Schatten der Vergangenheit | Im Ring des Schicksals
Valinor
587 e.Z.
Der Ring des Schicksals erwartete sie schweigend, als drohende, unbezwingbare Mauer der Stille.
Das Klirren der Kettenglieder auf dem steinernen Boden war das einzige Geräusch, und es klang so laut wie ein splitternder Berg.
Langsam, aber hocherhobenen Hauptes, schritt Daenor durch die lange, hell erleuchtete Halle, auf den wartenden Halbkreis der Valar zu.
Rechts neben ihm ging Eonwe, das Licht brach sich funkelnd in Veaniës Knauf, dessen poliertes Heft über seine Schulter ragte; seine blauen Kleider schienen zu leuchten.
Ein wahrer Herr der Maia.
Nichts ließ erkennen, dass er noch vor kurzem an der Spitze eines Heeres gestanden hatte - ganz im Gegensatz zu Daenor, dem immer noch Reste von rotem und schwarzem Blut an Gesicht und Händen hafteten.
Schließlich hatten sie die Halle durchquert und blieben in gebührendem Abstand stehen, lautlos hielten die beiden Wachen hinter ihnen.
Daenor drückte die Schultern durch und blieb aufrecht stehen, während sich Eonwe verneigte und dann einen Schritt zur Seite trat.
Der Elb stand nun allein vor den Mächtigen dieser Welt.
Der große Daenor Chelhathol - besiegt und in Ketten.
Er wagte es nicht, an Angband zu denken, oder an die Nachricht von Dargashs Tod; diese Erinnerungen glichen einer schrecklichen Wunde, die erst schmerzen würde, wenn er sie ansähe.
Und so hatte er sich tief in sich selbst zurückgezogen, sah zu den Valar hinauf und empfand nichts.
Daenor hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden.
Es war ihm egal.
Dann erklang die Stimme Mandos', und er hörte sie wie aus weiter Ferne.
Er wäre heute hier, verkündete der Vala, um das Urteil für seinen Verrat und seine anderen zahlreichen Verbrechen zu empfangen.
"Habt Ihr das verstanden?", fragte der Schicksalsrichter nun, und seine Stimme klang gleichzeitig nah und doch von weither - als sei sie gar nicht richtig da.
Daenor antwortete nicht. Er wollte nur noch, dass es endlich vorbei war. Sollten sie es doch einfach zu Ende bringen.
Aber es war noch lange nicht vorbei.
Ungeduldig wiederholte Mandos seine Frage.
"Ja," sagte Daenor diesmal, und seine Stimme klang so hohl und leer, wie er sich fühlte.
Der Schicksalsrichter nickte und sprach weiter, über den Verrat, den er an den Noldor begannen hatte.
Schließlich fragte der Vala, ob Daenor irgendetwas dazu zu sagen hätte. Ob er etwas abstritt.
Das Wort war das einzige, das wirklich zu ihm durchdrang, und es holte ihn mit plötzlicher Heftigkeit zurück aus seiner inneren Versenkung.
Abstritt?!
Oh nein.
Er würde diese Entscheidung, die wichtigste seines ganzen Lebens, ganz sicher nicht abstreiten.
Würde seine Männer nicht derart verleumden.
Die Valar hatten tatenlos zugesehen, wie die Noldor die Teleri abgeschlachtet wurden, obwohl sie hätten helfen können.
Sie waren es nicht wert, diese Welt zu regieren.
Und bei diesem Gedanken erwachten sie wieder zum Leben.
Der Stolz und der Zorn und der eiserne Wille, die ihn zu dem gemacht hatten, was er war.
Wer er war.
Er war kurz davor gewesen, es zu vergessen - doch wenn er das tat, war er schon gebrochen.
Ich werde mich nicht brechen lassen. Und ich werde nicht betteln.
Ein Schwur, an dem er festhalten würde.
Das dunkle Feuer in ihm loderte wieder auf, nun, da es plötzlich wieder etwas gab, das es nährte.
"Bin ich denn ein Verräter?"
Die Worte klangen trotzig und stolz, ganz anders als noch vor wenigen Augenblicken.
"Wann habe ich mich denn von den Noldor abgewandt? Nach ihrer ersten verlorenen Schlacht?
Nein.
Ich tat es in der Nacht, nachdem wir die Ufer Mittelerdes betreten hatten, in der Nacht der Schiffsverbrennung von Losgar. Sobald ich die Möglichkeit hatte, eine Seite zu wählen, habe ich gewählt. Und Ihr könnt mir vieles vorwerfen. Aber nicht, dass ich diese Seite jemals hintergangen hätte."
Während er sprach, gewann seine Stimme weiter an Kraft, bis sie wieder so war, wie Daenor sie in Erinnerung hatte.
Die Stimme des Kriegsherrn von Morgoth.
Hätte er in diesem Moment nach rechts gesehen, so wäre ihm aufgefallen, dass Eonwe von seiner Stellungnahme sichtlich beunruhigt war.
Doch der Elb hielt die Augen auf Mandos gerichtet, der ihn ebenfalls unverwandt ansah.
"Ihr habt Euch nicht abgewandt. Ihr habt Euch gegen sie gewandt," beharrte der Vala, unbeeindruckt, "Ihr habt als Heerführer unseres Feindes gedient. Und habt hunderte von Euresgleichen getötet."
"Und ich bereue keinen einzigen davon," gab Daenor kalt zurück, "In ihren Reihen herrschte nichts als Verrat und Hinterlist, und hätten wir sie nicht getötet, dann hätten sie sich irgendwann gegenseitig ausgelöscht.
Sie sind nicht Meinesgleichen," fügte er leise hinzu, "Schon lange nicht mehr.
Was ich getan habe, war richtig."
Seine Stimme verhallte in dem hohen Saal und hinterließ nichts als wartende
Stille. Denn Mandos ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Seine bodenlosen, schwarzen Augen durchbohrten ihn - auf eine ganz andere Art, als es Morgoths flammender Blick getan hatte.
"Es liegt nicht an Euch, das zu entscheiden," erklang seine Antwort schließlich.
Daenor schnaubte.
"Es war das, was ich für richtig hielt. Und darüber kann ich sehr wohl entscheiden."
Ich werde mich nicht brechen lassen, wiederholte er in Gedanken, als wäre es ein Gebet, Ich werde nicht betteln.
Stumm erwartete er sein Urteil, das jeden Moment gefällt werden würde.
Doch dann erklang eine andere Stimme; und es war seltsam, im Ring des Schicksals einen anderen Vala als Mandos sprechen zu hören:
"Da es offensichtlich keinen Sinn hat, Euch in Euer Gewissen zu reden - falls Ihr überhaupt eines habt - bieten wir Euch eine letzte Möglichkeit, Euch reinzuwaschen,"
Manwe sah zu Daenor hinab, der seine Überraschung hinter einer ausdruckslosen Miene verbarg.
Eine zweite Begnadigung?
"Unter einer Bedingung."
Natürlich.
Natürlich gab es eine Forderung, etwas das rechtfertigte, ihn gehen zu lassen.
Er hatte sich den Valar zu oft widersetzt, um etwas anderes zu erwarten.
"Welche Bedingung ist das?", fragte er schließlich.
"Lediglich die Antwort auf eine Frage: wo ist Sauron?"
Der irrwitzige Drang zu lachen kam so plötzlich, so unerwartet, dass Daenor ihn nicht zurückhalten konnte.
Das kurze Gelächter war spöttisch und freudlos, und Daenor erkannte, wie wahnsinnig er aussehen musste - vielleicht war er es ja auch schon längst.
"Ihr müsst wirklich all Eure Möglichkeiten erschöpft haben, wenn Ihr mich kaufen wollt, um Sauron zu finden!", erwiderte er grinsend.
"Erzählt uns nicht, dass Ihr sein Versteck nicht kennt."
Mandos' Stimme war gefährlich leise, zeigte aber ansonsten keinerlei Gefühlsregung.
"Wir wissen, dass Ihr Eure rechte Hand zu ihm geschickt hättet - auch wenn er ihn nie erreicht hat.
Wo ist er? Sagt es uns.
Und Ihr seid frei."
Daenor schwieg.
Dieses Angebot war eine Beleidigung.
Hinter seinem Rücken hatte er die Hände zu Fäusten geballt, das einzige äußere Zeichen seiner Wut. Und es war für die Valar nicht sichtbar.
"Daenor," murmelte Eonwe plötzlich neben ihm, als sich die wartende Stille schier endlos hinzuziehen schien, "Sei kein Narr, Daenor. Sag einfach, was du-"
"Sei still!", fuhr der Elb ihn an.
An die Valar gewandt sagte er:
"Sauron ist der letzte große General, der geblieben ist. Der letzte freie Diener Morgoths. Glaubt Ihr tatsächlich, ich würde ihn Euch ausliefern?
Und unsere Sache derartig verraten, weil ich mein Leben über meine Treue stelle?"
Kurz wartete er, bevor er leise den Punkt hinzufügte, der für ihn selbst am schwersten wog:
"Und Glaubt Ihr, ich würde die Männer, die neben mir kämpften, oder meinen Stellvertreter, der starb, um Sauron zu warnen, auf so eine feige Weise hintergehen?"
Irgendwie schaffte er es, dass seine Stimme ruhig blieb, frei von dem Zorn, der seine Trauer verraten hätte.
"Ihr werdet von mir nichts erfahren."
Kurz sagte niemand etwas.
"Dies ist Eure letzte Gelegenheit," setzte Manwe erneut an, "Haltet Ihr an Eurer Weigerung fest?"
Daenor atmete tief durch.
Ich werde mich nicht brechen lassen.
"Das tue ich."
Ohne hinzusehen wusste er, dass Eonwe sich verkrampfte, doch nichts konnte seine Entscheidung nun mehr ändern.
Denn nun erhob sich Mandos, der Schicksalsrichter von Valinor, von seinem Sitz und streckte die Hand aus.
"Dann sei beschlossen, dass Ihr, Daenor Chelhathol, vormals von Valinor, Kriegsherr des Gefallenen, auf ewig in Ketten gelegt, und meine Hallen nicht verlassen werdet bis die Sterne sterben und die Sonne ins Meer stürzt."
Daenor schloss die Augen, als die Worte auf ihn niederkrachten wie Hammerschläge.
Das war es wert, sagte er sich, Seine Treue war es wert, sein Schicksal so elendig zu besiegeln, wo er sich doch etwas weitaus besseres mit seinem Wissen hätte erkaufen können.
Der Kriegsherr von Morgoth schlug die Augen auf, und Entschlossenheit brannte in seinem silbernen Blick.
Er war bereit.
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