Kapitel 57 | Das Banner der Eisklinge - Teil 2

Pelargir
Am Abend vor dem Treffen

"Daenor?", fragte Eonwe, als er auf die Hafenmauer von Pelargir hinaustrat.
Der Elb stand dort an der verwitterten Brüstung, der salzige Wind zerrte an seinen Haaren und seiner Kleidung.
Doch anders als damals in Nurn stand er nun aufrecht und sicher an der Mauer, er war nicht hier, um seine Sorgen zu ertränken.
Nein, seine schwarz-silbernen Augen waren vollkommen klar und erfüllt von etwas wie berechnender Nachdenklichkeit, als Daenor ihm den Kopf zuwandte.
Vermutlich hatte er ihn längst gehört.

Eonwe trat neben den Kriegsherrn - denn genau das war er in diesem Moment.
Ein Kriegsherr, der seinen Plan durchging, immer und immer wieder, der Dinge in Erwägung zog und verwarf, die anderen gar nicht in den Sinn gekommen wären.

"Daenor", setzte Eonwe an und sog einen tiefen Atemzug des salzigen Meerwindes ein, um seine Nerven zu beruhigen,
"Was genau hast du vor?",wollte er wissen und musterte den Mann, den er einst Freund und Bruder genannt hatte, forschend.
Viel von Daenors Feindseligkeit gegenüber den beiden Maiar war in den letzten Wochen und Tagen verschwunden, doch das Vertrauen, das einst zwischen ihnen geherrscht hatte, würde niemals wieder entstehen.
Es war lange fort, war ertrunken in Unmengen von Blut.

Verbündeter.
Ja, dieser Ausdruck war passend.
"Gehen wir einmal davon aus, dass dieses Treffen so verläuft, wie wir es wünschen", begann Daenor nun endlich, während seine Hand an einer losen Schnalle von Naurings Schwertgehänge zugange war,
"Dann hat Aragorn dem Plan zugestimmt und unser Heer wird schlagkräftig genug sein.
Wenn dies eintritt, und darauf baue ich, gehe ich nach Mordor."

Eonwe blinzelte überrascht.
"Warum solltest du-"
"Ich muss zurück", unterbrach ihn Daenor, während er seine Waffengurte richtete.
"Die Menschen hier haben Asrán und die Kommandanten von Gondor. Ich werde hier nicht gebraucht."
Er sah zu ihm auf.
"In Mordor schon."

Eonwe trat einen Schritt vor.
"Daenor", begann er, und er konnte einen Anflug von Sorge nicht aus seiner Stimme halten. Irgendetwas stimmte nicht. Er verschwieg zu viel seines Plans - und Eonwe war nicht der Einzige, der es bemerkte.
"Was genau hast du vor? Was willst du tun? Die Orks haben Gorog, um sie -"

"Vertraust du mir, Eonwe?", schnitt Daenor ihm erneut das Wort ab und sah ihm forschend in die Augen.
Vertraust du mir.
Er stellte ihm diese Frage wirklich.
Ihm, den die Valar geschickt hatten, um ihn zu töten.
Er, der Eonwe schon mehr als einmal fast getötet hätte.
Doch da lag kein Spott in dieser Frage, in seinen Augen.
Daenor meinte es absolut ernst.

"Was?"
Warum fragt er das? Warum fragt er mich das jetzt?
"Vertraust du mir?"
Daenors Stimme war ruhig, als er sich Eonwe nun endlich vollständig zuwandte, und es lag ein seltsamer Tonfall darin.
Ein Tonfall, der keinen Widerspruch mehr zuließ, der zeigte, dass die Entscheidungen bereits unwiderruflich gefällt worden waren.
Und die Frage des Vertrauens war die Frage, ob Eonwe an ihm zweifelte.
An ihm, an seinen Fähigkeiten...
An seinem Versprechen, nach Valinor zurückzukehren.
Und gleichzeitig...gleichzeitig stand da etwas in seinen Augen, das tatsächlich nach Vertrauen zu fragen schien.
Nach Glauben.

Der Maia zögerte, und die Miene des Elben wurden eine Spur wärmer.
"Er wird fallen, Eonwe. Ich weiß, was ich tue", sagte er, "Ich werde nicht fliehen - ich schwöre es dir. Aber dafür musst du mir vertrauen."
Eonwe erwiderte seinen Blick.
Daenor hatte immer und immer wieder seine Grenzen überschritten, nur um sie so weit zu bringen.
Er war bereit, alles für sie zu geben.

Der Maia nickte.
"Ich vertraue dir, Daenor."

~

Sie waren tatsächlich gekommen.
Sie alle.
Eonwe sah zu den glänzenden Reihen hinauf, die, mit gezogenen Klingen und Daenors wehendem Schwert zwischen Khand und Gondor, auf die Orks unter dem flammenden Auge zupreschten.

Diese hatten ihre Waffen erhoben, blickten hektisch hin und her, die zuvor so lodernde Mordlust und Siegessicherheit wich Panik und Wut.
Sie wussten nicht mehr, wer Freund war und wer Feind, sie wussten nicht, ob die Orks, die das blaue Schwert nun offen trugen, die einzigen waren, die sich gegen sie gewandt hatten.

Ein weiterer, schneidender, zweistimmiger Hornstoß riss Eonwe aus seiner Starre, und im nächsten Moment brach plötzlich ein Ork Blut spuckend vor ihm zusammen.

Über ihm stand ein Gorog, von dessen  Gleve das frische, schwarze Blut troff, das Zeichen des Blauen Schwertes zog sich in groben Strichen quer über seine Brust.
Seine gelben Augen trafen Eonwes, ein dreckiges Grinsen enthüllte seine gelben Fangzähne.
"Warum so überrascht?", lachte er dreckig.

Und dann brach die Reiterei in das Heer hinein.
Eonwe wusste nicht, durch welche geniale Anordnung es Daenor geschafft hatte, dass seine eigenen Leute von diesem tödlichen Ansturm verschont blieben, doch als ein anderer Hornklang über die Ebene schallte, dessen Ton ihn eindeutig als der eines Orkhorns auswies, war klar, dass ihre orkischen Verbündeten unversehrt waren.

Neben ihm riss Vadrion seine Axt in die Luft und stieß einen wilden Schrei aus, bevor er sich ebenfalls ins Getümmel stürzte.
Er war der erste von ihnen allen, der erste, der seine Überraschung verdrängte und sich Seite an Seite mit ihren Verbündeten dem Kampf zu wandte - denn für ihn war es nie eine Überraschung gewesen.

Eonwe packte Veanië und spürte neue Kraft in seinen Adern.
Daenor hatte ihn um Vertrauen gebeten, und nun bewies er, dass es sich bezahlt gemacht hatte.
Und als der Maia sich nun neben den Menschen und den Orks in die Schlacht stürzte, da fühlte er zum ersten Mal etwas wie wahre Gemeinschaft und geteilten Kampfgeist.

Veaniës Klinge bohrte sich in den Hals eines Orks, während ihm auf seiner rechten Seite Vadrion Deckung gab.
Ja - zum ersten Mal seit Beginn dieser Mission sah er in den Maia einen wirklichen Gefährten.

Sie alle hatten nur ein Ziel, hatten einen Feind.
Und Daenor hatte es geschafft, eine verzweifelte Situation zu ihren Gunsten zu wenden.
Hatte es geschafft eine überwältigende Übermacht so aus dem Konzept zu bringen, dass ihre Stärke brach.
Dass sie gegen drei Fronten standen.

Doch dann, als ihm dieser Gedanke kam, als er einem weiteren Ork den Tod brachte, fiel ihm auf, dass er die echte Eisklinge nicht sehen konnte.
Trotz all dem Getümmel, dem Geschrei, dem Blut...
Daenor war groß.
Und Nauring ein Leuchtfeuer, das nicht zu übersehen war.
Das selbst in dem tosenden Chaos von Angbands Vernichtung nicht verloschen war.

Eonwe konnte sogar Asrán ausmachen, der von seinem Pferd abgesprungen war, und mit gezogenen Messern auf die Orks losging, Karíl dicht hinter ihm.
Gorog, die anderen Nurnenorks, die anderen Anführer...sie alle waren hier.
Doch der Elb, der sie alle hier unter seinem Banner vereint hatte...
Vertraust du mir.

In dem Maia regte sich ein Verdacht, als sich die Szene ein weiteres Mal vor ihm abspielte.
Er bemerkte den Ork nicht, der hinter ihm ausholte und ihn nur deshalb nicht traf, weil Aragorn aus dem Nichts an seine Seite sprang und ihn niederstach.
"Eonwe!", rief der Thronerbe und rannte zu ihm, "Was ist los?"

Eonwe drehte den Kopf zu ihm.
"Er ist nicht hier", sagte er tonlos.
Der Mensch starrte ihn an, dann begriff er.
Und da sah Eonwe in seinen Augen etwas aufblitzen, etwas das Schmerz, etwas das Schuld hätte sein können, und etwas in ihm zog sich zusammen, als er zu einer Erkenntnis kam.
Aragorn hatte es gewusst.

Daenors Präsens war nicht die einzige, die fehlte.
Hatte er zuvor seinen Geist verschlossen gehalten, war blockiert gewesen durch Angst, durch Wut, durch Verzweiflung, so wagte er es nun endlich, sich vorzutasten und seinen Verdacht zu bestätigen.
Er hätte nie gedacht, er könnte diese erdrückende, eisige Präsens des großen Täuschers übersehen, doch ihre Abwesenheit hätte ebenso schreiend sein müssen.

Sauron hätte so eine Wendung der Ereignisse niemals von der Ferne aus betrachtet, niemals zugelassen, dass es so weit kam.
Nicht jetzt, da er den Ring und seine Macht zurückerlangt hatte.
Doch der Schatten seines Geistes war weit entfernt, dem Geschehen hier gar nicht zugewandt.
Er hat gewusst, dass Daenor noch lebte...
Er widmete sich etwas wichtigerem.
Und überließ sein gesamtes Heer dem Chaos, das ein fehlender Anführer, das fehlende Stärke hinterließ.
Überließ ihnen ein ebenes Feld.

Eonwe bekam die Schlacht um sich gar nicht richtig mit, als ihm die Wucht dieser Erkenntnis den Atem nahm.
Als ihm klar wurde, was Daenor für sie tat, während in seinem Kopf ein einziger Satz pulsierte:

Vertraust du mir.

Und dann wurde ihm endlich klar, was Daenor damit gemeint hatte.
Wenn du mir vertraust, dann lass mich gehen. Lass mich tun, was ich tun muss.
Ich kann ihn besiegen.
Ich kann euch den Sieg garantieren.
Erst jetzt, mit dieser Realisation, war Eonwe in der Lage zu aktzeptieren, zu verstehen, was ihm seine Sinne längst zeigten.

Warum Daenor nicht hier war.
Ebensowenig wie Sauron.

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