Schatten der Vergangenheit | In guten Zeiten
Valinor
Zeitalter der Bäume
Tirion war wunderschön in dieser Nacht.
Glänzte die Stadt der Eldar schon gewöhnlich wie keine andere auf dieser Welt, so schillerte sie heute wie ein Diamant mit so vielen Facetten, dass man sie nicht mehr zu zählen vermochte.
Denn heute feierten die Eldar asar cuiviëo, Das "Fest des Erwachens" - den Tag, an dem das Geschlecht der Elben das Licht dieser Welt erblickt hatte.
In ganz Valinor war das asar cuviëo einer der höchsten Feiertage, und nicht nur in Tirion waren die Festsäle gefüllt und die Straßen voller Leben.
Als Eonwe den Silbernen Saal Tirions betrat, eines der größten Gebäude dieser Stadt, hüllte ihn fröhliches, vielschichtiges Stimmengewirr ein.
Die Säulen aus weißem Stein, die die hohe gewölbte Decke stützten, waren geschmückt mit den tiefroten Bannern der Feanori.
Auch ein Großteil der Feiernden war in diese Farbe gekleidet, und Eonwe wurde bewusst, dass er mit seinen blauen Gewändern, die ihn als ein Diener des Manwe auswießen, durchaus aus der Menge herausstach.
Ein paar der Elben - meist höherer Abstammung - grüßten ihn höflich, und luden ihn ein, sich zu ihnen zu gesellen. Eonwe lehnte höflich ab, und sah sich in dem Saal um.
Wo ist er?
Gerade, als Eonwe verärgert schlussfolgern wollte, dass er es sich doch wieder anders überlegt hatte, entdeckte der Maia den den er suchte.
Daenor lehnte im Schatten einer Säule an der Wand.
Er war gekleidet in eine dunkelrote Tunika, abgesetzt mit silbernen, schlichten Stickereien.
Seine braunen Stiefel waren ebenfalls äußerst einfach gehalten, doch er trug sie mit dem ihm eigenen Stolz, mit der manch ein König nicht mithalten könnte.
Er hielt ein Glas Wein in der Hand und schien sich nicht wirklich an irgendetwas zu beteiligen.
Eonwe seufzte und schüttelte den Kopf über diesen hoffnungslosen Fall, den er seinen Freund nannte, bevor er sich zu ihm gesellte.
Daenor schwenkte die rubinrote Flüssigkeit in seinem Glas und betrachtete die Elben vor ihm mit etwas, das an Belustigung grenzte.
"Wenn ich nicht wüsste, dass du ein eigenbrödlerischer Grübler bist, würdest du gerade sehr verloren für mich aussehen", stellte Eonwe als Begrüßung fest und lehnte sich neben Daenor an die Wand.
Dieser drehte den Kopf zu ihm.
Seine Augenbrauen wanderten so weit nach oben, dass man meinen könnte, sie müssten jeden Moment in seinem Haaransatz verschwinden.
"Und wenn ich nicht wüsste," konterte der junge Elb amüsiert, "Dass du das hier" - er machte eine ausladende Handbewegung, wobei der Wein gefährlich im Glas herumschwappte - "unterhaltsam findest, könntest du einem fast leid tun - aber auch nur fast," fügte er grinsend hinzu und nahm einen Schluck aus seinem Glas.
Eonwe schüttelte den Kopf und betrachtete die Elben, die durch den hell erleuchteten Saal schlenderten, an den hohen, silbern gedeckten Tischen standen und sich in kleinen Gruppen unterhielten.
"Ich weiß nicht, was du dagegen hast," murmelte der Maia und nahm sich selbst ein Glas Wein von einem Diener, der gerade an ihnen vorbeiging,
"Es ist schließlich ein Fest und kein Trauermarsch. Dort kannst du gern in einer Ecke stehen und vor dich hinbrüten. Amüsier dich!"
Eonwe trank einen Schluck und war überrascht, wie stark das Getränk war - plötzlich wollte er nicht mehr genau wissen, wie viele Daenor schon intus hatte.
Dieser schnaubte und lehnte den Kopf zurück an den Stein, dessen Kühle Eonwe langsam durch den Rücken kroch.
"Das würde ich ja," setzte Daenor abfällig an und sah zur anderen Seite des Raums, wo sich Caranthir und Celegorm mit zwei anderen Elben unterhielten. Eonwe musste nicht wissen, was sie sagten, der hochmütige Ausdruck auf ihren Gesichtern reichte ihm.
"In anderer Gesellschaft."
Der Maia seufzte.
"Du übertreibst."
Daenor zuckte die Achseln.
"Ich glaube durchaus, dass sie ihren Rang verdienen. Dass sie Anführer sind. Trotzdem bilden sie sich zu viel auf sich ein."
Schon in den ersten Tagen, nachdem er Daenor kennengelernt hatte, war ihm aufgefallen, dass der Elb immer genau das sagte, was ihm gerade im Kopf herumging. Er hatte einen scharfen Verstand und eine noch schärfere Zunge - bei der es Eonwe mittlerweile wunderte, dass sein Freund sie überhaupt noch besaß.
Obwohl er verstehen konnte, dass Daenor nichts für die hohen Häusern der Noldor und ihre Feierlichkeiten übrig hatte.
Der Elb gehörte zu den stolzesten und geradlinigsten Personen, die Eonwe jemals kennengelernt hatte, doch er hing das, was ihn ausmachte, nie an die große Glocke.
Er passte nicht zu den Leuten, die diesen Saal bevölkerten und langsam glaubte Eonwe, ihn hierher zu bringen, war ein Fehler -
Denn Daenor schien sich selbst eine Strategie zurechtgelegt zu haben, sich den Abend unterhaltsam zu machen.
"Amüsieren heißt aber auch nicht, sich maßlos zu betrinken," kommentierte Eonwe mit hochgezogenen Augenbrauen als Daenor sein Glas mit einem Zug zur Hälfte leerte.
"Alles eine Sache der Auslegung," widersprach der Elb, nachdem er hinuntergeschluckt hatte. Als er Eonwes missbilligenden Gesichtsausdruck sah, begann er zu lachen.
"Ich weiß, wie viel ich vertrage, Eonwe," fuhr er in versöhnlicherem Tonfall fort, "Ich blamiere dich schon nicht. Außerdem - was soll ich denn groß tun? Auf den Tisch springen und nach einem Duell schreien?"
Eonwe schnaubte.
"Muss ich darauf antworten?"
"Wenn dir etwas darauf einfällt."
Der Maia lachte und trank selbst einen weiteren Schluck seines Weines. Dann wurde er wieder ernst und betrachtete seinen Freund, der irgendetwas am anderen Ende der Halle ansah, ein nachdenklicher Ausdruck in seinen schwarz-silbernen Augen.
"Aber sag mir ehrlich, Daenor: Was hast du gegen so etwas? Du hast doch sonst auch kein Problem mit den Leuten - außer, du hast ihnen gerade irgendetwas ins Gesicht gesagt, was... nicht unbedingt gut aufgenommen wurde."
"Das ist es ja gerade", antwortete der Elb, "Ein Fest ist meiner Meinung dafür da, sich etwas auszulassen - und nicht bei jedem Wort aufzupassen, ob man nicht irgendjemand wichtiges auf die Zehen tritt."
Eonwe lachte.
"Soll ich also stolz auf mich sein, dass ich dich hierhergeschleift habe?"
"Nun", erwiderte Daenor und setzte seine demonstrative ich-bin-dir-einen-Schritt-voraus-Miene auf, "Das kannst du gerne tun. Du kannst dich aber auch darauf verlassen, dass ich das hier die nächsten fünfzig Jahre als Ausrede benutze. Aber ganz ehrlich", fügte er an, und wandte sich Eonwe mit hochgezogenen Augenbrauen zu, "Wo warst du die ganze Zeit? Du warst zu spät."
"Ich-", setzte Eonwe an, doch er brach ab, als er sah, dass Celegorm durch die Menge auf ihn zukam. Er warf einen besorgten Blick zu Daenor, der einen vollkommen neutralen Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte.
"Fürst Eonwe", grüßte der Noldo und neigte höflich den Kopf.
"Prinz Celegorm", erwiderte Eonwe den Gruß und richtete sich von der Wand auf.
Neben ihm grüßte Daenor ebenfalls und neigte den Kopf etwas tiefer als Eonwe - nur, weil er die Prinzen nicht unbedingt mochte, hieß das nicht, dass er Höflichkeit vollständig mit Füßen trat.
"Wir haben Euch bereits vermisst", fuhr der Prinz fort. Eonwe bezweifelte diese Aussage, doch er lächelte leicht und meinte: "Nun, jetzt bin ich hier."
"Wollt Ihr Euch zu uns gesellen? Es wäre bestimmt angenehmer als hier im Schatten zu stehen", fuhr der Prinz aalglatt fort.
"Ich bin in bester Gesellschaft, danke", erwiderte Eonwe kühl.
Celegorm warf einen abschätzigen Seitenblick zu Daenor, der sich in eine Statue verwandelt zu haben schien - sein Gesicht war immer noch vollständig ausdruckslos. Eonwe war froh darüber, dass sein Freund, der sich sonst nie um einen scharfzüngigen Konter zu schade war, zumindest dieses Mal den Mund hielt.
"Ich verstehe",
War Celegorms einzige Erwiderung, bevor er sich steif verabschiedete und wieder in der Menge verschwand.
Erst jetzt schien Daenor aus seiner Starre zu erwachen und er sah dem Noldorprinzen mit zusammengekniffenen Augen hinterher.
"Das hättest du nicht tuen müssen," murmelte er, ohne Eonwe anzusehen.
Der Maia schnaubte.
"Du bist mein Freund, Daenor. Ich lasse dich nicht im Stich."
Ein Lächeln zog sich über das Gesicht des jungen Elben und er wandte sich ihm zu.
"Danke."
Eonwe grinste und hob das Glas.
"Auf unsere Freundschaft. Möge sie sich nie ändern."
Daenor lachte auf und stieß mit Eonwe an.
"Und möge sie uns nie ändern."
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