Ein historischer Moment?

Sherlock schlief, ausnahmsweise sogar ruhig und tief, als das nervtötende Piepsen seines Weckers ihn aus der wohligen Stille des Schlafes riss. Mit einem genervten Stöhnen brachte er den Grund seines Erwachens zum Schweigen und vergrub das Gesicht wieder im Kissen. Nochmals einschlafen würde er nicht, das tat er nie, aber in seinem Bett war es warm und nicht so ekelhaft kalt wie außerhalb der Decke. Wenn der Lockenkopf eines hasste, so waren es kalte Füße – neben nervigen, dummen Menschen, Nahrungsaufnahme und seinem Bruder, den er, so ungern er es auch zugab, nicht zur Kategorie „dumm“ zählen konnte.

Während er also noch ein wenig vor sich hin döste, schweiften seine Gedanken zu John. Seit drei Tagen war der Blonde jetzt in seiner Klasse und hörte, abgesehen davon, dass er sowieso in jedem Fach neben ihm saß, nicht damit auf, um Sherlock herumzuschwirren und ständig das Gespräch mit ihm zu suchen. Er schnaubte. Auf welche Art sollte er denn noch deutlich machen, dass er an keinen Gesprächen, geschweige denn so etwas wie Freundschaft, interessiert war? Er hatte John sogar schon ins Gesicht gesagt, dass er keine Freunde hatte und auch keine brauchte, da er ein Soziopath war doch der andere hatte nur geantwortet: „Jeder braucht Freunde. Und du bist kein Soziopath, Sherlock“ – und von dieser Meinung schien er tatsächlich überzeugt zu sein.

„Ich bin aber nicht jeder, Ich brauche keine Freunde“, hatte der dunkelhaarige daraufhin kalt erwidert und John, wieder einmal, stehen gelassen.

Dennoch… Der Blonde war nicht so idiotisch, wie die anderen Menschen um ihn herum. Sicher, er war immer noch ein nerviger Idiot, der es nicht fertigbrachte, vernünftig zu beobachten, aber immerhin verspürte Sherlock in seiner Nähe nicht das Verlangen, ihm den Hals umzudrehen, wie es in der Gegenwart anderer Menschen praktisch durchgängig der Fall war. Stattdessen beschränkte er sich darauf, einfach wegzulaufen und den anderen ein wenig verloren stehen zu lassen.

Der gelockte seufzte. Er sollte sich darüber nicht so viele Gedanken machen und lieber aufstehen, sonst würden seine Eltern wieder Terror machen. Und John würde ihm schon wieder damit in den Ohren liegen, dass er nicht ständig zu spät kommen könne, das wäre nicht in Ordnung. Die Erwiderung Sherlocks beschränkte sich in solchen Situationen, zu Johns Glück, nur auf ein „langweilige, kleine Gehirne…, Idioten, alles Idioten“ – Gemurmel , da alles andere, was dem Murmelnden vorschwebte, mehr als nur verletzend war.

Einen Moment lang wunderte sich Sherlock über dich selbst, da er normalerweise keine Gelegenheit ausließ, nicht sozial zu sein. Doch dann ignorierte er diese Tatsache und stand stattdessen auf, um sich im absoluten Schneckentempo zu seinem Kleiderschrank zu bewegen. Ja, auch wenn er es nie zugeben würde: Sherlock Holmes neigte zum Morgenmuffeldasein.

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Zur gleichen Zeit wurde an einem anderen Ort John aus dem Reich der Träume gerissen. Zwar wenig begeistert, aber lange nicht so unmotiviert wie Sherlock, streckte er sich und krabbelte gähnend aus dem Bett. Der Blonde war zwar auch kein Frühaufsteher, aber er wusste, dass er die Tatsache, dass er zur Schule nun einmal früh aufstehen musste, eh nicht ändern konnte, was ihm das Aufstehen tatsächlich etwas leichter machte.

Nachdem er sich angezogen hatte, lief er die Treppe nach unten und machte sich Frühstück, das aus Toast mit Marmelade und Tee bestand. Da seine Eltern schon zur Arbeit gefahren waren und seine große Schwester Harriet, genannt Harry, erst zur zweiten Stunde Unterricht hatte und deshalb noch schlief, konnte er ganz entspannt essen, ohne, dass ihn ständig irgendjemand ansprach und etwas von ihm wollte.

Anschließend kochte er ein zweites Mal Tee, den er dann jedoch in eine Thermosflasche überführte, um auch in der Schule nicht auf das geliebte Heißgetränk zu verzichten. Da war es John auch egal, dass mittlerweile Mai war und sich so langsam selbst in London das erste gute Wetter zeigte. Außerdem hieß es doch immer, dass man bei heißem Wetter lieber warme Getränke, als kalte trinken sollte, da sonst der Körper die kalte Flüssigkeit aufwärmen will und man dazu noch mehr schwitzt. Er seufzte. Warum neigte er bloß dazu, über solche sinnlosen Dinge nachzudenken? Zumal man im London seltenst mal von „heißem Wetter“ sprechen konnte.

John warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass er in zehn Minuten los musste, wenn er nicht zu spät kommen wollte. Also räumte er das dreckige Geschirr weg, putzte sich noch schnell die Zähne und schnappte sich dann seine Sachen, um sich auf den Weg zum Bus zu machen.

Auf der Fahrt fiel ihm wieder ein, dass er sich gestern Abend etwas vorgenommen hatte. John verzog das Gesicht, da Sherlock alles andere als begeistert sein würde; aber er würde es durchziehen! Was wollte der dunkelhaarige dagegen schon tun?

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Als John kurz vor Acht Uhr vor dem Klassenraum eintraf, in den ersten beiden Stunden würde er Geschichte haben, war von Sherlock noch keine Spur zu sehen – was nicht verwunderlich war, da dieser in den letzten Tagen immer genau mit dem Klingeln das Klassenzimmer betreten hatte. Wobei betreten eigentlich das falsche Wort war; viel mehr was er erschienen und mit seinem schwarzen Mantel, dessen Kragen er meist hochgestellt trug, an den anderen vorbeigerauscht. Man hätte ihn fast schon für einen jugendlichen Racheengel halten können, wenn da nicht dieser dunkelblaue Schal wäre, den er immer trug, obwohl es dafür mittlerweile zu warm war. Doch John würde sich hüten ihn darauf anzusprechen; zumal er sich heute schon unbeliebt genug bei Sherlock machen würde.

Als es klingelte und die Lehrerin auftauchte, bequemte sich auch der selbsternannte Soziopath dazu, aufzutauchen und erwiderte auf Johns „Guten Morgen“ erst einmal gar nichts. Seine Reaktion bestand lediglich darin, den Blonden einer kurzen, allmorgendlichen Deduktion zu unterziehen, die er, sehr zur Freude von diesem, jedoch nicht laut aussprach. Einzig und allein das fast unmerkliche Heben einer Augenbraue zeigte, dass er die unterschwellige Nervosität Johns durchaus bemerkt hatte.

Doch erst einmal verlief die Stunde ziemlich ereignislos. Mrs Turner, die nicht nur Mathe, sondern auch Geschichte und Englisch unterrichtete, begrüßte ihre Schüler und begann etwas über den zweiten Weltkrieg zu erzählen. John folgte ihren Worten recht aufmerksam; zwar machte er sich keine Notizen, wie ein oder zwei andere Schüler, aber er sah auch nicht so aus, als würde gleich sterben vor Langeweile. Oder einschlafen. Oder beides. Dies war nämlich bei Sherlock der Fall.

Auch, als die Lehrerin schließlich Arbeitsblätter austeilte, wobei sie dem gelockten nur noch eines gab, da die Hoffnung, in diesem Fall die Hoffnung auf Mitarbeit, ja bekanntlich zuletzt stirbt, änderte sich das nicht im geringsten. Erst, als John ihm einen Stift und einen leeren Zettel auf den Tisch knallte, schaute er hoch.

„Du“, sagte der Blonde leise aber entschlossen, „wirst jetzt dieses Arbeitsblatt bearbeiten, genau wie alle anderen. Zumindest die erste Aufgabe und keine Diskussion!“ Sherlock kam nicht umhin, ein wenig verwundert die Augenbrauen hochzuziehen. Falls er irgendetwas an John deduzierte, was garantiert der Fall war, so behielt er es für sich. Dann senkte sich sein Blick und noch immer wortlos starrte er den Stift an, als wäre es sein persönlicher Feind.

Einen Moment lang zuckte seine Hand in sie Richtung des Schreibutensils und es sag fast so aus, als würde er sich überreden lassen. „Ein wahrhaft historischer Moment“, dachte John mit leichter Ironie, „Sherlock Holmes arbeitet im Unterricht mit!“

Doch dann war der Moment vorbei und der dunkelhaarige lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. „Nein. Das ist alles vollkommen irrelevant. Es ist unwichtig und unwichtige Dinge legen auf Dauer mein System lahm“, stellte er fest.
„Unwichtig?“, brachte John leise, damit die Lehrerin ihr Gespräch nicht sofort bemerken würde, hervor. „Das ist der zweite Weltkrieg!“ Die Aussage des Arbeitsverweigerers hatte ihn zugegebenermaßen doch ein wenig geschockt. Immerhin hatte dieser Krieg großen Einfluss auf die Weltgeschichte genommen und…

„Unwichtig. Ich sagte es bereits“, unterbrach Sherlocks dunkle Stimme seine Gedanken. John seufzte innerlich; er ahnte, dass der andere diese Stunde kein Wort mehr sagen würde und somit alle Bemühungen zwecklos waren. Dennoch ließ er Zettel und Stift liegen und sammelte dies erst ein, als der Unterricht beendet war.

Auf dem Weg nach draußen fasste er einen Entschluss: Für dieses Mal mochte er verloren haben, aber er wäre nicht John Hamish Watson, wenn er so einfach aufgeben würde! Er würde den größeren schon noch dazu bewegen, in irgendeiner Form am Unterricht teilzunehmen…
Doch jetzt musste er erst einmal aufpassen, dass er den schwarzen Mantel, der sich, inklusive seines Trägers natürlich, ein paar Meter vor ihm durch die Menschen bewegte, nicht aus den Augen verlor, da er wenig Lust verspürte, die Pause allein zu verbringen.

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