Die 10 Gebote

Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren. Du sollst den Tag des Herrn heiligen. Du sollst Vater und Mutter ehren. Du sollst nicht töten. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten Aussagen. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Gut.
Ich zerlege jedes einzelne der zehn Gebote in meinem Kopf. Silas sagt, er hat eines davon gebrochen. Im Prinzip kann es also alles sein. Er kann seine Eltern unehrenhaft behandelt haben, er kann allerdings auch jemanden bestohlen oder getötet haben oder er hat die Freundin oder Frau seiner Freunde begehrt. In diesem Moment habe ich viel zu wenige Informationen.

„Du kennst dich also mit den Geboten aus. Hast du dich schon vorher einmal damit befasst?"

„Mehr oder weniger. Ich kenne es natürlich aus der Schule und das ist bei mir hängen geblieben."

Ich muss ihm besser zu verstehen geben, dass Gott bereit ist, zu verzeihen. Niemand wird urteilen und falsch über ihn sprechen. Das Vertrauen gegenüber der Kirche ist allerdings noch nicht groß genug, dafür hat er sich zu wenig damit befasst.
„Weißt du, die zehn Gebote existieren natürlich nicht ohne Grund. Gott hat sich etwas dabei gedacht, denn er hat immer einen Plan für uns und zeigt uns immer den richtigen Weg. Er weiß auch, dass der Mensch einen eigenen Willen hat, und somit wurde ihm klar, dass diese Gebote gebrochen werden. Auch von Menschen, die eigentlich nach einem strengen Glauben leben. Gott ist bereit, Menschen zu verzeihen. Dir sollte bewusst sein, dass Gott dich liebt. Wenn er das nicht tun würde, dann wärst du nicht hier."

Silas schaut mich nachdenklich an. Es scheint so, als würde er langsam verstehen, was ich ihm sagen möchte und wie wichtig es ist, über seine Taten zu sprechen. „Ich versteh schon, trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass du im Anschluss nicht anders von mir denkst."

„Ich bilde mir kein Urteil über dich, das steht mir auch gar nicht zu. Es ist zudem nicht wichtig was ich von dir denke, dass Einzige was zählt ist das, was du über dich denkst und das was Gott über dich denkt."

„Ich weiß nicht, was ich über mich denke", sagt er und klingt dabei ziemlich niedergeschlagen. „Zumindest jetzt nicht mehr, deswegen bin ich hier. Ich weiß aber nicht, ob es das Richtige war hier her zu kommen. Ich habe auf Vergebung gehofft, aber ich bezweifle das ich die bekomme."
Silas' Augen wirken glänzend, ich sehe wie sich die Tränen in ihnen sammeln und er mit sich selbst kämpft.

Manchmal ist ein Priester nicht einfach nur ein Priester, sondern manchmal nimmt er die Rolle eines Psychotherapeuten ein. Diese beiden Rollen liegen sehr nah beieinander und ich habe schon oft festgestellt, dass man sie nicht einfach so trennen kann. „Es gibt da dieses Zitat aus Matthäus 6:14; Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Verstehst du was damit gemeint ist?"

Der grauäugige Junge beginnt langsam zu nicken. Er tippt mit seinen Fingerspitzen auf den Handrücken seiner anderen Hand.
„Silas", sage ich und lehne mich nach vorn. Ich lege meine Hand auf den kleinen Holztisch zwischen uns und schaue den Jungen an. „Vielleicht wäre es ein Anfang, wenn wir zusammen beten. Es würde dir helfen, wenn du eine engere Bindung zum Heiligen Vater bekommst."

Skeptisch betrachtet er meine Hand. Er zögert, greift dann allerdings zu. Seine Handfläche ist angenehm warm, nachdem er seine Tasse Tee eine ganze Weile damit festgehalten hat. Mühsam versuche ich die Gedanken in meinem Kopf zu sammeln und keine falschen hindurchzulassen. Auch wenn es mir schwer fällt, gerade darf das nicht passieren. Ich muss versuchen ihm zu helfen, ihm geht es augenscheinlich nicht gut.
„Okay, schließe deine Augen und sprich mir einfach nach; Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes..."

„Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, bitte verzeihe mir, dass ich meine Eltern umgebracht habe. Amen."

Für einen Moment bin ich mir sicher, gerade nicht richtig gehört zu haben. Ich weiß in diesem Moment nicht, ob ich meinen Ohren vertrauen kann, oder ob ich irgendwas falsch verstanden habe. Ich habe nicht damit gerechnet, so etwas auf diese Art und Weise zu erfahren. Unwillkürlich verspannt sich mein Körper, Silas scheint davon nichts mitbekommen zu haben, denn er hat seine Augen immer noch geschlossen.

Für dieses Szenario gibt es keine korrekte Vorgehensweise. Ich habe schon viele verschiedene Beichten gehört, mittlerweile dachte ich sogar, es gibt nichts was ich nicht gehört habe. Von anderen Priestern wusste ich, dass auch so etwas vorkommen kann, aber das es in unserer Gemeinde passiert, damit habe ich nicht gerechnet. Es ist nichts was ich unterstützen kann und werde, allerdings ist es auch kein Grund den Jungen wegzuschicken. Er ist in seiner dunkelsten Zeit zu mir gekommen, am Rande der Verzweiflung.
„Ich hab's doch gesagt, Priester." In Silas Worten klingt ein Hauch von Verachtung. Er steht auf und läuft in Richtung der Tür.

„Nein, bitte warte. Du hast mein Schweigen falsch aufgenommen. Hör mir bitte zu, natürlich ist das, was du getan hast, keine leichte Sache. Da wollen wir uns nichts vormachen, das kann man auch nicht leugnen. Aber ich habe dir gesagt, ich denke danach nicht anders von dir und das tue ich jetzt auch nicht. Ich habe auch gesagt, dass Gott alles verzeihen kann."

Silas wirkt hin und hergerissen, er scheint sich nicht sicher zu sein, ob er jetzt gehen soll oder sich wieder hinsetzen soll. Ich bin mir ebenfalls nicht sicher, welche der beiden Dinge besser wäre. Ich sehe hier vor mir keinen kaltblütigen Mörder. Ich sehe einen verzweifelten Jungen, der hierher gekommen ist, um erhört zu werden. Das muss man ihm hoch anrechnen.
„Du bist hier, das ist der erste richtige Schritt. Du weißt was du getan hast und ich spüre auch, dass du damit nicht glücklich bist. Setz dich bitte wieder zu mir."

„Wem wirst du es sagen?" - „Niemanden, das ist verboten, sogar gesetzlich festgehalten."

Er schaut mich mit einem eisigen Blick an und kommt in kleinen Schritten auf mich zu. Genau vor mir bleibt er stehen und schaut nach unten. „Hast du keine Angst, dass ich dich auch töte? Wenn ich in der Lage dazu war, meine beiden Eltern mit einem Mal zu töten, denkst du nicht, ich würde es bei dir auch schaffen?"

Ich schaue nach oben, direkt in sein Gesicht. Vielleicht sollte ich Angst vor ihm haben, vielleicht sollte ich seine zwielichttigen Aussagen als Drohung ansehen, vielleicht sollte ich aber auch einfach nur hinter die Fassade schauen. Wenn er mich oder irgendjemand anderes in diesem Kloster hätte verletzen wollen, dann hätte er es schon längst getan. Wieso hätte er bis zu diesem Moment warten sollen?
„Nein", antworte ich. „Davor habe ich keine Angst."

„Nein? Wovor hast du Angst?"

Ich schaue ihn fragend an, in diesem Moment fällt es mir wirklich schwer, klare Gedanken zu fassen. Diese Ausnahmesituation bringt mich durcheinander. Dennoch schleichen sich immer wieder fragwürdige Dinge in meinen Kopf. Es fühlt sich manchmal so an, als würde er ein Spiel spielen. In dem einen Moment ist er unglaublich verletzlich und absolut verzweifelt, im anderen Moment ist er total aufgeschlossen und neugierig. Und jetzt steht er hier vor mir und ich weiß nicht, mit wem ich es zu tun habe. Ich entschließe mich dazu, seine Frage nicht zu beantworten. „Setz dich bitte wieder hin, ich würde gern mit dir über alles sprechen."

„Ich weiß, dass du Angst hast. Dein Atem geht schneller und ich sehe, dass deine Hände schwitzig sind."

„Silas, ich habe keine Angst vor dir. Wenn ich das hätte, dann wäre ich nicht mehr hier und würde hier sitzen."

Ein leichtes, kaum merkliches Grinsen liegt auf seinen Lippen. „Ich glaube dir, dass du keine Angst vor mir hast. Aber ich glaube, du hast Angst vor dir selbst."
Endlich geht er wieder zurück und setzt sich ebenfalls wieder auf seinen Sessel. Ich versuche zu verstehen, was er mit seiner Aussage gemeint hat.
„Wieso sollte ich Angst vor mir selbst haben?"

Der grauäugige Junge lehnt sich zurück und dreht seinen Kopf zu meiner Seite. „Sag du es mir, Pater. Aus irgendeinem Grund hat sich deine Atmung wieder normalisiert."

Ich beschließe jetzt nicht mehr darauf einzugehen, trotzdem frage ich mich auf welche Details er achtet und wieso ihm das so wichtig ist. Er kann meine Gedanken nicht hören und selbst wenn er das könnte; sie sind fest verschlossen, hinter irgendeiner sicheren Tür in meinem Kopf.
„Fühlst du dich bereit, mir zu erklären, wie es soweit kommen konnte? Gab es einen Auslöser dafür?"

„Den gab es. Aber ich kann und werde nicht darüber sprechen."
Silas beginnt wieder damit, seine Hände zu kneten.  Jemand, der keine Reue zeigt oder einfach nur ein Psychopath wäre, würde nicht so verzweifelt sein wie er. So eine Person würde sich nicht darum kümmern, was Ich oder die Kirche von ihm denkt. So eine Person wäre gar nicht erst hierher gekommen, sondern hätte sein Leben weiter gelebt. Ich habe so viele Fragen im Kopf.

„Okay, das ist in Ordnung. Was genau kannst du denn darüber erzählen? Wozu fühlst du dich bereit?"

Er schaut mich mit glasigen Augen an und zuckt mit den Schultern. „Ich habe niemanden, niemand, der mir daraus helfen kann. Ich bin alleine und hab jetzt nicht mal mehr meine Eltern. Ich bin die schlimmste Person, die du dir vorstellen kannst. Ich bin einfach verloren."
Seine Stimme zittert während er spricht, ich sehe, wie er mit den Tränen kämpft und sich bemüht, nicht zu weinen.

„Du bist nicht allein", sage ich und lege meine Hand wieder für ihn auf den Tisch. Auch wenn er jetzt vielleicht nicht zugreifen kann; er soll wissen, dass ich da bin und wenn ich es bin, dann sind es auch alle anderen. „Wir finden gemeinsam einen Weg da raus. Auch wenn du jetzt nicht daran glaubst und dir nicht vorstellen kannst wie, Gott weiß es definitiv. Du musst mir einfach nur vertrauen."

Der Junge schließt seine Augen, sein Atem geht schwer, und er beißt sich auf die Unterlippe, um seine Tränen zu unterdrücken. Ich weiß nicht, wie es tief in ihm aussieht und ich weiß auch nicht, was passiert ist. Ich bin der festen Überzeugung, dass es kein Mord war. Ich denke an Totschlag oder vielleicht sogar eine Tat aus Notwehr. Es gibt eine Hintergrundgeschichte, Silas ist allerdings noch nicht bereit, diese zu erzählen.

Ich will fest auf Gott vertrauen, denn er ist meine Hoffnung. Er ist mein Fels und meine Hilfe, meine Burg, in der mir nichts geschehen kann." Ich greife mit meiner anderen Hand nach der Box mit den Taschentüchern und schiebe hier auf die andere Seite des Tisches.

„Das war aus der Bibel. Stimmt's?"
Silas öffnet seine Augen und zieht sich ein Taschentuch aus dem kleinen Pappkarton. „Ich bewundere es, dass du alles auswendig kannst." Zögerlich legt er seine Hand in meine. Dieses Mal ist sie nicht mehr so warm, dieses Mal ist sie kalt und zittrig.

„Es gibt so viele Verse aus der Bibel, die dir genau das sagen. Du bist nicht allein. Es gibt immer Hoffnung. Du musst es nur zulassen."

„Ich will es versuchen, es ist nur so schwer. Ich frage mich einfach nur, wieso das passieren konnte, wenn es Gott gibt. Wie konnte er das zulassen?"

„Gott hat jedem Menschen einen freien Willen gegeben. Er hat das getan, weil er weiß er kann uns vertrauen. Gott hat sich was dabei gedacht, er hat es nicht einfach nur so getan. Du konntest selbst entscheiden, was du tust, und hast es allein getan. Es war dein freier Wille, und es ist gut, ein freien Willen zu haben. Weißt du, warum ich glaube, dass du ein guter Mensch bist?"

Silas schüttelt nur mit dem Kopf und schaut mich neugierig an.
„Du hast diese Tat begangen, das wissen wir beide und man kann es nicht mehr rückgängig machen. Allerdings bist du danach hierher gekommen und das sagt so viel über dich aus. Du hättest das nicht machen müssen, du hättest dich auch einfach irgendwo verstecken können oder das Land verlassen. Du bist allerdings hier, weil du etwas ändern möchtest. Du hast dich jetzt für den richtigen Weg entschieden. Ich glaube auch du hast mir nicht die ganze Geschichte erzählt, zumindest jetzt noch nicht. Das ist okay, wir machen das alles in deinem Tempo."

Kein Mensch ist von Grund auf böse und kein Mensch kommt böse auf die Welt. Es gibt immer Gründe für gewisse Taten, auch wenn Außenstehende diese nicht sehen können. Jeder Sünder hat seine Gründe, nur er allein muss diese wissen. Manchmal entscheidet man sich für das böse und findet nie mehr auf den richtigen Weg zurück. Manchmal verliert man allerdings nur das Ziel aus den Augen und nach einer gewissen Zeit kommt man auf den richtigen Weg zurück.

Silas beginnt leise zu schluchzen. Zu hören, dass ich nicht schlecht von ihm denke und dass auch Gott nicht schlecht von ihm denkt, hat sehr viele Emotionen in ihm ausgelöst. „Danke", bringt er mit zittriger Stimme hervor. „Es war das Richtige hier her zu kommen."

„Der Meinung bin ich auch, wie wäre es, wenn du morgen wieder zurück kommst? Vielleicht fühlst du dich dann bereit mir mehr zu erzählen?"
Ich schenke ihm ein ehrliches Lächeln und drücke seine Hand dabei. Er soll sich hier wohl fühlen und diesen Ort mit positiven Gedanken verlassen.

„Sehr gern, das wäre echt gut. Vielleicht gibt es ein Hotel in der Nähe, kannst du mir eins empfehlen?"

„Wo warst du denn die letzten Tage?"

Der Grauäugige zieht seine Hand zurück und senkt seinen Blick. „Keine Ahnung", sagt er schulterzuckend. „Ich bin gestern erst angekommen und dann habe ich einfach an der Haltestelle gewartet."

„Du hast die ganze Nacht an der Haltestelle gestanden?", frage ich ihn perplex. Als Antwort bekomme ich ein zaghaftes Nicken. Ich glaube, für ihn war das eine gewisse Art, sich selbst zu bestrafen. Wenn er wirklich so viel über unser Kloster weiß, dann weiß er auch von unseren Notunterkünften. Theoretisch hätte er sich gestern melden können, damit er nicht nachts draußen bleiben muss.

Ich denke einen Moment nach, vielleicht hat er auch einfach kein Geld dabei und kann sich kein Hotel leisten. Vielleicht möchte er auch einfach nicht alleine sein und braucht die Gewissheit, dass jemand um ihn herum ist. In unserem Kloster gibt es auch Besucherzimmer, diese können ganz normal wie ein Hotel gebucht werden. Da sich Silas in einer unausweichlichen Situation befindet, haben die Brüder und Schwestern bestimmt kein Problem damit, dass wir ihn für ein paar Tage ohne finanzielle Gegenleistung bei uns aufnehmen.

„Wir sind ein gemischtes Kloster. Bei uns leben sowohl Nonnen als auch Mönche, ich kann dir also anbieten, dass du ein Zimmer bei uns bewohnen kannst. Im Besucher Haus sind ein paar Zimmer frei und wenn du möchtest, kannst du ein paar Tage dableiben."

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