Der Gast
Nach unserem morgendlichen Gebet, bei dem uns immer ein paar unserer Gemeindemitglieder beiwohnen, begebe ich mich zum Refektorium um dort mit den anderen zu frühstücken. Weil mir heute nicht nach Essen zumute ist, nehme ich mir einfach nur einen Kräutertee, den Schwester Levana heute Morgen frisch zubereitet hat.
Nach letzter Nacht ist mir immer noch total flau im Magen und ich würde nichts anderes herunterbekommen. Zusätzlich dazu schmerzt mein Rücken bei jeder Bewegung die ich mache und das möchte ich mir nicht nach außen hin anmerken lassen. Auch wenn Bruder Leander sich gut um die Wunden an meinem Rücken gekümmert hat und einige davon sogar genäht hat, dauert es einige Tage bis die Schmerzen nachlassen.
„Pater Lyle, wie geht es dir heute?"
Schwester Lahela setzt sich mit einer Tasse und einem Teller voll Obst neben mich. Ihre blonden Locken hat sie heute zu einem strengen Pferdeschwanz nach hinten gebunden und die Kopfbedeckung bedeckt diese komplett. Sie lächelt mich aufmunternd und nimmt einen Schluck aus der weißen Tasse.
„Danke das du fragst, etwas müde und erschöpft. Und wie ist es bei dir?", sage ich und zwinge mich ebenfalls zu einem Lächeln.
„Mir geht es gut, danke. Möchtest du etwas?"
Sie schiebt mir ihren Teller zu und zeigt auf die Erdbeeren. „Die haben wir frisch gepflückt, sie sind wirklich köstlich." - „Nein danke, ich habe keinen Appetit."
Sie schaut mich mit traurigen Augen an und schiebt sich eine der Erdbeeren in den Mund. „Wow die ist wirklich so gut! Wenn du das nur genauso schmecken könntest wie ich!"
„Du hast gewonnen." Ich nehme mir eine der roten Früchte und führe sie mir an den Mund, sofort steigt mir der süße und erdige Geruch in die Nase. Seitdem ich hier im Kloster lebe, gibt es jeden Tag nur noch frische, selbst angebaute Dinge zu essen. Das Angebot ist wirklich sehr weitreichend und abwechslungsreich, sogar Tiere werden von uns bewirtet. Wir haben so viele engagierte Brüder und Schwestern die sich auf diesen Bereich spezialisiert haben und sich ausschließlich mit der Landwirtschaft befassen und diese Dinge auch weiterverarbeiten.
„Du hast recht", sage ich. „Die sind wirklich gut."
„Habe ich doch gesagt." Breit grinsend nippt sie wieder an ihrer Tasse. „Dieser Junge von gestern, den ich gemeinsam mit Schwester Levana nach drüben in das Besucherhaus gebracht habe, kennst du ihn?"
Mir ist sofort klar, dass sie von Silas spricht. Niemand anderen haben wir gestern bei uns aufgenommen. Ich habe mich bemüht nicht nochmal an ihn zu denken, doch mir war klar, dass ich das zwangsläufig muss.
„Ich habe ihn gestern kennengelernt. Ich habe ihm gesagt wir nehmen ihn für ein paar Tage auf. Er braucht das momentan, glaube ich."
„Er wirkt traurig und ist wirklich sehr nett und zuvorkommend. Ich glaube die Entscheidung war richtig."
War sie das wirklich? Ich glaube das wird sich erst in den nächsten Tagen zeigen.
„Ich werde mich in der nächsten Zeit mit ihm auseinandersetzen. Er war vorher noch nie einer katholischen Gemeinde. Ich glaube es könnte ihm gut tun."
„Das ist so lieb von dir. Vielleicht führst du ihn heute ein wenig herum? Er hat so verloren ausgesehen und wollte auch nicht am Frühstück oder Morgengebet teilnehmen. Am besten du schaust mal nach ihm."
. . .
Nach dem Frühstück mache ich mich auf den Weg zum Gästehaus. Der Morgen ist still und die Luft noch angenehm kühl. Unterwegs begegne ich Aaron, der schon fleißig arbeitet, so wie er es versprochen hat. Er winkt mir freundlich zu und formt mit seinen Lippen ein stummes Dankeschön. Ich frage mich, ob Silas auch irgendwann seinen Weg in unsere Gemeinde findet, es würde ihm mit Sicherheit gut tun.
Ob das für mich ebenfalls gut wäre, weiß ich nicht. Auch wenn ich mir verbiete, ständig an ihn zu denken, kommen die Gedanken immer wieder hoch. Vermutlich sollte ich einfach härter an mir arbeiten.
Bevor ich an die Zimmertür mit der Nummer acht klopfe, hole ich tief Luft. Die Ereignisse von gestern dürfen sich auf gar keinen Fall wiederholen, ich muss vorbereitet sein.
„Wer ist da? Kommen Sie ruhig rein."
Der Raum ist warm und einladend, während Silas' Haare nass an seinem Kopf hängen. Er hat ein Handtuch in der Hand, ich gehe davon aus, dass er erst geduscht hat.
„Oh, du bist es! Schön dich wiederzusehen, Lyle. Ich war eben duschen, ich hoffe das ist okay."
„Natürlich ist es das, fühl dich wie zu Hause." Als ich die Tür hinter mir schließe, bin ich überrascht über meine Gelassenheit. „Ich hoffe, du hast gut geschlafen?"
„Ich war wegen unseres Gesprächs etwas aufgewühlt und hab deswegen erst ziemlich spät geschlafen. Es hat mich einfach beschäftigt, aber ich fühle mich echt schon viel besser."
Zu hören, dass es ihm besser geht, freut mich innerlich sehr. Sich zu öffnen ist der erste Schritt zur Heilung. „Möchtest du eine Führung durch unser Kloster? Möchtest du sehen, wie wir leben?"
„Sehr gern", antwortet Silas mit leuchtenden Augen. „Gestern Nacht war alles dunkel, ich habe also nicht viel gesehen."
Er folgt mir hinaus, während unser Weg vom Gästehaus direkt in den offenen Innenhof führt, von dem man Zugang zu den anderen Gebäuden hat. Er ist der zentralste Punkt des Klosters und gewissermaßen ein Ort der Ruhe. Überall wo man hinschaut, gibt es verschiedene Blumen und Sträucher. Sie blühen das ganze Jahr, genau wie die verschiedenen Baumarten. Zudem spenden sie Schatten und genügend Sitzgelegenheiten. Oft sitze ich hier am Abend, wenn ich nicht schlafen kann, und schaue mir den Sternenhimmel an.
„Hier rechts sind die Schlafsäle der Mönche und die Krankenstation," erkläre ich.
„Krass, ihr habt eine eigene Krankenstation? Arbeiten dort Ärzte?", fragt Silas, seine grauen Augen funkeln neugierig.
„Ja, zwei Ärzte und viele Brüder und Schwestern, die früher im Krankenhaus gearbeitet haben."
Ich zeige auf die gegenüberliegende Seite. „Dort schlafen die Nonnen, und direkt daneben befindet sich der Speisesaal."
„Das ist alles irgendwie so beeindruckend. Aber wenn dort die Mönche schlafen und da die Nonnen... Wo schläfst du dann?"
„Komm mit." Ich führe ihn durch den großen, steinernen Durchgang. Während wir uns weiter bewegen, bemerke ich aus den Augenwinkeln sein gelegentliches, neutrales Lächeln. Natürlich ist das nicht ohne Bedeutung, manchmal habe ich das Gefühl, dass er weiß, dass er in gewisser Weise eine Wirkung auf mich hat.
„Von dort bist du gekommen, da kommt man wieder zum Beichtraum und in die Kirche. Diesen Gang entlang liegen weitere Schlafräume. Ich wohne in der obersten Etage, in der Mitte gibt es ein paar weitere Schlafsäle, die aktuell frei sind und unten gibt es Räume für Gespräche über Hochzeiten und Taufen. Dort verbringe ich einen Großteil meiner Zeit."
„Ich habe das große Feld und den Stall von oben aus meinem Zimmerfenster gesehen. Gehört das auch noch dazu?"
„Ja, wir versorgen uns größtenteils selbst."
„Das ist wirklich beeindruckend, ich kann mich nur wiederholen. Was macht ihr aber um Spaß zu haben?", fragt Silas unerwartet und hat dabei ein leichtes Grinsen auf den Lippen. Es wirkt fast so, als ob er wüsste, dass er meine Gedanken damit durcheinander bringt.
„Wir..."
Mit dieser Frage hat er mich schlussendlich doch aus dem Konzept gebracht. Das Grinsen, welches seine Lippen umspielt, macht das Ganze nicht besser. Er wirkt dadurch irgendwie frech und die kleinen Grübchen an den Wangen machen das Gesicht... „Stopp", sage ich laut um meinen Gedankengang zu unterbrechen.
„Oh... habe ich etwas falsches gesagt?"
„Nein!", sage ich schnell. „Das... das Stopp war... Nein also eigentlich meine ich; um Spaß zu haben treffen wir uns häufig im Versammlungsraum, ich zeige ihn dir am besten, komm mit."
Ich führe Silas weiter, in Richtung des Beichtraumes, kurz vorher biegen wir allerdings links ab, um zum Gemeinschaftsraum zu kommen.
Was wollte mir mein Kopf nur damit sagen? Es ist dringend notwendig, heute Mittag einige Gebete durchzuführen. Ich muss den Heiligen Vater um Rat fragen.
„Hier gibt es sogar einen Fernseher", sagt Silas überrascht und nimmt ihn genauer unter die Lupe. „Also der ist schon etwas älter, aber besser als nichts. Wie oft schaut ihr?"
Ehrlicherweise kann ich mich nicht daran erinnern, wann ich zuletzt eine Fernsehsendung angeschaut habe. Ich zucke mit den Schultern und überlege. „Ich kann es dir nicht sagen, ich weiß nicht wie oft die anderen schauen, ich benutze ihn nie."
„Nie?", fragt er perplex und schaut mich mit großen Augen an. „Nie nie?"
„Nein, nie. Ich glaube das was man dort zu sehen bekommt, ist nicht sehr förderlich. Vieles davon ist einfach nur unnötiger Wahnsinn, der die Menschen verrückt macht und der keinen Mehrwert bietet."
Silas sagt nichts darauf, sondern schaut sich stumm weiter im Raum um. Die Leinwände zum malen und die verschiedenen Musikinstrumente scheinen ihm ganz besonders zu gefallen.
„Kannst du etwas spielen?", frage ich ihn.
Er schüttelt den Kopf und lässt seine Finger über die Saiten einer Gitarre gleiten. „Ich nicht, aber meine Mutter konnte so gut spielen."
Während er das sagt, wirkt er traurig, irgendwie niedergeschlagen. Es ist dennoch ein gutes Zeichen, dass er seine Eltern von selbst zur Sprache bringt.
„Was hat sie denn gespielt?"
Ich begebe mich zu ihm, um ihm zu symbolisieren, dass er nicht allein ist.
Er schüttelt den Kopf und schnieft. „Kannst du etwas spielen?" - „Nein, als Kind habe ich Klavier gespielt, vielleicht habe ich ein paar Dinge noch im Kopf. Aber Gitarre kann ich nicht spielen."
„Also...", fängt der Grauäugige an zu sprechen. Er schaut aus einem der großen Fenster und lehnt sich im Anschluss mit dem Rücken dagegen. „... Du spielst kein Instrument, du schaust keine Filme oder Serien und ihr geht bestimmt auch auf keine Partys... was machst du in deiner Freizeit?"
„Naja, sehr viel freie Zeit haben wir hier nicht. Wir haben uns Gott versprochen und uns jeden Tag damit zu beschäftigen, bereitet uns eine große Freude. Meistens auch in unserer Freizeit."
„Du sprichst immer von uns. Aber was macht dir Spaß?"
Das wir jetzt so ein tiefgründiges Gespräch führen werden, habe ich nicht erwartet. Ursprünglich war geplant, dass ich Silas ein wenig herumführe und ihm zeige wie wir leben. Stattdessen kommt er immer wieder auf private Dinge zurück, die ihn anscheinend sehr stark interessieren.
Aus irgendeinem Grund ist mir seine Anwesenheit etwas unangenehm und ich bemerke, wie meine Gedanken wieder in eine andere Richtung abrutschen.
„Weißt du Silas, ich habe gleich ein Taufgespräch, wie wäre es wenn wir zurück zum Innenhof gehen und du schaust dich noch ein wenig um? Die Brüder und Schwestern stehen natürlich immer zur Seite wenn du Fragen hast."
Wieder schleicht sich ein Grinsen auf die Lippen des grauäugigen Jungen. „Wieso wirst du immer gleich so nervös, wenn ich dir Fragen stelle? Werden das die anderen auch?"
Wenn ich ihm jetzt die Wahrheit sagen würde, dann wäre er vermutlich angeekelt von mir und er würde zudem noch über meine Sünde Bescheid wissen. Anlügen kann ich ihn auch nicht, also sage ich lieber gar nichts dazu. „Sehen wir uns beim Mittagsgottesdienst? Danach können wir gern wieder zum Beichtraum gehen."
Ohne auf eine Antwort zu warten, verlasse ich den Raum. Mir ist auf einmal ganz heiß am gesamten Körper und ein wenig schwindelig noch dazu. Ich muss aus dieser Situation heraus. Außerdem habe ich jetzt tatsächlich ein Taufgespräch.
. . .
Im kleinen Besprechungsraum des Klosters, dessen Wände mit zahlreichen Bücherregalen, Bildern und Skulpturen ausgestattet sind, sitzen die Eltern mit ihrer siebenjährigen Tochter Cecilia vor mir. Ich lege meine Hände auf den Tisch, habe ein freundliches Lächeln auf den Lippen, um allen die Nervosität zu nehmen.
„Es freut mich, dass Sie hier sind, um die Taufe von Cecilia zu besprechen", beginne ich. „Die Taufe ist ein wunderbarer Moment im Leben eines Kindes und der gesamten Familie. Es bedeutet, sie in den Glauben und die Gemeinschaft aufzunehmen."
Cecilia schaut mich neugierig an, und ich wende mich direkt an sie. „Weißt du, was die Taufe für dich bedeutet, Cecilia?"
„Nicht ganz", gibt sie zu, während sie mich mit ihren großen Augen anschaut.
„Das ist in Ordnung", erwidere ich sanft. „Die Taufe ist wie ein besonderer Willkommensgruß in die Kirche. Du wirst gesegnet und aufgenommen, als Teil von etwas viel Größerem. Und wir feiern den Beginn dieses neuen Weges mit dir."
Ich schaue zu ihren Eltern, die voller Stolz und ein wenig Sorge auf ihre Tochter schauen. „Wir können über die Details der Zeremonie sprechen", fahre ich fort. „Gibt es bestimmte Lesungen oder Lieder, die Sie in die Feier einbeziehen möchten?"
Die Mutter nickt und reicht mir eine kleine Liste, während der Vater hinzufügt: „Wir denken an Psalm 23, es war schon immer ein Trost für uns."
Ich notiere mir ihre Wünsche und erkläre die Symbolik der Taufkerze und des Wassers, wie jedes Element seinen Platz und seine Bedeutung in der Zeremonie hat. „Es ist wichtig, dass Cecilia die Wärme und Liebe ihrer Familie und Freunde spürt", betone ich, „und natürlich die Unterstützung der Gemeinschaft. Es ist ein Tag der Freude und der Hoffnung."
Wir tauschen noch einige Details über das Fest und die Gäste aus, bevor wir das Gespräch mit einem gemeinsamen Gebet beenden. Als sie sich erheben, um sich zu verabschieden, ergreife ich Cecilias Hand und lächel sie liebevoll an. „Ich freue mich schon, dich zu taufen, Cecilia."
Ihr Lächeln ist die Antwort auf meine Worte, sie freut sich mindestens so sehr auf die bevorstehende Taufe wie ihre Eltern.
Sobald die kleine Familie den Raum verlassen hat, beginne ich damit einen Zeitplan für Sonntag aufzustellen. Ich werde diesen Sonntag drei Leute taufen, jeder möchte eine individuelle Zeremonie. Für mich bedeutet das, dass ich einiges vorbereiten und planen muss.
An meine Taufe kann ich mich nicht mehr erinnern. Meine Eltern haben mich taufen lassen, als ich frisch geboren war. Manchmal haben sie mir davon erzählt, wie das alles abgelaufen ist, welche Musik sie gewählt haben und für welche Gebete sie sich entschieden haben. Heute würde ich es anders machen und mich für ganz andere Dinge entscheiden, dennoch bin ich sehr froh, schon mein ganzes Leben lang der Kirche anzugehören.
In dieser Gemeinde gibt es so viel Liebe, so viel Zusammenhalt und Loyalität. Es gibt nichts Schöneres. Wenn man seine Brüder und Schwestern hat, dann ist das Leben so viel besser. Wenn man Gott hat, dann braucht man niemand anderen, der einen liebt. Man braucht keine Nähe zu irgendjemanden, wenn man den Heiligen Vater hat.
Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich diese Dinge aus den Augen verliere. Es gibt Tage, da muss ich mir das immer wieder in das Gedächtnis rufen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top