Rätsel
Endlich, endlich klingelte es zum Ende der Stunde! Alles in Sherlock sehnte sich danach, von diesem Ort zu fliehen und sich Zuhause in seinem Zimmer zu verschanzen, um seine Experimente weiterzuführen. Die Englischstunde war so langweilig gewesen, dass er fast einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte; er hatte sich einzig und allein deswegen zusammengerissen, um keinen Streit mit John heraufbeschwören. Kaum war ihn das klar geworden, wunderte er sich über such selbst.
Warum sollte er Rücksicht auf den Blonden nehmen? Das war völlig irrational und so gar nicht typisch er! Doch der dunkelhaarige verschob diese Gedanken auf später, da er sich ungern mit Dingen auseinandersetzte, die in irgendeiner Form mit Gefühlen zu tun hatten. Er sprang auf, eilte zur Tür und schnaubte verächtlich. Gefühle! Er, Sherlock Holmes, hatte keine Gefühle und er brauchte auch keine. Was er jetzt brauchte, war etwas, dass seinen ruhelosen Geist zumindest ein wenig auf Trab halten konnte, zum Beispiel hatte er da gestern ein Experiment angefangen, dass…
„Sherlock! Ich rede mit dir, bleib stehen!“, rief eine Stimme hinter ihm, die er als Johns identifizierte. Was wollte der denn jetzt schon wieder? Als er sich betont gelangweilt umdrehte, bemerkte er, dass er, wohl in Gedanken versunken, das Schulgelände schon verlassen hatte und nun an der Straße stand.
„Was ist los?“, fragte Sherlock jetzt bissig, da er wusste, dass der andere eh nicht lockerlassen würde, bis er eine Antwort erhalten hätte. „Ich habe gefragt, wo du eigentlich wohnst“, erklärte dieser jetzt und die Augenbraue des größeren wanderte überrascht nach oben. Dann verstand er: „Nein“.
Jetzt war es an John, überrascht sein: „Nein? Was, nein?“, fragte er und ein verwirrter Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit. „Igel“, schoss es Sherlock in dem Moment durch den Kopf, „er sieht aus wie ein Igel".
Antworten tat er jedoch etwas völlig anderes: „Nein, ich habe kein Interesse daran, mich nachmittags mit dir zu treffen. Wir oft noch? Ich brauche keine Freunde!“ Jetzt war er wirklich genervt. War das denn so schwer zu verstehen? „Und ich brauche schon gar nicht dich!“, knallte er John noch an den Kopf, bevor er sich umwandte und davon stolzierte. Wäre er nur eine Sekunde länger geblieben, so hätte er den verletzten Ausdruck in den Augen des anderen gesehen.
Und der Blonde war verletzt; und zwar erschreckend doll. Er gestand es sich selbst nur sehr ungern ein, aber etwas an dem abweisenden, kalt wirkendem Teenager hatte ihn von Anfang an fasziniert und ließ ihn jetzt nicht mehr los. Er wollte hinter Sherlocks Fassade blicken können, denn er war sich sicher, dass das, was dieser von sich zeigte, nur eine Maske war. Und er wollte den Sherlock ohne Maske kennenlernen, denn er war sich ebenfalls sicher, dass der viel sympathischer sein würde, als der, den er bis jetzt kannte.
Und obwohl er sich noch vor wenigen Stunden geschworen hatte, so schnell nicht aufzugeben, nagten jetzt Zweifel an ihm. Es brachte auch nichts, wenn er dem dunkelhaarigen so sehr auf die Nerven ging, dass dieser ihn irgendwann hasste; das würde keinen von ihnen weiterbringen. Andererseits würde sich Sherlock nicht ohne „Schubbs in die richtige Richtung“ ihm gegenüber öffnen und das war auch nicht das Ziel der Aktion.
Während der Blonde so nach hause wanderte, nagte er gedankenverloren an seiner Unterlippe. Er musste sich etwas einfallen lassen…
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Etwa eine halbe Stunde später saß Sherlock, völlig in sein Experiment versunken, auf dem Fußboden und starrte konzentriert auf einige Reagenzgläser, in denen sich verschiedene Flüssigkeiten befanden. Kaum, dass er nach hause gekommen war, hatten seine Eltern ihn, wie immer, viel zu überschwänglich begrüßt und wollten ihm etwas zu Essen aufschwatzen. Wie jedes mal hatte er versucht, sich mit einem geknurrten „Keinen Hunger“ an ihnen vorbei zu drücken und in sein Zimmer zu verschwinden, doch heute hatte seine Mutter nicht mitgespielt.
Stattdessen hatte sie ihn am Unterarm gepackt und (unter Protest) zum Esstisch bugsiert. Dort hatte es genau eine Minute und 18 Sekunden gedauert, bis sein älterer Bruder Mycroft mit den üblichen Sticheleien angefangen hatte.
„Lieber Bruder“, hatte er gespielt freundlich gesäuselt, „warum bist du denn so schlecht gelaunt?“
„Könnte an der Gesellschaft liegen“, schnappte der jüngere zurück, doch davon ließ sein Bruder sich nicht beirren. „Nein, nein“, sagte der nun und legte gespielt nachdenklich die Hände zusammen. „Ich denke eher, es liegt an deinem neuen Freund… Er ist sauer auf dich, nicht wahr?“
Sherlock knallte die Gabel, mit der er gerade noch eine Kartoffel malträtiert hatte, auf den Tisch und starrte Mycroft wütend an – der sich davon leider nicht beirren ließ und sich jetzt an die gemeinsamen Eltern wandte. „Ja, mein kleiner Bruder hat einen Freund – oder zumindest jemanden, der ihn bewundert und ihm hinterherläuft. Wie ein Küken der Henne“, grinste er und sein Blick huschte herausfordernd zu dem dunkelhaarigen hinüber.
„Er. Ist. Nicht. Mein. Freund!“, brachte dieser zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Und selbst wenn er, aus welchen Gründen auch immer, sauer auf mich sein sollte, dann ist es mir egal! Weil mir Menschen egal sind, Mycroft, verstanden?!“
„Jungs, streitet euch doch nicht immer“, schaltete sich jetzt die Mutter tadelnd ein, doch ihre Söhne ignorierten sie.
„Du lässt ständig Gefühle zu!“, rief Mycroft und riss theatralisch die Arme in die Luft. „Aber Gefühle helfen dir nicht, Brüderchen, im Gegenteil… Schau nur, wie angreifbar sie dich machen! Du lässt dich von mir provozieren“, der letzte Satz war mehr ein Singsang als alles andere und Sherlock platzte endgültig der Kragen.
„Halt endlich die Klappe!“, brüllte er und sprang auf, sodass Gläser und Teller gefährlich klirrten. „Ich habe keine Freunde, ich brauche keine Freunde und ich lasse auch keine Gefühle zu!“
„Doch. Du tust es genau jetzt, in diesem Moment“, grinste der ältere und sah völlig gelassen zu seinem vor Wut schäumenden Bruder auf. Dieser machte Anstalten, sich auf seinen Peiniger zu stürzen, doch dazu kam es nicht, denn bevor die Situation komplett eskalieren konnte, griff Sherlocks Mutter ein.
„Sherlock Holmes!“, donnerte sie, „Es reicht. Raus!“ Dieser kam der Aufforderung fast schon erleichtert nach und stürzte schnaubend aus dem Zimmer. Als er dann hörte, wie auch Mycroft angeblafft wurde, er solle gar nicht so zufrieden gucken, sein Verhalten wäre auf dem Niveau eines Grundschülers, wurde er zumindest von einer leichten Genugtuung erfüllt. Doch wirklich beruhigen tat er sich erst, als er sich hinter seinen Experimenten verstecken konnte.
Und so saß er nun auf dem Boden und konzentrierte sich auf die Flüssigkeiten. Zumindest versuchte er es, doch seine Gedanken drifteten immer wieder zu dem ab, was Mycroft gesagt hatte.
Und diese Tatsache ärgerte ihn maßlos.
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Bei John war die Stimmung zwar ruhiger, aber dennoch nicht gerade entspannt. So saßen er, seine Schwester Harry und seine Eltern gemeinsam am Tisch und aßen schweigend vor sich hin. Die Stille knistert gefährlich, als würde sie unter elektrischer Spannung stehen. Das Gespräch beschränkte sich auf solche Dinge wie „gibt’s du mir bitte das Salz?“ und fanden mit einer übertriebenen, aufgesetzten Höflichkeit statt, die fast schon schlimmer war, als wenn sich alle angeschrien hätten.
Der Blonde hätte, würde er danach gefragt werden, keinen genauen Zeitpunkt nennen können, an dem die Entfremdung anfing – irgendwie wurden in seiner Familie alle einfach immer kälter zueinander und fingen an, sich aus dem Weg zu gehen. Er hasste das. John war zwar nicht unbedingt extrovertiert oder übermäßig gesellig, aber ein oder zwei Freunde, Vertraute, brauchte er schon; so wie eigentlich jeder.
Er beeilte sich, seinen Teller zu leeren, nuschelte dann etwas von „muss noch Hausaufgaben machen“, um der Situation möglichst schnell entfliehen zu können, und brachte sein schmutziges Geschirr in die Küche. In seinem Zimmer angekommen setzte er sich zwar an seinen Schreibtisch, vergrub jedoch dann das Gesicht in seinen Händen und dachte nicht einmal im Traum daran, sich in irgendeiner Form um die Schule zu kümmern.
Nein, das einzige, worüber es sich jetzt Gedanken machen würde, war Sherlock.
Er brauchte irgendeinen Plan, irgendetwas, damit der dunkelhaarige ihm gegenüber seine Maske fallen lassen würde – und sei es nur ein kleines Stück. Johns Ehrgeiz zu wecken, war nicht unbedingt einfach, doch wenn er sich einmal an etwas festgebissen hatte, ließ er nicht so schnell wieder los und setzte praktisch alles daran, sein Ziel zu erreichen. Und an der Herausforderung namens ‚Sherlock Holmes‘ hatte er sich festgebissen!
Und so überlegte er. Würde es etwas bringen, den selbsternannten Soziopathen und Deduktionskünstler gänzlich zu ignorieren? John hatte so das Gefühl, dass der Teenager auf Rätsel stand – was lag da näher, als sich selbst zu einem zu machen und den dunkelhaarigen mit der Frage stehen zu lassen, warum er ignoriert wurde? Aber wäre das als Rätsel überhaupt interessant genug oder wäre der andere einfach nur froh darüber, in Ruhe gelassen zu werden?
Der Blonde seufzte. Er wusste selbst nicht, warum ihm das so wichtig war, aber er wollte Sherlock unbedingt davon überzeugen, dass er falsch lag. Dass er Freunde brauchte. Dass er ihn, John, brauchte.
Aber er wusste nicht, wie.
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