Abwärtsspirale

Als Sherlock am nächsten Tag das Klassenzimmer betrat, wunderte er sich: John, der sich sonst jedes Mal zu ihm umdrehte, sobald der dunkelhaarige den Raum betrat, bewegte sich keinen Millimeter, sondern schaute stur in Richtung Tafel. Der Lockenkopf runzelte die Stirn, ließ sich aber dennoch wortlos neben den Blonden fallen; in spätestens fünf Minuten würde dieser ohnehin anfangen, auf ihn einzureden, würde ihn dazu bewegen wollen, dem Unterricht zu folgen.

Doch auch nach einer halben Stunde hatte der Kleinere noch nichts zu ihm gesagt und stattdessen fast mechanisch (mehr oder weniger) wichtige Fakten mitgeschrieben und auf Fragen geantwortet. So langsam kam Sherlock dieses Verhalten doch seltsam vor und er versuchte, den Grund für Johns Schweigen zu finden - aber so sehr er sich auch bemühte: das Verhalten des anderen blieb ihm ein Rätsel. Und so kam es, dass Sherlock schon wieder in keinster Weise zuhörte; diesmal jedoch war er nicht damit beschäftigt, zukünftige Experimente zu planen.

Jetzt drehte sich alles um John.

Und dann, wie aus dem nichts, klingelte es und die Stunde war vorbei. Beinahe wäre er zusammengezuckt, so sehr hatte ihn der schrille Ton überrascht. Doch dann entspannte er sich; jetzt war Pause, jetzt würde sich John wieder an ihn ranhängen und ihm auf die Nerven gehen und er musste sich nicht weiter über das seltsame Verhalten des anderen Gedanken machen!

Der Blonde jedoch stand auf, ging an ihm vorbei, als wäre er gar nicht da, und verließ den Raum. Sherlock sah, wie er sich dazu durchrang, einen anderen Jungen, dessen Name so unbedeutend war, dass der dunkelhaarige ihn sich nicht gemerkt hatte, ansprach und dieser höflich distanziert antwortete.

Er sah ihm nach, eine Sekunde nur. Dann verließ er ebenfalls das Klassenzimmer, ein dünnes Lächeln auf den Lippen. So seltsam Johns Verhalten auch war, er hatte endlich wieder eine Pause für sich allein. In Ruhe. Die er, an eine Wand gelehnt, mit dem Deduzieren von Mitschülern verbringen konnte.

Und trotzdem war da diese kleine, winzige Stimme in seinem Kopf, die ein wenig traurig war, dass er jetzt niemanden hatte, der mit ihm sprach, ihm hinterherlief, ihn auf irgendeine Art bewunderte und der sich darüber Gedanken machte, ob er geistig überhaupt anwesend war.

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John lief unterdessen mit einer kleinen Gruppe Jungs, derjenige, den er vorhin angesprochen hatte, hieß Alex, wie sich herausgestellt hatte, über den Schulhof und obwohl er sich ein wenig wie das fünfte Rad am Wagen fühlte, war er doch ganz froh darüber, den anderen angesprochen zu haben. Letztendlich hatte er sich gestern abend doch noch dazu entschieden, die Ich-ignoriere-Sherlock-Methode auszuprobieren - jedoch auch nur, weil ihm nichts besseres eingefallen war.

Und insgesamt wirkten die vier recht nett und gaben sich sogar ein wenig Mühe, John in ihr Gespräch zu integrieren – wobei der Blonde vermutete, dass sie es mehr aus Pflichtbewusstsein, als aus anderen Gründen taten.

„Jedenfalls ist es ein Fakt, dass ich nicht auf dich angewiesen bin, Sherlock“, dachte er mit leichtem Triumph. Der dunkelhaarige sollte bloß nicht denken, er würde sich an ihn ranhängen, weil er sonst nicht dazu in der Lage war, Kontakte zu knüpfen.

„Hey, ich rede mit dir“, riss ihn jetzt die Stimme von Alex aus seinen Gedanken, in denen ein leicht belustigter Unterton mitschwang. „Was?“, John blickte erschrocken hoch, „Sorry – was hast du gesagt?“
„Ich habe gesagt, dass du dich ja scheinbar ganz gut mit unserem Klassenfreak verstehst. Zumindest hat er offensichtlich noch nicht deine gesamte Vergangenheit mit sämtlichen peinlichen Details herausposaunt…“, in die Alex‘ Stimme hatte such ein lauernden Unterton geschlichen, der John, obwohl er natürlich lange nicht Sherlocks Deduktionsfähigkeiten besaß, keinesfalls entgangen war.

Seine Augenbrauen schossen hoch. „Klassenfreak?“, fragte er und konnte eine unterschwellige Spur von Ärger, deren Herkunft ihm selbst unklar war, nicht unterdrücken.
„Ja, was denn sonst? So benimmt sich doch kein normaler Mensch!“, jetzt war die Stimme des anderen regelrecht schneidend und die Sympathie, die der Blonde noch vor wenigen Minuten für ihn empfunden hatte, verflüchtigte sich zusehends. Was ihn aber noch mehr ärgerte, war der Umstand, dass er sich seine Reaktion nicht wirklich selbst erklären konnte. Warum störte es ihn so, dass Alex Sherlock als Freak bezeichnet hatte?

„Er ist kein Freak“, hörte er sich zu seiner eigenen Verwunderung erstaunlich ruhig sagen, machte dann auf dem Absatz kehrt – und verfluchte sich schon wenigen Schritten für diese Entscheidung. „Na super“, dachte er bei sich, „jetzt ist nicht nur Sherlock genervt von dir, sondern auch der Rest der Klasse wird sich garantiert nicht mehr mit dir einlassen!“ Ein freudloses, trockenes Lachen entfloh seiner Kehle und er hätte sich für seine Idiotie schlagen können.

John Watson – forever alone. Bitte schreibt das später auf meinen Grabstein“, dachte er bitter, obwohl er selbst wusste, dass er maßlos übertrieb. Vor seinem Umzug hatte er sich mit einigen aus seiner Klasse zumindest ganz gut verstanden und extrovertiert war jetzt auch kein Attribut, was er sich selbst unbedingt zuschreiben würde – alles in allem war es in Ordnung; er konnte damit leben, nur Bekannte und keine richtigen Freunde zu haben. Aber so ganz allein…

Irgendwie brachte er auch den Rest des Vormittags hinter sich, obwohl er genauso gut Zuhause hätte sein können, da er es ausnahmsweise Sherlock gleich tat und seine Umgebung ausblendete. Die Stunden zogen wie ein weißes Rauschen, unterbrochen von Gesprächsfetzten oder der mahnenden Stimme eines Lehrers, an ihm vorbei, während er blicklos an die Wand starrte.

Ohne es zu merken hatte er mit sich im Kreis drehenden, düsteren Gedanken dafür gesorgt, dass sich seine Laune auf einen absoluten Tiefpunkt absenkte und er sich nur noch danach sehnte, nach Hause zu kommen, um sich für den Rest des Tages im Selbstmitleid zu ertränken; mittlerweile war er sich nicht einmal mehr sicher, was der Auslöser für sein Tief war, es hatte wohl etwas mit Sherlock zu tun.

Sherlock.

Plötzlich kochte Wut in ihm hoch. Warum musste dieser Soziopath, wobei der Blonde stark bezweifelte, dass das wirklich zutraf, nur so seltsam kompliziert sein? Und warum, warum, übte er so eine seltsame… Faszination auf John aus? Es war nicht so, dass er unbedingt der beste Freund des dunkelhaarigen werden musste, aber er wollte Sherlock beweisen, dass er kein Soziopath war.
Er wollte Sherlock verstehen.
Wollte die Maske fallen sehen…

John seufzte genervt und frustriert auf und begann mit sanftem Druck seine Schläfen zu massieren. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, brachten ihn zu keinem Ergebnis und das störte ihn. Er warf einen flüchtigen Blick zu dem anderen hinüber, der schon die ganze Stunde wie eingefroren neben ihm saß. „Wahrscheinlich hat er dich schon längst besser verstanden, als du dich selbst“, flüsterte eine hämische Stimme hinter Johns Stirn. „Schade, dass du nicht einmal einen Bruchteil seiner Intelligenz besitzt. Du gibst dir selber mehr Rätsel auf als ihm!“, stichelte die Stimme weiter und John biss die Zähne zusammen, um nicht auszurasten – in welcher Form auch immer.

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„Nein, ich dulde so etwas nicht in meiner Familie!“, schrie Johns Vater, der sich intuitiv unter dem scharfen Klang duckte, als wären die Worte eine Peitsche, die knapp über seinem Kopf hinwegzuckte. Er verstand die Welt nicht mehr. Gerade hatte er noch verhältnismäßig entspannt beim Abendessen gesessen, stolz auf sich, weil er es im Laufe des nachmittags geschafft hatte, sich einigermaßen aus der Abwärtsspirale seiner Gedanken zu retten – und nun blickte er in die starren, zornfunkelnden Augen seines Vaters, der aufgesprungen war und bedrohlich wie eine Mauer vor ihm stand.

Ein kurzer Blick zur Seite zeigte ihm, dass auch Harry sich weggeduckt hatte und ebenso wütend zurückstarrte, obwohl sie sichtlich mit den Tränen kämpfte. Und seine Mutter saß einfach nur stumm da, die Hände ineinander verschränkt auf dem Tisch liegend und den Blick gesenkt. Ihre Fingernägel, die sich in blasse Haut krallten und dort rote Spuren hinterließen, waren das einzige, was ihre Emotionen deutlich werden ließ.

Das alles zu erfassen, hatte nur zwei, drei Sekunden gedauert, doch diese Zeit hatte für Johns Vater gereicht, um sich den nächstbesten Teller zu schnappen und ihn mit voller Wucht durch den Raum zu werfen. Er knallte, winzige Splitter und Scherben flogen durch die Luft, als das Porzellan dicht neben dem Blonden an der Wand zerschellte. Er spürte ein kurzes Brennen, als eine der Scherben seine Wange streifte und dort einen hauchdünnen scharlachroten Streifen hinterließ.

Kurz erfasste ihn eisige Ruhe und er starrte seinen Vater an, während die Zeit einzufrieren schien. Es erschien ihm surreal, es war surreal. Harry, die zusammengezuckt war bei der die Tränen nun die Überhand gewannen, kam in sein Blickfeld.

Dann blinzelte er und die eisige Ruhe schmolz dahin, als feurige Panik nach ihm griff. Alles schien in Zeitlupe zu passieren, als er herumwirbelte und blind durch den Flur stürzte. Sein Vater brüllte irgendetwas, ein weiterer Knall und reflexartig versuchte er, mit den Armen selben Kopf zu schützen. Die Haustür. Er riss sie auf, stolperte nach draußen, rannte.

Weg, egal wohin, einfach weg. Tief in sich hatte er es geahnt. Geahnt, dass diese knisternde, Funken sprühende Stimmung in seiner Familie irgendwann explodieren würde und das instabile Bild der heilen Welt in Fetzen reißen würde. Es war eingetreten und neben der Panik züngelte nun auch Ratlosigkeit in ihm hoch, kroch in sein Gehirn und ließ das empfindliche Gerüst, mit dem er seine schlechte, beinahe hoffnungslose, Laune gerade wieder unter Kontrolle gebracht hatte, wie ein Kartenhaus einstürzen.

Und noch immer rannte er blindlings die in Dunkelheit liegende Straße hinab, ignorierte  die feinen, eisigen Regentropfen, die sich wie Nadelstiche in seine Haut brannten. Alle paar Meter würde die Dunkelheit von einem bleichen Lichtfinger durchschnitten, der von einer der Straßenlaternen herrührte und seinen Schatten mal in diese, mal im jene Richtung verzog.
Grotesk, geisterhaft, wie körperlose Ungeheuer.

Er rannte, bis ihm der Atem in der Brust brannte und seine Beine zitterten, doch auch dann hielt er nicht an, lief stattdessen ziellos durch die Straßen, wusste nur eins: er wollte nicht wieder dahin zurück, was sich bis vor kurzem noch sein Zuhause genannt hatte.
Nicht jetzt.
Nicht so.
Am besten nie wieder.

Er hatte nicht bemerkt, dass er mittlerweile in eine etwas noblere Gegend gelangt war. Zwar waren die Gebäude, die hier standen, noch keine Villen, aber dennoch nicht gerade für den kleinen Geldbeutel. Und noch weniger bemerkte er die Gestalt, die an einem der Fenster stand, auf die Straße sah und Violine spielte.

Diese Gestalt war niemand anderes als Sherlock, der nun sein Spiel unterbrach und mit gerunzelter Stirn auf die Straße sah. Der Mensch dort unten war eindeutig John und sein Gang sowie der sich schnell hebende und senkende Brustkorb sagten ihm, dass dieser offensichtlich gerannt war. Ziellos, denn so, wie er dort im der Dunkelheit umherstolperte, schien er nicht zu wissen, wo er war. Die Art, wie er immer wieder über seine Schulter sah, die angespannte Haltung verrieten Sherlock Angst. Vielleicht sogar Panik?

Doch warum? Streit mit seiner Familie? Naheliegend, doch ein plausibler Auslöser, der den sonst so vernünftigen John dazu bringen könnte, spät abends von Zuhause wegzurennen, wollte ihm nicht einfallen.
Er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen, legte behutsam, beinahe liebevoll sein Instrument zur Seite, verließ das Zimmer und lief nach unten, um den Blonden buchstäblich vom der Straße zu holen.

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