Kapitel 60 | Als das Eis brannte
Sauron lachte leise, und in diesem Lachen lag die Schadenfreude und die Verachtung ganzer Zeitalter.
Ein höllisches Aufblitzen von Schmerz, und der Maia riss den Dolch ruckartig aus der Wunde heraus, hinterließ ein klaffendes, gezacktes Loch, als er Daenor nach hinten stieß.
Seine Beine konnten sein Gewicht nicht halten, Ströme von Blut rannen aus der Wunde, als ihm der Boden entgegenkam und erst der harte Fels seinen Sturz bremste.
Daenor stöhnte auf.
Jetzt ist es aus...ich hätte ihn doch nur noch ein bisschen länger aufhalten müssen...nur noch ein paar Minuten.
Doch der Maia hatte gut gezielt.
Die schmale Klinge war tief eingedrungen und hatte Blutbahnen, Organe und Gewebe zerfetzt.
Nicht sofort tödlich, nein.
Sauron wollte, dass er langsam und elendig zu seinen Füßen verreckte.
Er wollte den Mann leiden sehen, der seinen Plänen so oft im Weg gestanden hatte.
Steh auf...kämpf...steh auf...
Du kannst jetzt nicht einfach aufgeben...
Verzweifelt stemmte er die Hände in den Boden, doch er schaffte es nicht, sich hochzudrücken.
Alle Kraft schien seine Glieder verlassen zu haben, seine Arme zitterten unter dem Gewicht seines eigenen Körpers, das plötzlich so schwer wie ein Berg erschien.
Dann spürte er auf einmal etwas warmes, flüssiges an seinen Fingern, und als er versuchte, die Verschwommenheit wegzublinzeln, da sah er die glänzenden Bahnen dunkelroten Blutes, das sich seinen Weg nach vorne suchte.
Mit plötzlicher Fassungslosigkeit starrte er den roten See an, der sein Leben war.
Er verblutete.
Er starb.
Irgendwo über ihm ertönte Saurons hämisches Gelächter durch den Schleier aus Schmerz und Verzweiflung.
"Du siehst genauso aus wie dein Orkfreund, als ich ihn getötet habe," höhnte er, "Er war genauso fassungslos - genau der gleiche Narr wie du."
Dargash...
Daenors Hände ballten sich zu Fäusten, doch er konnte sich nicht aufrichten.
Dargash, es tut mir so leid...
Ihr alle...es tut mir leid...
Letztendlich hatte er niemanden retten können.
Niemanden.
Er hatte alles versucht, und doch er würde ihnen niemals mehr in die Augen sehen können, nicht in dieser Welt, nicht in der danach.
Er hatte versagt.
Sauron wandte sich von ihm ab, trat auf den Abgrund zu, nur ein schwarzer Schatten in Daenors verschwommenen Blick, der Kriegsherrenmantel, den Daenor schon lange nicht mehr verdiente, umwehte seine Schultern.
Seine Wunde schmerzte, doch lange nicht so, wie er sich den Schmerz einer tödlichen Verletzung vorgestellt hatte.
Dennoch wusste er, schloss er jetzt die Augen, würde er sie niemals wieder öffnen.
Der Gedanke bekam etwas Tröstliches, die Warme Dunkelheit schien plötzlich so einladend, als ihn Saurons Stimme ins Jetzt zurückriss:
"Es wird mir eine Freude sein, mich der Schlacht anzuschließen, weißt du, Kriegsherr?", erklangen die Worte, seltsam fern in Daenors sonst so scharfen Ohren.
Daenor konnte das kalte Grinsen, das schon so viele Morde bezeugt hatte, auf Saurons Gesicht beinahe sehen.
"Ich werde sie töten dafür, weißt du? Die Verräter, einen nach dem anderen. Wie schade, dass du das nicht mehr mitansehen kannst."
Wieder lachte er leise, während sich Daenor seines Versagens erst vollständig bewusst wurde, und in ihm ein Verdacht zurück an die Oberfläche kroch, eine Befürchtung, eine so tiefliegende Angst, die sein ganzes Tun in diesem Plan begleitet hatte.
Was, wenn er flasch gelegen hatte?
Er hatte alles auf eine Karte gesetzt, doch was, wenn er verlor?
Auch wenn sie den Kampf vor dem Morannon vielleicht gewonnen hatten...Saurons Macht war dennoch zu groß.
Sie könnten niemals die ganze mordorische Armee vernichten, niemals gegen sie bestehen, wenn ihr Herr und Meister sie erneut an seiner Seite in die Schlacht sandte.
Der Gedanke nahm Gestalt an und verfestigte sich in seinem Geist, bis er zu einer Tatsache wurde. Ihm fehlte schlicht die Kraft, dagegen anzukämpfen, seinen Gegner und seine Freunde einzuschätzen, wie er es sonst immer tat.
Was, wenn seine Verzögerung ihnen nichts brachte?
Dann hatte er sie ebenfalls in den Tod geführt.
Denn Sauron meinte es ernst.
Er würde niemanden verschonen.
Er würde sie alle töten.
Bis zum.
Letzten.
Mann.
Weil Daenor ihn nicht hatte aufhalten können.
Er war zu mächtig.
Es gab keinen Sieg.
Daenor konnte den Laut nicht mehr verhindern, der sich in seiner Kehle nach oben arbeitete. Es wäre ein Schrei gewesen, hätte er die Kraft dazu gehabt und wäre nicht sein Körper gebeutelt von Schmerzen - außer dort, wo sich langsam Taubheit breitmachte.
So war es nichts als ein Schluchzer, ein leiser, durch und durch gebrochener Laut, der sich auf diesem flammendem Fels seiner Kehle entrang.
Sollte Sauron seine Verzweiflung doch sehen.
Sauron wandte sich zu ihm um, und da war dieses verfluchte Grinsen auf seinen Lippen, als er auf Daenors jämmerliche Gestalt hinabblickte.
Und er weidete sich daran.
"Die Verräter werden ja mit Sicherheit sterben, aber ich frage mich, Daenor, was wird mit deinen beiden Maiar?", fuhr er fort und schritt langsam seinen sterbenden Rivalen zu, der den Kopf senkte, nicht mehr imstande, die Last seiner Schuld zu tragen,
"Sag mir, Daenor: Was wird aus Eonwe? Nachdem er dich so lange verteidigt hat...der einzige Grund, warum ich mich immer noch mit dir herumschlagen muss."
Der Name klang wie Gift aus Saurons Mund und sein Hohn zog ihm nur noch weiter den Magen zusammen.
Er würde ihn umbringen.
Er würde sie alle umbringen.
Eonwe und Asrán und Gorog und Vadrion.
Alle.
So wie er Dargash umgebracht hatte.
Er würde gewinnen.
Er würde...
Nein.
Das Wort hallte durch seinen Geist, es war plötzlich da und erfüllte ihn mit der Kraft seiner Endgültigkeit, mit dem klaren Schnitt, mit dem es seine Gedanken auf einen Schlag zum Erliegen brachte, und die schreienden Stimmen verstummen ließ.
Nein.
Noch war er nicht tot.
Noch war er hier, zwischen dem schwarzen Tor und Sauron.
Es war noch nicht vorbei.
Er würde kämpfen bis zum Ende.
Er war Daenor Chelhathol.
Er war der Kriegsherr von Angband.
Er war das Schattenfeuer.
Und er würde sich nicht der Verzweiflung hingeben.
Solange sie kämpften, waren sie nicht besiegt.
Gnadenloser Zorn brandete durch ihn hindurch.
Beseelt von seiner lodernden Kraft streckte Daenor die Hand aus.
Nein.
Seine Finger schlossen sich um Nauring.
Doch Sauron, erfüllt von Triumpf und der Vorfreude auf das Gemetzel, das er anrichten würde, hatte sich bereits wieder ein paar Schritte zurückgezogen.
Hatte weitergeredet, seinen Hohn fortgeführt.
Er bemerkte nicht, wie sich Daenors Verzweiflung zu Hass wandelte, ihn mit seinem tosenden, eisigen Feuer erfüllte, bis jede Faser seines Körpers davon zehrte.
Bis das Eis brannte.
Er spürte den kompromisslosen Stahl in seinen Händen, und nun endlich hob er den Blick zu Sauron, der ihm längst wieder den Rücken zugekehrt hatte, der am Abgrund der Hölle stand und seine Spottrede führte.
"Ich werde es genießen, sie leiden zu sehen. Jeden einzelnen von ihnen. Ich werde-"
"NEIN!"
Er schrie dieses Wort mit Geist und Stimme, mit jeder Faser seines Wesens, die in ihm loderte.
Nauring in der Hand, Schmerz und Blutfluss ignorierend, stieß er sich auf die Beine, und er wusste nicht, welche Macht ihn dort hielt, welche Macht ihn sein Schwert umfassen und ihn auf Sauron zustürmen ließ, während er all seinen Hass, all seinen Schmerz und den Grund seiner zerfetzten Seele aus sich herausschrie.
Doch Sauron, so siegessicher, hatte den Angriff nicht kommen sehen.
Der Ring mochte ihm mehr Macht verleihen, als er jemals besessen hatte, doch diese Macht war winzig neben seiner Grenzenlosen Arroganz.
Er fuhr zu dem Elben herum, doch selbst mit der Kraft des Rings war er nicht schnell genug, dem frontalen Angriff Daenors zu entkommen.
Sein Schrei zerriss die heiße Luft, als Naurings uralte Klinge durch sein Fleisch schnitt und es in einem geschwungenen Bogen wieder verließ.
Schwarzes Blut sprudelte hervor, vermischte sich auf dem Boden mit dem roten, das aus Daenors eigener Wunde lief.
Daenor war es egal.
Doch Sauron starrte auf seinen abgetrennten linken Arm, auf den Ring der Macht, der einmal daran gesteckt hatte, und jetzt in die Flammen unter ihnen stürzten.
Daenor hatte ihn abgeschlagen.
Der Spott und der Sieg wichen plötzlich Entsetzen.
Er sah den Schlag nicht mehr kommen.
Konnte sich nicht einmal wehren, als sich Nauring tief in seine Brust bohrte, die Rüstung zerfetzte als wäre sie Papier.
Ungläubig hob er den Kopf, löste ihn los von seinem Lebenswerk, sah zurück zu seinem Gegner.
Und blickte in die Augen von Daenor Chelhathol, die vor Hass und Zorn loderten - doch zum ersten Mal war dieses Feuer nicht dunkel sondern gleißend und verheerend wie ein glühender Stern.
Dies war der wahre Zorn der Eisklinge, dies war das volle Ausmaß der wütenden Macht, die Morgoth schon bei ihrer ersten Begegnung in Daenor gesehen hatte.
"Nein," flüsterte der Kriegsherr, als er Sauron zurückdrängte, der nicht mehr imstande war, sich zu wehren.
Der Ring war fort und er riss Sauron mit sich hinab.
"Du wirst sie nicht anrühren, Verräter. Niemals. Du wirst sie mir kein zweites Mal nehmen."
Seine Augen weiteten sich, doch es sollte das letzte gewesen sein, das er jemals gehört hatte.
Daenor stieß zu und plötzlich war der Boden unter Sauron zu Ende.
Plötzlich glitt Nauring aus ihm heraus und er fiel.
Mitten hinein in sein Feuer, zu dem Ring, auf dass sie gemeinsam zugrunde gingen.
Über ihm verließ Daenor die wundersame Kraft, die ihn auf den Beinen gehalten hatte und er brach auf die Knie.
Ungläubig blickte er in das Flammeninferno unter ihm, als sich der geschmolzene Stein aufbäumte, um zu verschlingen, was hier erschaffen worden war.
Um alles hier zu verschlingen.
Die Wände um ihn erbebten und Risse zogen sich durch den Stein.
Doch Daenor verspürte keine Angst mehr, keinen Triumpf.
Er spürte den Schmerz nicht mehr. Schlaf kroch in seine Glieder, ein tiefer, so von Vollkommenheit erfüllter Friede, als die schreienden Stimmen seiner Vergangenheit langsam verstummten und Ruhe fanden.
All diese Stimmen, die ihn so lange heimgesucht hatten.
Sie alle verblassten, eine nach der anderen, zu alten Erinnerungen, die er tief in seinem Herzen bewahrte.
All diese Stimmen, bis auf eine.
Eine, die sanft war, und die ihn forttragen wollte, an einen Ort fern von all dem Leid.
Lass los...flüsterte diese Stimme tief in ihm, Es ist getan...Lass los. Du wirst nicht tief fallen...
Doch er konnte es nicht.
Daenor konnte nicht gehen.
Etwas hielt ihn davon ab, und sein Blick wanderte zurück zu dem Ausgang des Berges, der so nah schien und doch so unerreichbar.
Er wollte zurück zu seinen Männern, seinen Freunden, zu denen, für die er alles aufs Spiel gesetzt hatte.
Er wollte hier nicht sterben.
Er wollte nicht allein sein.
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