Abstand

Die ganze Nacht liege ich wach und frage mich, warum ich mich in Silas' Nähe so wohl fühle. Es ist lange her, dass ich jemanden so nah an mich herangelassen habe, und noch länger, dass ich mich nach dieser Nähe gesehnt habe.

Aber da ist noch mehr. Irgendetwas an Silas zieht mich auf eine Art und Weise an, die ich nicht ganz verstehe. Es ist nicht nur sein gutes Aussehen oder seine schwerelose, unbeschwerte Art. Er ist geheimnisvoll, umgeben von einer Aura, die ihn besonders macht. Etwas in ihm fasziniert mich, auch wenn ich es nicht wirklich greifen kann.

Du stehst auf verkorkste Jungs, stimmts?
Diese Worte, die er mir ins Ohr geflüstert hat, hallen immer wieder in meinem Kopf wider. Hat er damit recht? Ist es wirklich das, was mich so zu ihm zieht? Es wäre seltsam, wenn das der Grund wäre, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr erkenne ich, dass da vielleicht doch ein Funken Wahrheit darin liegt.

Es wirkt irgendwie grotesk, dass ich mich selbst berührt habe, am selben Tag, an dem er mir erzählt hat, dass er seine Eltern getötet hat. Diese Tatsache hat mich nicht abgeschreckt. Ich hatte keine Angst vor ihm, obwohl es etwas ist, was andere Menschen erschüttern würde. Aber ich kenne die Hintergründe, ich weiß, dass er es aus Notwehr getan hat. Dennoch sagt mir mein Verstand, dass meine Reaktion anders hätte ausfallen sollen. Jeder normale Mensch hätte wahrscheinlich mit Entsetzen reagiert, vielleicht sogar mit Abscheu. Doch bei mir war es anders. Es war, als hätte mich diese Tatsache eher... fasziniert.

Ich erinnere mich an die Lehren des Glaubens. Hätte Gott nicht gewollt, dass wir Silas in unser Kloster aufnehmen, dann hätte er es verhindert. Er hätte ihn nie zu uns geführt. Das ist der Glaube, an den ich mich klammere. Aber warum schreckt mich das, was er getan hat, nicht ab? Warum ist es sogar das Gegenteil? Bin ich ein Psychopath, weil mich seine Geschichte auf eine unerklärliche Art anzieht? Macht es mich zu einem schlechten Menschen, dass mich die Vorstellung... anzieht?

Ich schüttele den Kopf, als ob ich diese Gedanken vertreiben könnte, doch sie bleiben. Du stehst auf verkorkste Jungs, stimmts? Die Frage hängt schwer in der Luft, während ich seufzend mein Kopfkissen ins Gesicht drücke. Was ist nur los mit mir?

. . .

Trotz der schlaflosen Nacht fühle ich mich am nächsten Morgen überraschend wach und frisch. Ich stehe vor der Gemeinde und halte den Gottesdienst mit derselben Leidenschaft wie immer. Es ist das, was mich erfüllt. Die Worte fließen wie automatisch, und während ich die Botschaft Gottes mit den Menschen teile, spüre ich, wie sich der Raum mit einer tiefen Zufriedenheit füllt. Dies ist der Moment, in dem ich mich Gott am nächsten fühle. Meine Aufgabe ist es, die Menschen zu führen, ihnen zu helfen, die Verbindung zu ihrem Glauben wiederherzustellen, und das tue ich mit jeder Faser meines Seins.

Ich bemerke Silas in der hinteren Reihe. Seit einigen Tagen nimmt er regelmäßig an den Gottesdiensten teil, und es gibt kaum einen, den er auslässt. Er bemüht sich wirklich, Teil unserer Gemeinde zu werden. Auch bei den täglichen Aufgaben hilft er mit, packt an, wo er gebraucht wird, das ist wirklich schön zu sehen. Er scheint sich immer mehr einzufügen, und auch Bruder Leander und Schwester Lahela haben ihn ins Herz geschlossen. Sie verbringen viel Zeit mit ihm, und seine unbeschwerte Art hat auch sie für sich gewonnen.

Der Gottesdienst endet mit einem Gebet. „Für dich und für mich ist der Tisch gedeckt, hab Dank, lieber Gott, dass es uns jetzt schmeckt." Ich lächle in die Runde und füge hinzu: „Wir sehen uns gleich beim Frühstück."

Bevor ich mich in den Speisesaal begebe, nehme ich das Taufbuch zur Hand, das gestern ausgelegt wurde. Einige Menschen haben sich eingetragen, die sich taufen lassen möchten. Als ich die Namen durchgehe, bleibt mein Blick an einem hängen: Silas Hatch. Bis eben wusste ich nicht einmal, wie er mit Nachnamen heißt. Hatch. Der Name klingt fremd in meinen Gedanken, doch er bringt mir Silas noch näher.

Silas möchte sich also taufen lassen. Ein Schritt, den ich nicht erwartet hatte. Ich bin gespannt auf unser Gespräch vor der Taufe und darauf, zu hören, warum er diesen Weg gehen will und was ihn antreibt.

„Guten Morgen", höre ich seine Stimme plötzlich neben mir. Silas lächelt mich an, allerdings wirkt sein Lächeln heute irgendwie unehrlicher als gestern. Er sieht müde aus, hat tiefe Augenringe im Gesicht. Er hat also auch nicht so viel geschlafen. „Ich habe mich auch eingetragen."

Ich erwidere sein guten Morgen und blicke dann wieder in das Taufbuch vor mir. „Genau, du stehst sogar ziemlich weit oben auf der Liste. Ich werde dir die Tage Bescheid geben, wann wir das Vorgespräch führen."

Silas nickt. „Okay...", sagt er leise. „Können wir heute sprechen? Im Beichtraum? Ich habe noch nicht alles zu diesem einen Tag erzählt."

Ich würde gern mit ihm sprechen und ich würde ihm auch gern weiterhelfen, aber ich brauche ein wenig Abstand nach dem gestrigen Abend. Ich kann mir nicht erlauben, so etwas jeden Tag passieren zu lassen.
„Ich habe heute kaum Zeit", sage ich. „Nachher ist eine Hochzeit, im Anschluss zwei Taufen und heute Nachmittag treffe ich mich nochmal mit Detective Andrew."

„Okay", sagt er nickend. „Danke das du mir einen Tagesplan aufgezählt hast."
Mit diesen Worten lässt er mich stehen und läuft in Richtung des Speisesaals. Was war das denn jetzt? Habe ich etwas falsches gesagt? Mein Tag ist wirklich sehr voll, ich habe heut keine Luft dazwischen.

. . .

Nach dem Gottesdienst bereite ich mich auf die anstehende Hochzeit vor. Es ist ein besonderer Tag für das Paar, und ich spüre eine gewisse Aufregung, wie jedes Mal, wenn ich eine Zeremonie leiten darf. Die Kirche ist bereits geschmückt, die Bänke sind mit weißen Blumen geschmückt, und das Licht fällt sanft durch die farbigen Glasfenster. Heute ist ein wirklich sehr angenehmer Tag, perfekt zum heiraten.

Ich ziehe mein hochzeitliches Priestergewand glatt und atme einmal tief durch. Hochzeiten sind für mich immer ein Moment der Freude, aber auch der Aufregung. Zwei Menschen stehen vor Gott, um ein Versprechen zu geben, das ihr Leben für immer verändert. Es ist nicht nur ein Ritual... es ist ein Bund für ihr Leben. Ich gehe die Worte in meinem Kopf durch, auch wenn ich sie schon hunderte Male gesagt habe. Sie sollen heute genauso bedeutungsvoll sein wie beim ersten Mal.

Als die Glocken erklingen, betrete ich die Kirche und sehe das Brautpaar vorne am Altar stehen. Die Braut sieht strahlend aus, ihr Gesicht ist von einer leichten Nervosität, aber auch von Freude gezeichnet. Ihre langen, schwarzen Haare hat sie in einer wunderschönen Hochsteckfrisur. Der Bräutigam steht etwas steif neben ihr, doch seine Augen glänzen vor Liebe. Die beiden zusammen sehen so glücklich aus.

„Liebe Brüder und Schwestern," beginne ich, „wir sind heute hier versammelt, um vor Gott und dieser Gemeinschaft die Vereinigung zweier Menschen zu bezeugen. Es ist ein heiliger Moment, in dem wir nicht nur auf die Liebe zweier Menschen blicken, sondern auf das, was uns alle verbindet: die Liebe Gottes."

Die Zeremonie verläuft ruhig, hin und wieder höre ich ein leises Schluchzen in den Reihen. Während ich die Trauformel spreche und das Paar die Ringe tauscht, fühle ich, wie meine eigene Stimme mit jedem Satz fester wird. Ich segne sie und spreche den traditionellen Segen, der sie als Mann und Frau in das gemeinsame Leben entlässt.

Das Brautpaar und all ihre Angehörigen bedanken sich sehr ausgiebig bei mir. Ich bekomme Komplimente für meine Art mich auszudrücken und sogar einen Strauß Blumen geschenkt.

Nach der Hochzeit bleibe ich noch einen Moment am Altar stehen, bevor ich mich den beiden Taufen widme, die heute ebenfalls anstehen. Momentan ist sehr viel los in meinem Kopf. Viel, was ich erstmal verarbeiten muss. Während meiner Arbeit kann ich gut abschalten und konzentriere mich vollkommen auf Gott und die Menschen welche zu mir kommen. Das tut wirklich gut.

Die ersten Eltern betreten mit ihrem Kind die Kirche. Sie kommen nach vorne, das kleine Mädchen haben sie in ihrem Arm. Es trägt die traditionellen Taufkleider. Ihre Augen sind weit geöffnet, als wüsste sie, dass dieser Tag etwas Besonderes ist. „Wie wollt ihr, dass dieses Kind heißt?" frage ich und blicke den Eltern in die Augen, die mit einem stolzen Lächeln den Namen
Luciene verkünden.

Ich tauche meine Hand in das Taufwasser und lasse es über das kleine Köpfchen des Kindes fließen. „Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen." Die Worte sind einfach, aber sie tragen eine tiefe Bedeutung in sich. Mit diesem Ritual wird das Mädchen in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen, und ich sehe in den Augen der Eltern, wie viel dieser Moment ihnen bedeutet.

Ich kenne die beiden, sie kommen regelmäßig in die Kirche und waren ebenfalls bei unserem neuen Projekt engagiert. Die Mutter habe ich länger nicht gesehen, da sie zuletzt ihr Kind bekommen hat. Es freut mich wirklich sehr, dass diese Familie nun ein weiteres Mitglied in unsere Reihen gebracht hat.

Auch die zweite Taufe verläuft ähnlich – ein kleiner Junge, der fest in die Arme seines Vaters gekuschelt ist. Der Junge weint ein wenig, als das Wasser auf seine Stirn trifft, doch es ist nur ein kurzer Moment der Unruhe.

Nach den Taufen spreche ich einen letzten Segen und verabschiede nun auch die zweite Familien mit den besten Wünschen für die Zukunft ihrerseits Kindes. Solche Tage, an denen ich eine Hochzeit und Taufen hintereinander durchführe, erfüllen mich besonders. Es zeigt mir einfach, wie stark der Glaube und die Liebe zu Gott ist.

„Pater Lyle, jetzt kann ich dich sprechen".
Schwester Lahela kommt im Laufschritt auf mich zu, sie ist außer Atem und hält mir ihr Smartphone ins Gesicht. „Der Detectiv, er sagt du sollst bitte aufs Revier kommen, ihr fahrt zusammen zum Tatort."

Ich runzel meine Stirn, ich weiß doch wo der Tatort ist, ich war doch erst vor wenigen Tagen da. „Gibt es einen Grund dafür?"

„Ja, es ist ein neuer Tatort, eine gute Stunde entfernt von hier."

„Wie bitte?", frage ich perplex. „Ein neuer Tatort?"
In meinem Kopf fliegen tausende Gedanken. Ein neuer Tatort bedeutet; ein neuer Fall. Ich gehe vom schlimmsten aus, es gab vermutlich wieder einen Mord. Wenn mich Detective Andrew unbedingt dabei haben will, dann wird das schon einen Grund haben.

Ich habe mich noch nicht einmal von den letzten Bildern erholt und jetzt muss ich schon wieder etwas neues sehen. Aber schlimmer kann es eigentlich nicht mehr werden, ich wüsste zumindest nicht wie.

„Okay, ich gehe mich eben umziehen und mache mich dann auf den Weg."
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch mache ich mich auf den Weg zu meinem Zimmer. Ich bin wirklich gespannt was ich heute sehen werde.

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