Abstrakte Kunst
John zögerte. Sollte er zu dem dunkelhaarigen hinübergehen oder nicht? Ehrlich gesagt war er nicht unbedingt erpicht darauf, die letzten 15 Minuten der Pause allein in irgendeiner Ecke zu verbringen. Allerdings war Sherlocks Blick alles andere als einladend und der Blonde wollte es auch nicht riskieren, sich direkt am ersten Tag bei seinem Sitznachbarn unbeliebt zu machen. „Ach, was solls!“, dachte er dann bei sich, atmete kurz tief ein und ging bemüht selbstbewusst und zielstrebig zu dem Anderen hinüber.
Falls dieser überrascht war, ob positiv oder negativ sei mal dahingestellt, so ließ er es zumindest mit keiner Miene erkennen und starrte John weiterhin unbewegt an. Kaum stand dieser direkt vor Sherlock, wäre er am liebsten sofort wieder geflohen, da sein Gegenüber in seiner ganzen Haltung schon recht respekteinflößend war.
Doch er riss sich zusammen und brachte schließlich ein „Ehm… Hi“ heraus. Er bekam tatsächlich eine Reaktion seitens Sherlock, auch wenn diese nur im dezenten Heben einer Augenbraue bestand.
„Mich hat nur interessiert, wie du das vorhin gemacht hast“, fuhr John fort. „Also, das mit den ganzen Sachen, die du über mich wusstest“, sagte er vage und unterstrich dies noch mit einem etwas unbeholfenen Händegefuchtel. Es vergingen ein paar Sekunden, doch dann ließ der Größere sich doch noch zu einer Antwort herab: „Meine Deduktionen basieren lediglich auf…“
„Deduktionen?“, unterbrach der andere ihn verwirrt und die Art und Tonlage, wie er es aussprach, verrieten Sherlock, dass er dieses Wort wohl noch nie zuvor gehört hatte.
„Ja, Deduktionen. Sie basieren auf Beobachtung – etwas , was keiner von euch Idioten hinbekommt!“, der letzte Teil des Satzes glich mehr einem herablassenden Schnauben, als allem anderen. John kniff ärgerlich die Augen zusammen; er war ja an sich sehr geduldig und friedliebend, aber grundlose Beleidigungen musste er sich nicht gefallen lassen!
Doch dem Lockenkopf war seine verstummte Miene scheinbar aufgefallen, denn er verdrehte genervt die blaugrünen Augen und winkte ab: „Jetzt guck nicht so, grundsätzlich ist jeder außer mir ein Idiot.“ Diese Aussage machte es für John zwar nicht unbedingt besser, jedoch erinnerte er sich an seinen Vorsatz, sich nicht direkt unbeliebt zu machen, schluckte die Wut hinunter und zwang stattdessen ein Lächeln auf sein Gesicht.
„Beobachtung, okay. Aber… wie?! Wie kannst du so viele kleine Details so schnell erkennen?“, fragte er weiter und zwar nicht nur, um irgendwie ein Gespräch aufrecht zu erhalten; Nein, er wollte wirklich wissen, wie sein Gegenüber seine Deduktionen aufstellte. Doch vorerst blieb ihm dieser eine Antwort schuldig. Stattdessen stieß er sich von der Wand ab und zog von dannen, während er etwas murmelte, was sich verdächtig nach „langweilig“ und „kleine Gehirne“ anhörte.
Kurz stand John wie vom Donner gerührt da und starrte der sich entfernenden Gestalt hinterher, bevor er „Jetzt warte doch mal!“ rief und ihm nacheilte. Doch der Größere hatte nicht nur einen Vorsprung, sondern machte auch größere Schritte, sodass der Blonde es schwer hatte, ihn einzuholen. Und als dieser dann um die Ecke bog, die der „Flüchtende“ noch vor wenigen Sekunden passiert hatte, war der wie vom Erdboden verschluckt. Einfach weg.
Verwirrung zeichnete sich auf Johns Gesicht ab und einige Sekunden versuchte er noch, einen Zipfel des schwarzen Mantels auszumachen. Doch… nichts. Sherlock hatte sich förmlich in Luft aufgelöst. Also trat der Blonde seufzend den Rückweg an und ging langsamen Schrittes zum Klassenraum, in dem er gleich Unterricht haben würde.
Den Rest der Pause, glücklicherweise waren es nur noch fünf Minuten, verbrachte er damit, ein Stück entfernt von seinen neuen Klassenkameraden, an der Wand zu lehnen und demonstrativ an ihnen vorbei zu starren. Denn ihm war das Getuschel und die, teils abfälligen, teils mäßig interessierten, Blicke in seine Richtung nicht entgangen. Und zu wissen, dass hinter seinem Rücken über ihn geredet wurde, und das vermutlich eher negativ als positiv, trug nicht gerade dazu bei, dass er große Lust zur Sozialisierung verspürte.
Schließlich, endlich, klingelte es und der Lehrer, ein aschblonder, recht freundlich aussehender Mann um die 40, erschien und schloss die Tür auf. Sherlock war noch immer verschwunden und John beschloss, dass es definitiv nicht seine Aufgabe war, sich darüber Gedanken zu machen. Wenn der Deduktionskünstler meinte, er müsse nicht zum Unterricht erscheinen, dann war das ganz allein sein Problem.
Also trottete John mit ein wenig Abstand hinter den anderen her, blieb dann jedoch unschlüssig zwei Schritte, nachdem er durch die Tür getreten war, stehen, da er keine Ahnung hatte, wo er sich setzen sollte. Glücklicherweise wurde er ziemlich schnell vom Lehrer bemerkt, der ihn auch sogleich ansprach: „Hallo, du musst der neue Schüler sein. Mir wurde leider nicht gesagt wie du heißt?...“
John hörte die unterschwellige Frage im letzten Satz und antwortete wahrheitsgemäß, dass er John Watson hieße.
„Okay, John, dann setz dich doch erstmal da hin, da sitzt zwar normalerweise Sherlock, aber der ist ja mal wieder nicht da.“ Ein halb genervtes, halb resigniertes Seufzen folgte dieser Aussage und John setzte sich auf den ihm zugewiesenen Platz. Obwohl eigentlich immer zwei Leute an einem Tisch saßen, stand an diesem, Sherlocks Tisch, nur ein Stuhl, was den Blonden doch etwas wunderte.
Doch jetzt sollte erst einmal der Kunstunterricht sein größtes Problem darstellen, denn obwohl er neu war, beschloss Mr Smith, so hieß der Lehrer, hatte John mitbekommen, dass er ganz normal am Unterricht teilnehmen sollte. So führte eines zum anderen und nun kämpfte der Teenager gerade mit zwei Farben, die sich auf den Tod nicht zum richtigen Orangeton vermischen wollten. „Die Skyline von London im Sonnenaufgang mit Acrylfarben malen – was für eine bescheuerte Aufgabe“, knurrte er innerlich. Das musste er nicht malen, das könnte er sich jeden Morgen live und in Farbe angucken, wenn er denn früh genug aufstehen würde. Oder Fotos. Fotos gab es von dieser Szenerie zu Hauf!
John schnaubte frustriert; schon wieder war diese verdammte Farbe zu dunkel! Dabei war sein Ergebnis bis jetzt gar nicht mal schlecht – gut , zugegeben, es bestand aktuell aus einem Farbverlauf in Rottönen, die von unten nach oben immer dunkler wurden. Das war nun wirklich nicht sonderlich schwer, aber ihm schauderte jetzt schon vor der Skyline; zumal Mr Smith angekündigt hatte, die Werke der Schüler zu benoten.
Der Blonde atmete tief durch. „Ganz ruhig, du schaffst das. Konzentrieren dich! Ganz ruhig…“, betete er gedanklich wie ein Mantra vor sich hin und schaffte es schließlich doch noch, den richtigen Farbton zusammenzumischen und in dieser Stunde immerhin den Hintergrund, also den Sonnenaufgang, fertigzustellen.
Dann verschaffte sich der Lehrer Gehör, indem er die Stimme erhob: „So, Leute, die Stunde ist fast rum. Packt eure Bilder zum Trocknen mal da rüber, räumt eure Plätze auf und dann könnt ihr gehen!“ Sofort kam Bewegung in die Klasse und der Geräuschpegel, der im Kunstunterricht ja sowieso verhältnismäßig hoch war da sich so gut wie jeder unterhielt, stieg merklich an. John kämpfte sich seinen Weg durch die Schüler und schaffte es schließlich, mit heiler Haut den Raum zu verlassen.
Draußen angekommen sah er an sich herunter und verzog sogleich das Gesicht: sein hellgrauer Pullover war über und über mit kleinen Farbspritzern in allen erdenklichen Rottönen dekoriert. „Abstrakte Kunst“, murmelte er resigniert zu sich selbst, „ich bin abstrakte Kunst!“
„Nein, bist du nicht, das sind nur Farbspritzer“, ertönte eine dunkle Stimme trocken hinter ihm und er fuhr herum. „Sherlock!“, rief er vorwurfsvoll. „Musst du dich so anschleichen?“
„Offenkundig“, erwiderte der Angesprochene nur knapp und blickte John dann wieder schweigend an. „Wo warst du überhaupt?“, fragte dieser dann und fügte hinzu: „Und warum bist du jetzt wieder hier?“
„Ganz einfach: Kunst ist langweilig und unwichtig. Chemie, das haben wir nämlich gleich, ist immerhin prinzipiell interessant. Nicht das, was wir machen“, er schnaubte abfällig und John fiel zum wiederholten Male die leichte Arroganz auf, die in der Stimme des Größeren mitschwang. „Das ist ebenso langweilig wie der Kunstunterricht. Die Experimente sind anspruchslos und vorhersehbar und die Themen vollkommen irrelevant, aber es ist erträglicher, als Farben mit Pinseln auf ein Papier zu schmieren.“
Mit diesen Worten wandte er sich abermals ohne ein weiteres Wort von John ab und ging zielstrebig und mit großen Schritten seines Weges. Der Kleinere beschloss, dass es wohl klug wäre, ihm zu folgen, da er sonst wieder verloren auf weiter Flur herumstehen würde und nicht wüsste, wo der Unterricht stattfinden würde. Seufzend eilte er den dunkelhaarigen hinterher – zum zweiten Mal an diesem Tag.
Und es würde nicht das letzte Mal sein.
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