so fixiert auf meine Vergangenheit? Was soll das alles? „Worauf wollen Sie hinaus?" frage ich schließlich, versuche aber ruhig zu bleiben. Das ganze Gespräch fühlt sich surreal an. Woher weiß er so viel über mich? Die Polizei scheint jedes noch so kleine Detail zu kennen.
„Na gut, da Sie es selbst nicht sagen wollen...", beginnt er und sein Blick wird schärfer. „Sie stehen offensichtlich auf das gleiche Geschlecht. Immerhin war das der Grund, warum Ihr Vater Sie rausgeworfen hat."
Ich spüre, wie sich meine Muskeln anspannen, aber ich lasse mir nichts anmerken. „Und weiter? Was hat das damit zu tun, warum ich kein Priester sein könnte?"
Andrew zieht eine Augenbraue hoch, als hätte er auf diese Reaktion gewartet. „Ich habe ein paar Dinge über Sie herausgefunden. Zum Beispiel stand Ihr Theologiestudium auf der Kippe. Sie haben zu Ihrer Abschlussfeier Alkohol getrunken und sind mit einem anderen Mann und einer Frau in einem Strip-Club verschwunden. Gerüchten zufolge hatten sie dort einen Dreier."
Mein Herz schlägt schneller. „Verdammt, reden Sie leiser!", zische ich und lehne mich weiter nach vorn. „Was, wenn das hier jemand hört?"
„Wie haben Sie es geschafft, trotzdem Priester zu werden? Haben Sie einen Professor überzeugt?", fährt er unbeirrt fort. „Mit 15 haben Sie Drogen verkauft, Gras geraucht. Tun Sie das immer noch?"
„Natürlich nicht!", fauche ich und merke, wie die Wut in mir hochkocht. „Warum konfrontieren Sie mich mit meiner Vergangenheit? Das ist alles Jahre her. Ich habe mit all dem nichts mehr zu tun."
Andrew lächelt leicht, aber es ist kein freundliches Lächeln. „Das mag sein. Ich wollte Ihnen nur zeigen, dass Sie kein normaler Priester sind. Sie haben ein rebellisches Leben geführt, bevor Sie diesen Weg eingeschlagen haben."
Ich atme tief durch, versuche, meine Ruhe zu bewahren. „Menschen können sich ändern. Mein Glaube war immer da, aber jetzt ist er stärker als je zuvor. Ich bin nicht mehr der Mensch, der ich damals war. Ich habe mein Leben komplett verändert. Mein Glaube an Gott ist unerschütterlich."
Andrew schaut mich aufmerksam an. „Und Sie sind glücklich mit diesem Leben?"
„Ja, das bin ich. Ich habe mich verändert und bin die beste Version von mir selbst geworden. Gott und mein Glaube haben mir dabei geholfen." Ich mache eine Pause und sehe ihn ernst an. „Und das alles, was ich Ihnen erzählt habe, bleibt unter uns. Wenn Sie das an die Öffentlichkeit bringen, werde ich Sie wegen Verletzung der Privatsphäre anzeigen."
Der Detective nickt langsam und nimmt einen weiteren Bissen von seinem Burger. „Sie haben mich überzeugt", sagt er schließlich, mit vollem Mund. „Ich hatte keine konkreten Anhaltspunkte, Ihre Nonne war am Tatort, bevor wir es waren. Und dann hörte ich, wie nah Sie mit einigen Leuten hier sind. Ich suche einfach nach einem Anhaltspunkt."
„Sie suchen auf die falsche Art und Weise", entgegne ich scharf und schiebe meinen Stuhl zurück. „Schicken Sie mir die Fotos, ich gehe jetzt."
Ohne eine Antwort abzuwarten, stehe ich auf und verlasse das Restaurant. Meine Gedanken rasen, das Gespräch hat alte Wunden aufgerissen. Ich wollte nicht an diese Dinge erinnert werden.
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