Die Versuchung
Silas' Zimmer ist immer noch unpersönlich, als hätte er absichtlich darauf verzichtet, es nicht anders einzurichten. Keine Fotos, keine Bücher, nichts, was ihm gehört. Ich frage mich, ob er sich hier wirklich wohlfühlt oder ob er das nur vorgibt, um mich und die anderen zu beruhigen.
„Setz dich ruhig," sagt Silas sanft und deutet auf das Bett. Hier in seinem Zimmer zu sein, allein mit ihm, löst in mir ein seltsames Gefühl aus. Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns unter vier Augen unterhalten, aber dieses Mal liegt eine andere Spannung in der Luft. Der Raum riecht nach ihm. Es ist ein warmer, vertrauter Duft, der mich für einen Moment benommen macht. Unwillkürlich ziehe ich die Luft etwas tiefer ein und frage mich, ob es in Ordnung ist, dass ich das angenehm finde.
Ich setze mich an den Rand des Bettes und bemerke sofort, wie fest die Matratze ist. Anders als meine, die ist viel weicher und angenehmer. Ein winziges Detail, aber es lässt mich spüren, wie fremd dieser Raum für mich ist.
Silas zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich mir gegenüber. Seine Augen... diese grau leuchtenden Augen, ruhen auf mir. Er lächelt, während er sich mit einer Hand seine Locken aus der Stirn streicht, eine kleine, fast beiläufige Geste, die mir das Herz schneller schlagen lässt. „Wenn du bereit bist, zu reden, bin ich hier. Ich will dir zuhören, Lyle. Ich kann dir helfen, wenn du mich lässt."
Ich atme tief ein, es wäre so einfach, mich ihm zu öffnen. Doch gleichzeitig weiß ich, dass es das Schwierigste ist, was ich tun könnte. All die Dinge, die ich seit Jahren in mir trage, die ich immer nur mit Gott geteilt habe... Kann ich sie wirklich jemand anderem anvertrauen?
„Es fällt mir schwer, darüber zu sprechen", gebe ich zu. Meine Stimme klingt fremd, als wäre sie nicht wirklich meine. „Ich... habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen. Ich weiß nicht, wie ich das anfangen soll."
Silas' Augen leuchten auf, als hätte er genau auf diesen Moment gewartet. „Weißt du noch, was du mir gesagt hast?" Seine Stimme ist sanft, aber bestimmt. „Du hast mir gesagt, dass du mich niemals verurteilen wirst. Dass du mich so siehst, wie ich eben nun mal bin. Und genau das sage ich jetzt auch zu dir, Lyle. Egal, was du mir erzählst, ich werde dich nicht anders sehen. Du bist für mich dann immer noch der selbe."
Seine Worte berühren mich wirklich sehr, mehr als ich gedacht hätte. Wie oft habe ich diese Art von Vertrauen von meinen Gemeindemitgliedern verlangt? Wie oft habe ich ihnen gesagt, dass sie sich öffnen sollen? Und jetzt, wo ich hier sitze, fühle ich mich wie ein Feigling, unfähig, dasselbe zu tun.
Ich helfe den Leuten, ich nehme ihre Beichten ab und versuche Wege mit Ihnen zu finden. Aber... Wer hilft mir?
„Die Verletzungen, die du gesehen hast..." Meine Stimme bricht kurz ab. Ich muss mich zwingen, die Worte auszusprechen. „Ich habe sie mir selbst zugefügt."
Für einen Moment ist es, als ob die Zeit stillsteht. Silas' Augen weiten sich leicht, und ich kann die Überraschung in seinem Blick sehen, auch wenn er versucht, sie zu verbergen. Er hat es nicht erwartet. Vielleicht dachte er, jemand anderes hätte mir das angetan.
„All diese Wunden..." Er stockt, seine Stimme ist rau. „Die Narben...?"
Ich nicke nur, mein Blick ist auf den Boden gerichtet. „Ja. Ich habe mir das selbst angetan." Die Worte klingen wie ein Urteil, als würde ich mich selbst anklagen.
Das Zittern in meinen Händen wird stärker, und ich kann kaum glauben, dass ich das tatsächlich ausgesprochen habe. Jahrelang habe ich dieses Geheimnis bewahrt, habe mich stumm selbst bestraft.
„Wie...?" Seine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. „Wie hast du das gemacht?"
„Ich habe eine Peitsche," sage ich, und die Worte fühlen sich schwer und schmutzig an. „In meinem Zimmer."
Silas' Gesicht verändert sich, seine Augen werden groß, und ich kann den Schock darin sehen. Er sagt nichts, starrt mich nur an, als würde er nach einer Antwort suchen, die er nicht finden kann. Ich habe gewusst, dass dieser Moment kommen würde – dass er mich ansehen würde, als wäre ich jemand anderes, als wäre ich kaputt.
„Lyle..." Er sagt meinen Namen mit so viel Zärtlichkeit, dass ich es kaum ertragen kann. Er streckt die Hand aus, greift nach meinem Arm, und die Berührung ist warm, beruhigend. „Warum tust du dir das an?"
Ich schlucke schwer, versuche die Worte zu finden. „Es ist kompliziert. Du musst verstehen, ich bin ein Priester. Ich predige anderen, wie schlimm es doch ist, zu sündigen. Ich nehme ihre Beichten ab, um ihnen ihre Sünden zu vergeben... und dann sündige ich selbst."
Für einen Moment sagt er nichts. Seine Hand ruht noch immer auf meinem Arm, und ich spüre die Wärme seiner Haut. Es ist eine einfache Geste, doch in diesem Augenblick fühlt es sich an, als würde er mich festhalten, damit ich nicht zerbreche.
Silas' Worte klingen in meinen Ohren nach, als er mich mit diesem durchdringenden Blick ansieht, der keine Urteile fällt, sondern nur nach Antworten sucht. Es ist, als würde er in meine Seele blicken und etwas finden, was ich selbst nicht sehen kann – oder vielleicht nicht sehen will. Sein Mitgefühl berührt mich, aber es verwirrt mich auch, weil ich mich an diesen Umgang mit meinen eigenen Schwächen nicht gewöhnt habe.
„Das zu tun... das ist grausam," sagt er leise, aber entschlossen. „Machst du das auch mit anderen?"
Ich zucke bei der Vorstellung zusammen. „Um Gottes willen", antworte ich schnell, beinahe panisch. „Das würde ich niemals tun."
Silas atmet tief durch und neigt den Kopf leicht zur Seite, als würde er die Puzzleteile zusammenfügen wollen, die für ihn keinen Sinn ergeben. „Das habe ich mir gedacht", murmelt er. „Aber warum tust du es dann dir selbst an?"
Sein Blick ruht auf mir, er ist weich, aber gleichzeitig auch durchdringend. Er will verstehen, will Antworten, doch was ist, wenn ich selbst keine klaren Antworten habe? Ich weiß nur, dass es sich für mich richtig anfühlt. Seitdem ich denken kann, wollte ich Priester werden. Ich wollte meinem Vater nacheifern, wollte ihn stolz machen.
„Weil es für mich der richtige Weg ist," sage ich, bemüht meine Stimme fest klingen zu lassen. „Es fühlt sich richtig an, auch wenn du das vielleicht nicht verstehen kannst." Ich weiß, dass es für ihn schwer ist, das nachzuvollziehen. Selbst jetzt, wo ich versuche es ihm zu erklären, merke ich, wie fremd es für ihn klingen muss.
Er nickt langsam, als würde er meine Worte abwägen, aber ich sehe den Widerspruch in seinen Augen. „Okay," sagt er schließlich, beinahe flüsternd, und zieht seine Hand von meinem Arm zurück. Ein Teil von mir wünscht sich, dass er die Berührung nicht unterbricht, dass er mich nicht loslässt. „Es ist okay, Lyle."
Seine Worte überraschen mich. Ich erwarte Ablehnung oder vielleicht Widerspruch, aber stattdessen zeigt er Verständnis. Trotzdem sehe ich, wie schwer es ihm fällt. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie schrecklich diese Schmerzen sein müssen. Ich... ich verstehe das nicht ganz, das gebe ich ehrlich zu. Für mich ist es grausam, für mich fühlt es sich falsch an. Du verdienst es nicht, so behandelt zu werden."
Seine Stimme ist leise, beinahe brüchig, als er diese Worte ausspricht. Ich kann sehen, dass er versucht, mich zu verstehen, dass er sich in meine Welt hineinversetzen will, auch wenn es für ihn unmöglich ist, das vollständig zu begreifen.
„Wieso bist du dir da so sicher?" frage ich, mit einem Anflug von Trotz in meiner Stimme. „Du kennst meine Sünden nicht. Du weißt nicht, was ich getan habe."
Silas sieht mich an, seine grauen Augen sind durchdringend. „Dann erzähl es mir," sagt er sanft. „Lass mich verstehen, was dich so sehr belastet."
Sein Angebot, es zu teilen, überrascht mich. Kann ich ihm das sagen? Kann ich ihm die dunkelste meiner Sünden anvertrauen, ohne dass er mich mit anderen Augen sieht? Ich weiß, dass Silas anders ist. Er ist kein Mönch, er hat nicht dasselbe Leben wie wir hier im Kloster geführt. Vielleicht wird er es eher verstehen als jeder andere. Aber kann ich das Risiko eingehen?
Ein Knoten bildet sich in meiner Kehle, und als ich beginne zu sprechen, zittert meine Stimme. „Ich..." Ich schließe kurz die Augen, zwinge mich, die Wahrheit auszusprechen. „Ich berühre mich manchmal selbst. Ich... ich mache es mir selbst."
Kaum sind die Worte ausgesprochen, erfasst mich eine tiefe Scham. Es ist, als würde ich mich selbst verraten. Alles in mir zieht sich zusammen, und ich wage es kaum, Silas anzusehen.
Doch als ich einen vorsichtigen Blick auf ihn werfe, sehe ich, wie sich seine Gesichtszüge entspannen. Seine Mundwinkel zucken leicht, als wolle er lächeln, aber er hält es zurück. „Bitte versteh mich nicht falsch... Du bestrafst dich also nur, weil du sexuelle Bedürfnisse hast?" Seine Stimme ist sanft, aber ich spüre die Verwirrung darin. „Ich kann das nicht so ganz verstehen... ist das wirklich so schlimm?" Er runzelt die Stirn und fährt fort, als wolle er es wirklich begreifen, „Ist es wirklich eine so große Sünde?"
Ich nicke stumm. „Es ist die Todsünde der Wollust," sage ich. „Mönche, Nonnen, Priester – wir leben alle keusch. Das ist unser Versprechen."
Silas lehnt sich nachdenklich zurück. „Ich verstehe." Seine Worte sind leise, doch ich spüre, dass er es nicht wirklich begreift. „Es ist... schwierig für mich, das zu akzeptieren. In meinen Augen ist es eine so natürliche Sache. Jeder Mensch hat Bedürfnisse. Es fühlt sich nicht falsch an, ihnen nachzugeben."
Er lehnt sich wieder zu mir vor, seine Hand findet erneut ihren Platz auf meinem Arm. „Aber ich verstehe, wieso du das so empfindest," sagt er. „Ich verstehe, dass dein Glaube dir das vorschreibt und dass du eine enorme Verantwortung spürst. Es ist nur schwer für mich, weil ich dich so sehe und nicht will, dass du dir so viel Schmerz zufügst."
Seine Worte hallen in mir nach, und ich spüre eine Wärme, die sich langsam in meiner Brust ausbreitet. Silas versteht vielleicht nicht alles, aber er ist hier. Er ist bereit, mich zu begleiten, auch durch die dunkelsten Ecken meiner Seele.
Seine Worte treffen mich tief. „Danke," flüstere ich, und obwohl es nur ein einziges Wort ist, scheint es so viel zu bedeuten. „Für alles... für den Abend im Kino und dafür, dass du mir jetzt zuhörst." Ich sehe Silas direkt ins Gesicht, ein zartes Lächeln auf meinen Lippen, doch mein Inneres ist aufgewühlt. Es fühlt sich an wie eine riskante Geste, ihn so anzusehen, wissend, dass seine Blicke oft mit etwas mehr als nur Freundschaft gefüllt sind.
Er erwidert mein Lächeln, aber diesmal bleibt der Ernst. „Ich bin gern für dich da," sagt er mit dieser tiefen, sanften Stimme, die mich immer wieder berührt. „Du verdienst es genauso wie alle anderen. Du trägst die Lasten von so vielen Menschen, hörst ihnen zu, nimmst ihnen ihre Beichten ab... aber wer hört dir zu? Ich möchte dir helfen."
Bevor ich reagieren kann, steht er auf und setzt sich direkt neben mich aufs Bett. Sein Knie berührt mein Bein, und plötzlich ist der Raum viel kleiner geworden. Die Wärme seines Körpers dringt durch den Stoff meiner Kleidung, und ich spüre, wie mein Herzschlag schneller wird.
„Ich fühle mich jetzt so viel besser," gebe ich zu, überrascht von meiner eigenen Ehrlichkeit. „Auch wenn es noch... etwas befremdlich ist."
Silas lächelt, und sein Blick wird weicher. „Es freut mich, dass du dich besser fühlst." Mit einer sanften Bewegung legt er seine Hand an meinen Rücken, seine Finger gleiten leicht über die Stelle, wo die Wunden noch nicht ganz verheilt sind. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, und ich zucke unwillkürlich zusammen. Es ist nicht nur der Schmerz – es ist seine Berührung, die mich erschüttert.
Und doch lasse ich es zu. Irgendetwas in mir weigert sich, diese Nähe abzubrechen. Seine Finger hinterlassen eine leichte Gänsehaut auf meiner Haut, und ich spüre, wie meine Gedanken in eine Richtung abdriften, die ich nicht zulassen sollte. Doch gerade jetzt, in diesem Moment, fühlt sich seine Nähe unerwartet tröstlich an. Ich bin zu schwach, um dem zu widerstehen.
Plötzlich sagt er etwas, das mich aus meinen Gedanken reißt. „Moment mal." Seine Stimme hat einen nachdenklichen, fast verspielten Ton angenommen. „Du... hattest diese frischen Wunden einen Tag, nachdem ich dir gebeichtet habe, dass ich meine Eltern getötet habe."
Ich blinzle, verwirrt. „Was meinst du damit?"
Ein zufriedenes Lächeln schleicht sich auf seine Lippen, als hätte er ein Geheimnis aufgedeckt. „Das bedeutet, du hast das getan... nachdem wir uns das erste Mal begegnet sind. Du hast dich selbst verletzt, nachdem du mich getroffen hast." Er zögert kurz und sieht mich mit einem Blick an, der mehr zu wissen scheint, als er sagen will. „Und du hast dich nach unserer ersten Begegnung selbst berührt, richtig?"
Ich fühle, wie mir das Blut in den Kopf schießt. Meine Gedanken sind durcheinander, und ich kann nichts sagen. Silas scheint genau zu wissen, an wen ich dabei gedacht habe.
„Du stehst auf verkorkste Jungs, stimmte?" Seine Stimme ist leise, fast flüsternd , und er grinst mich an, als hätte er mich ertappt. „Oder... stehst du auf diese ganze verkorkste Sache? Ist es, weil ich... du weißt schon, was mit meinen Eltern..."
„Nein!" rufe ich, schneller als ich es beabsichtigt habe. „Nein, das ist es nicht." Meine Stimme klingt hohl, und ich weiß, dass ich ihn nicht überzeugt habe.
„Verstehe." Sein Grinsen wird breiter. „Also stehst du generell auf... böse Jungs."
Meine Kehle ist trocken, und ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Hat er mich wirklich durchschaut? Hat er recht? Die Wärme seiner Hand auf meinem Rücken lässt mich kaum atmen, und die Spannung in der Luft ist fast greifbar.
„Vielleicht haben wir mehr gemeinsam, als du denkst." Seine Stimme ist jetzt kaum mehr als ein Flüstern, und ich spüre seinen Atem auf meiner Haut. Seine Hand wandert noch immer auf und ab, sanft und beinahe tröstend, aber auch so verwirrend nah. Ich weiß, dass ich fliehen sollte, dass ich diesen Raum verlassen muss, bevor es zu spät ist. Aber ich bleibe sitzen. Meine Beine weigern sich, sich zu bewegen, und ich will nicht, dass er aufhört.
„Ich... sollte gehen," flüstere ich, doch die Worte klingen schwach, ohne Überzeugung. Statt aufzustehen, bleibe ich regungslos neben ihm sitzen. Ich will nicht, dass diese Nähe endet, und doch weiß ich, dass ich es beenden sollte.
„Musst du nicht." Silas' Stimme ist ein sanftes Versprechen, während seine Hand von meinem Rücken in meinen Nacken gleitet. Sie ist warm, hinterlässt ein Kribbeln, das sich über meinen ganzen Körper ausbreitet. „Bleib noch ein bisschen."
Ich schließe die Augen und beiße mir auf die Lippe, während ich innerlich kämpfe. „Ich kann nicht," bringe ich schließlich heraus und zwinge mich, aufzustehen. Mein Körper fühlt sich schwer an, als würde er gegen meine Entscheidung ankämpfen.
„Warte, Lyle." Silas erhebt sich schnell, seine Stimme drückt Reue aus. „Es tut mir leid... das war falsch von mir. Bitte geh nicht. Ich... ich fühle mich einfach so gut bei dir." Er fährt sich durch sein Haar, als wäre er selbst von seinen Gefühlen überfordert.
Ich stehe da, starre ihn an, während ein Sturm in mir tobt. Die Tür ist so nah, doch meine Füße sind wie festgefroren. „Ich sollte gehen," wiederhole ich schwach, doch meine Seele zögert.
Und in diesem Moment weiß ich, dass ich mich entscheiden muss: bleibe ich bei ihm, oder verlasse ich diesen Raum und alles, was er gerade in mir entfesselt hat?
„Morgen Früh ist Gottesdienst, danach eine Hochzeit", sage ich. „Ich muss ins Bett. Wir sehen uns morgen."
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