Kapitel 50 | Kampf
"Aargh!"
Meras warf den Kopf zurück und biss die Zähne zusammen, so fest, dass jede einzelne Sehne in seinem Hals zu sehen war.
Sarodis sah auf.
"Ganz ruhig", sagte er leise, vielleicht so sanft, wie ihn nie jemand anderes hatte reden hören, "Ich bin gleich fertig."
"Das hast du gerade eben auch schon gesagt!"
"Ich beeile mich", versprach der Heiler und wandte sich wieder Meras' Bein zu.
Als die Nazgûl gekommen waren, war es zu einem Kampf gekommen. Nein, kein Kampf.
Ein Gemetzel.
Denn mit ihnen war eine ganze Kompanie über Nurn hergefallen, nicht nur Orks, die nicht erkannten, wofür man sie benutzte, sondern auch Haradrhim, die nicht in Minas Tirith gekämpft hatten.
Sarodis hatte versucht, mit ihnen zu reden, ihnen weißzumachen, dass keiner von ihnen jemals Verrat an Mordor begehen würde - doch sie hatten ihm gar nicht zugehört.
Es war, als wüssten sie tatsächlich etwas, als hätten sie eine Information erhalten, die sie sicher sein ließ...
Waren sie schon in Pelargir gewesen?
Hatten sie Asrán...?
Der Heiler schüttelte den Kopf und wandte sich wieder Meras zu, der vor ihm die Zähne zusammenbiss.
Obwohl sie sich gewehrt hatten, und obwohl der Befehl der Nazgûl offensichtlich gelautet hatte, die Verräter lebend gefangen zu nehmen, waren viele gefallen und noch mehr verletzt - wie Meras, der nun vor ihm saß, mit einer Pfeilwunde in der linken Wade, für deren Versorgung ihm in der Zelle, in der sie beide saßen, schlichtweg die Mittel fehlten.
Er verband die Wunde mit Streifen des Umhangs, den Meras getragen hatte, nachdem er sie zuvor notdürftig ausgewaschen hatte. Sarodis hoffte nur, dass Meras' junger Körper stark genug war, um damit umzugehen.
"So",meinte er dann, "Das müsste -"
Er wurde von einem rauen Husten unterbrochen, das sich in seiner Kehle nach oben arbeitete.
Er hatte sich gestern eingestellt und wurde immer hartnäckiger.
Der Heiler kannte die Risiken, die damit einhergingen, vor allem im Anbetracht der Tatsache, dass er selbst nicht mehr der jüngste war, doch er ließ sich nichts anmerken.
Nicht vor Meras.
Dieser sah ihn besorgt an.
Nach fast zehn Jahren, in denen er Sarodis nun kannte, hatte er schon das ein oder andere über das Heilerhandwerk aufgeschnappt.
"Geht es dir gut?", fragte er und schien zu versuchen, das Zittern aus seiner Stimme zu halten, doch Sarodis kannte ihn zu lange und zu gut.
Der Ansatz eines schiefen Lächelns umspielte die Lippen des Heilers, und er umfasste den Unterarm des jungen Mannes in einer beruhigenden Geste.
"Du bist der mit dem Loch im Bein."
Meras erwiderte das Lächeln schwach, doch dann wandte er den Kopf ab und sah an die Wand, die im schwachen Licht nur schemenhaft zu erkennen war.
"Ich wusste immer, dass das gefährlich ist", flüsterte er plötzlich, "Immer. Auch neben der Rebellion. Wir haben Valinor infiltriert, zur Hölle nochmal. Und jetzt...ich hätte immer gedacht, ich könnte zumindest dann, wenn's brenzlig wird...vielleicht einmal den Helden spielen, wie du es immer nennst. Aber was die mit uns vorhaben..."
Er schluchzte auf einmal auf, und umklammerte den Arm des Heilers, suchte Halt in dem einzigen Fels, den er je in seinem Leben gehabt hatte.
"Sarodis", stieß er hervor, und Tränen schimmerten in seinen Augen, als er ihm den Kopf wieder zuwandte.
"Bitte. Ich will so nicht sterben."
Sarodis sagte nichts darauf, und Meras hätten beschwichtigende Lügen auch nicht geholfen.
Doch zum ersten Mal, seit sie nach Mordor gekommen waren, fühlte Sarodis einen Stich von Schuld.
Hätte er Meras nicht überzeugt, auf Asráns Angebot einzugehen, hätte er dafür gesorgt, dass der Rote Tod einen anderen Dieb fand...
Sarodis unterbrach seinen Gedankengang, als er Schritte auf dem Gang hörte, gepanzerte Schritte, die sowohl einem Menschen als auch einem Ork hätten gehören können.
Meras warf einen Blick zu der verschlossenen Tür, und Furcht stand in seinen Augen.
Hatte er am Anfang noch versucht, sie zu Verbergen, so verzerrte jetzt Todesangst sein Gesicht.
Sarodis legte ihm eine Hand auf die Schulter, eine letzte, verzweifelte Geste, um seinem Freund und Schützling zu zeigen, dass er nicht allein war.
Beinahe sanft schob er den jungen Mann hinter sich, als könnte er ihn dadurch irgendwie schützen.
Die Schritte stoppten.
Ein Schlüssel wurde gedreht.
Licht flutete in die Zelle hinein, und die beiden Männer blinzelten gegen die blendende Helligkeit.
Doch Sarodis wandte den Blick nicht ab.
Er hob den Kopf dorthin, wo er die Augen der Gestalt vermutete, die sich dort vor dem Licht abzeichnete.
Er hatte sich dafür entschieden, sich gehen Mordor zu stellen und sein Land zu schützen.
Und das war es wert.
~
Als Daenor wieder zu sich kam, empfing ihn zu allererst ein dumpfer Schmerz, der, von seiner Schulter ausgehend, durch seinen ganzen Körper pulsierte.
Er stöhnte auf und öffnete vorsichtig die Augen.
Der Elb lag auf der Seite uns starrte die gegenüberliegende Wand an, die fast verborgen war durch einen Schleier aus Dämmerlicht.
Daenor fuhr hoch, erfüllt von der kurzen Panik, wieder in einer Zelle zu sein, doch dann erst bemerkte er, dass die Wand nicht gemauert war.
Dafür war sie zu uneben und zu rau.
Eine Höhle?
Wo zur Hölle bin ich?
Wie bin ich hierhergekommen?
Dann erst kristallisierte sich aus seinen diffusen Erinnerungen ein Satz heraus:
Ratte hat Verstecke, über ganz Mordor verteilt.
Ratte...
Sie mussten ihn hierhergetragen haben.
Stück für Stück kamen die Erinnerungen zurück, die Erinnerungen an den Höllenmarsch, den sein Körper nicht mehr verkraftet hatte.
Und die Nachrichten, die ihn erst dazu gebracht hatten, aufzugeben.
Schagrat ist tot...
Sarodis, Meras...all die anderen in Nurn...man wird sie um den Tod betteln lassen.
Und Pelargir? Was ist mit ihnen?
Daenor ballte die Hände zu Fäusten, grub die Finger in den Umhang, auf dem er gelegen hatte, eine dünne Schicht Stoff, die ihn vor der Kälte des Steinbodens anschirmte.
Da bemerkte er ein schwaches Schimmern zu seiner Rechten, und als er genauer hinsah, erkannte er Nauring.
Er betrachtete das Schwert, den gebrochenen Saphir, und spürte Selbstverachtung in sich hochsteigen.
Er verdiente diese Klinge nicht mehr.
Er hatte jedes Recht auf sie verwirkt.
Daenor lehnte den Kopf vorsichtig an die Wand, um sich nicht versehentlich den Wundschorf an seinem Hinterkopf wieder aufzureißen.
Der Elb wusste, dass er aufstehen musste, doch er fühlte sich, als wären seine Knochen aus Blei, und würden ihn zu Boden drücken.
Er konnte nicht mehr.
Auf seinen Schultern lastete das Gewicht zu vieler Tode.
Er schloss die Augen, und jetzt, da dieser Sinn augeblendet war, nahmen seine Ohren plötzlich Stimmen war.
Er konzentrierte sich darauf und erkannte, dass sie gar nicht weit entfernt waren - vermutlich war das hier ein ganzes Höhlensystem.
"Du kannst mir nicht erzählen, dass der immer noch bewusstlos ist!", rief auf einmal eine orkische Stimme aus, "Der liegt jetzt da schon seit fast zwei Tagen! Atmet er überhaupt noch?"
"Hast du mal gesehen, wie er aussieht? Karûk, der ist schlicht und ergreifend kollabiert", erklang eine andere Stimme, die dieses Mal ganz klar menschlich war.
Karûk...
Der Name sagte ihm etwas, und als Daenor in seinem Kopf kramte, erinnerte er sich an den Ork, den sie auf der Gorgoroth getroffen hatten.
Tod den Neun.
Ja, das war seine Parole gewesen.
Sie sprachen über ihn, und Daenor fragte sich, ob er zu ihnen gehen sollte, obgleich er immer noch nicht wusste, wie er ihnen jemals wieder in die Augen sehen sollte.
Er hatte schon die Hand in alter Gewohnheit nach Nauring ausgestreckt, als er eine neue Stimme hörte.
"Und wenn schon", mischte sich plötzlich ein zweiter Ork ein, "Soll er doch nicht mehr aufwachen! Wegen ihm sind wir doch überhaupt erst hier."
Die Worte trafen ihn, als hätte ihm jemand ein Messer in die Brust gerammt, und Daenor zog die Hand zuürck.
Er hatte recht.
Ja, es war seine Schuld, und das wusste er auch - doch es jemanden sagen zu hören war noch viel schlimmer.
Es half ihm auch nicht, als Ragga, dessen Stimme er erkannte, gereizt einwarf:
"Versuch du mal, drei schwarzen Reitern davonzulaufen. Da möchte ich dich mal sehen, Nukrash. Du wärst mit diesem Ring doch gar nicht so weit gekommen."
"Ach tatsächlich?", keifte Nukrash zurück, "Und was sollen wir jetzt deiner Meinung nach tun, Besserwisser?"
Ragga schnaubte.
"Wir warten, bis sie Eisklinge aufwacht, und hören uns das an, was er vorschlägt."
"Das, was er vorschlägt?", äffte Karûk, "Damit er uns in die nächste Selbstmordmission führt, oder was?"
Ragga keifte etwas zurück, das Daenor nicht mehr wahrnahm.
Warum stritten sie denn noch?
Karûk und Nukrash hatten doch recht.
Das Stimmengewirr wurde lauter und lauter...
"MAUL HALTEN, IHR VERDAMMTEN MADEN", brüllte Ratte plötzlich, der die ganze Zeit über still gewesen war, in einer Lautstärke, die seinem Körperbau gar nicht möglich sein sollte.
Die Orks verstummten, nicht weniger überrascht als Daenor, den der Schrei aus seinen Vorwürfen riss.
"Was glaubt ihr eigentlich, was ihr grade tut?",fuhr er fort, nur etwas leiser als gerade zuvor,
"Wir können das ohne ihn, sagt ihr! Ja, machen wir es auf unsere Art!", schrie er, und seine Stimme troff vor Sarkasmus, "Greifen wir zu den Waffen, stürmen wir Barad-dûr, und lassen uns alle abschlachten!"
Daenor gab ihm bei jedem einzelnen Wort unterbewusst recht, doch sein aktiver Verstand verdaute gerade erst, was Ratte tat.
"Denkt ihr eigentlich bis hinter eure Schwertspitze? Ist euch eigentlich auch nur ansatzweise klar, wie lächerlich ihr euch grade macht? Ist hier ein einziger, der so weit denken kann?"
Er holte tief Luft, und in dieser kurzen Pause konnte Daenor die allgemeine Überraschung, selbst durch die Wände aus Stein, die sie trennte, fast mit Händen greifen - genauso, wie das Gefühl, dass Ratte recht hatte.
"Ja. Ja, es gibt einen. Einen, der uns noch retten kann", fuhr er fort, und Daenor versteifte sicg.
"An alle, die in Pelargir dabei waren: Wer weiß nicht, dass das ein Sieg fast ohne Verluste war? Wer weiß nicht, wie gut es geplant war?
Er ist unsere beste Chance.
Nein. Er ist unsere einzige Chance. Also hört ihm verdammt noch mal zu."
Ratte verstummte, und mit ihm plötzlich auch jedes andere Geräusch. Daenor konnte beinahe sehen, wie sie alle den kleinen Ork anstarrten, eie Ratte sich wieder in die Schatten zurückzog in denen er wahrscheinlich gestanden hatte.
Daenor schüttelte langsam den Kopf.
Er hatte Ratte vollkommen falsch eingeschätzt.
Daenor hatte sich nie wirklich über die Beweggründe des Orks Gedanken gemacht, denn es hatte ihn nicht im mindesten gewundert, dass Ratte zu ihnen gehörte.
Warum hatte es das nicht getan?
Er hatte Ratte nie für mehr gesehen, als den trockenen, talentierten Spion, der allerdings an nichts wirklich Anteil nahm.
Ersr jetzt wurde ihm klar, dass das nicht stimmte.
Ratte war ein Ork ohne Namen.
Er war ausgemustert worden, und hatte es doch irgendwie geschafft, sich über so viel Umwege an die Spitze zu hangeln.
Er hatte mehr Grund als die meisten, Sauron zu hassen. Er stand fast in direktem Kontakt zu ihm und wusste aus erster Hand, wie wenig sein Wert in dessen Augen war.
Ratte hatte sein Leben auf Knien verbracht - und würde jetzt, da er aufgestanden war, niemals dorthin zurückkehren.
Und er stellte sich so vehement auf Daenors Seite, weil er es genauso meinte, wie er es gesagt hatte: Daenor war der einzige Anführer, den sie jetzt noch hatten. Und seine einzige Chance auf ein Leben in Würde.
Ratte, erkannte er, hoffte auf ihn.
Er hatte kein Recht, ihm das zu verwehren.
Er hatte kein Recht, sie ihm Stich zu lassen.
Ohne es bewusst wahrzunehmen, griff er nach Nauring.
Und ohne sein eigenes Zutun stand er auf, schnallte sich die Waffen um, ignorierte den Schmerz, der in seiner Schulter pulsierte.
Langsam verließ er die Höhlennische, in der er gelegen hatte und betrat ein Netz aus Tunneln, das er gar nicht richtig wahrnahm, während er den einzelnen Stimmen folgte, die Rattes Aufruhr zurückgelassen hatte.
Ohne ein Wort betrat er die große Höhle, in die ihn sein Gehör geführt hatte, in der Dutzende Orks und Menschen saßen und standen.
Ratte lehnte in einer Ecke, und bemerkte ihn als erster, und er nickte ihm zu, als wüsste er, dass er zugehört hatte.
Daenor erwiderte das Nicken, während auch alle anderen seine Anwesenheit bemerkten.
Er ließ sie gar nicht zu Wort kommen.
"Ich weiß, dass es meine Schuld ist, was passiert ist", begann er ruhig, "Und ich weiß, dass viele von euch keinen Sinn mehr sehen, zu kämpfen. Oder keinen Weg. Sei es, wie es will.
Ich sage euch, wenn wir leben, wenn wir siegen wollen, dann müssen wir kämpfen. Es wird Niederlagen geben. Es wird Tote geben.
Aber wir müssen es versuchen."
Er ließ den Blick durch die Menge schweifen, und er sah nicht wirklich sie.
Er sah seine Männer, als er ihnen gesagt hatte, wie schlecht es stand. Als er auch sie gebeten hatte, zumindest kämpfend unterzugehen.
"Wenn ihr kein Vertrauen mehr in mich habt, verstehe ich das. Geht, wenn ihr gehen wollt, mischt euch unter Saurons Sklaven und führt ein Leben in Ansgt.
Oder vertraut mir ein letztes Mal, und ich verspreche euch, ich werde mit euch siegen oder mit euch untergehen."
Die Orks und Menschen sahen sich zögernd an, und die Feindseligkeit ließ spürbar nach.
Ragga stand langsam auf, und trat vor ihn hin.
"Was schlägst du vor?"
Daenor legte eine Hand auf Nauring, und fasste einen Entschluss.
Sie brauchten einen Sieg.
"Wir holen uns Nurn zurück."
Sagte er kalt und fest.
Dann hob er den Kopf und sah Karûk in die Augen, in denen immer noch Feindseligkeit und Skepsis stand.
"Tod den Neun."
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