Kapitel 48 | Steh auf

Die Welt bestand aus Dunkelheit.
Sie umgab ihn, hüllte ihn ein.
Es gab nichts als diese Leere, die seinen Geist und seinen Blick erfüllte.
Es gab keine Erinnerung, keine Gedanken, kein Gefühl.
Er hatte keinen Namen, war nichts und niemand.

Er wusste nicht, wo er war, warum oder wie er hierhergekommen war.
Da war nur dieses schleichende Gefühl, diese flüsternde Stimme, die ihm sagte, dass er nicht dort war, wo er sein sollte.
Aber er wusste nicht, warum.

Er lag - lag auf Stein, und wäre er zu fühlen imstande gewesen, er hätte die Kälte gespürt, die sich mit kriechenden Fängen um ihn schlang.
Vorsichtig versuchte er, sich zu bewegen.
Er konnte es nicht.
Vielleicht bin ich gelähmt,  dachte irgendein noch arbeitender Teil seines Geistes, oder vielleicht tot.

Der Gedanke hatte etwas seltsam tröstliches.
Nein. Etwas sagte ihm, dass nach seinem Tod etwas anderes geschehen müsste...
Aber vielleicht lag er ja auf dem Boden der Leere.

Dann kehrten langsam die Erinnerungen wieder,  bruchstückhaft und verzerrt.
Er suchte nicht danach, schreckte davor zurück, vor der schrecklichen Wahrheit, der er sich dann würde stellen müssen.
Doch sie kamen, fluteten gnadenlos in seinen benebelten Geist, zeigten ihm, wer er gewesen war, was er getan hatte.

Daenor.
Sein Name war Daenor - Schattenfeuer.

Mein Feuer ist erloschen, dachte er verzweifelt,  ich habe versagt. Sauron hat den Ring. Ich habe versagt. Wieder einmal.
Bitterkeit schnürte ihm die Kehle zu, als sich das volle Ausmaß seiner Schuld vor seinem inneren Auge ausbreitete.
All diese Hoffnungen. All dieser Kampfgeist.
Erloschen, wie eine Kerzenflamme im Sturm.
Warum hatte er eigentlich jemals geglaubt, diese Leute anführen, diese Aufgabe vollbringen zu können?

Daenor wusste nicht, wie lange er so da lag, während ihm das Ausmaß dieser Katastrophe erst vollständig bewusst wurde.
Und während die letzten Bruchstücke seines Geistes wieder an ihren Platz rückten, kehrte auch langsam sein Empfinden zurück.

Noch immer spürte Daenor seinen Körper nicht, doch er fühlte die Härte des Steins unter ihm, und bemerkte erst jetzt, wie kalt ihm eigentlich war.
Erneut versuchte er, sich aufzurichten, und diesmal gelang es ihm endlich, den Kopf zu drehen.

Gefühl flutete in ihn zurück, hauptsächlich Schmerz, doch auch die nagende Kälte, die sich durch ihn gefressen hatte.
Ein Stöhnen entrang sich seiner Kehle, als er schließlich die Augen aufschlug.

Daenor lag auf dem Rücken, den Kopf zur Seite gedreht, und blickte auf hohe Felswände, die zu beiden Seiten einen schmalen, unebnen Gang säumten.
Der Grund der Schlucht, in die der Nazgûl ihn gestoßen hatte.

Er hatte den Sturz überlebt.
Er war tatsächlich noch am Leben.

Langsam bewegte er sich, versuchte, sich mit den Ellbogen aufzustemmen, als ein stechender Schmerz in seiner linken Schulter aufflammte.
Stöhnend sank Daenor die paar Zentimeter zurück, die er geschafft hatte, und tastete nach seinem Schultergelenk.
Seine Finger folgten seiner Schulter vom Hals aus abwärts und stießen plötzlich auf eine Erhebung - sein Schultergelenk lag viel weiter oben, als es sollte, Sehnen und Bänder spannten sich über das gesunde Maß unter der Haut.

Daenor biss die Zähne zusammen.
Es war nicht das erste Mal, dass er sich den Arm ausgerenkt hatte.
Aber, verdammt, er vergaß jedes Mal wieder, wie schmerzhaft das war.
Notgedrungen verlagerte er sein volles Gewicht auf seinen rechten Arm und schob sich in ruckartigen Bewegungen weiter zu der Steilwand.
Mit jeder Bewegung flammte Schmerz durch ihn hindurch.

Schwer atmend überwand er die kurze Distanz zu der Felswand, und griff mit seinem gesunden Arm nach oben.
Seine Finger fanden eine Kante und er zog sich stöhnend nach oben, Stück für Stück, bis er schließlich, am Ende seiner Kräfte, aufrecht saß und an die gegenüberliegende Felswand starrte.
Ein kleiner, bedeutungsloser Sieg.
Aber ein Sieg.

Nach Luft ringend lehnte er den Kopf an den Stein und wappnete sich gegen den Schmerz.
Dann ballte er die linke Hand zur Faust, und bewegte seinen Arm mithilfe des Rechten vor und zurück.
Tränen traten ihm in die Augen, als seine Schulter mit einem Ruck in das Gelenk zurücksprang.

Vorsichtig hob Daenor den linken Arm.
Er kam bis auf Schulterhöhe, bevor ihn der Schmerz zwang, aufzuhören, doch jetzt konnte er ihn zumindest benutzen.
Eine Weile saß er da und sammelte seine wenigen Kräfte, die ihm noch geblieben waren, dann krallte er beide Hände in die Felswand und zog die Beine unter sich.
Auf halber Höhe zitterten sie unter seinem vollen Gewicht, doch er zog sich verbissen nach oben.

Und dann stand er.

An die Felswand gelehnt, zitternd vor Kälte, Schmerz und absoluter Erschöpfung.
Doch er stand.
Daenor biss die Zähne zusammen, und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen.
Und dann noch einen.
Los. Komm schon.
Er machte einen weiteren Schritt, doch schon jetzt verschwamm seine Sicht und seine Lunge schrie nach Luft.

Sein Blick wanderte die Felswand hinauf, die steilen Hänge aus Stein über ihm.
Das schaffe ich niemals.
Es war eine nüchterne Erkenntnis.
Selbst, wenn er es schaffte, zu stehen...
Er würde niemals in der Lage sein, diese Wand hochzuklettern.
Andererseits...was würde es mir bringen? Sauron...Sauron hat den Ring.
Und er weiß, dass ich ihn hatte.
Und damit, wurde ihm klar, wusste er auch, dass Nurn, und Asrán, und Schagrat bis zum Hals mit in der Sache steckten.
Er wird sie umbringen lassen.
Sie alle.
Bis zum. Letzten. Mann.
Und ich konnte sie nicht beschützen.
Das ist meine Schuld.

Seine Knie gaben unter ihm nach und er rutschte wieder zu Boden, doch dieses Mal gab er den Versuch auf, ein weiteres Mal aufzustehen.
Es war genau wie vor sechstausend Jahren, dachte er bitter.
All die Männer unter ihm hatten ihr Leben in seine Hände gelegt - und sie alle waren gestorben.
Und wie das letzte mal, wachte er selbst wieder auf, nur um festzustellen, dass er noch am Leben war.

Daenor lehnte den Kopf zurück an den Stein.
Was kümmerte es ihn jetzt noch, was geschah.
Sollte er doch einfach hier sterben.

~

Daenor wusste nicht, wie lange er dort gesessen hatte.
Er hatte Durst und fror erbärmlich, während langsamer, tiefsitzender Schmerz in seiner Schulter pulsierte.
Das war also die Art, wie er sterben würde.

Daenor hatte immer gedacht, er würde in der Schlacht sein Leben lassen, oder zumindest auf einem Richtblock.
Er hatte viele Arten des Todes als wahrscheinlich erachtet, aber sie alle waren schnell.
Und jetzt war er hier, sein Körper und Geist zu schwach um sich selbst zu retten, und wartete darauf, dass irgendetwas in ihm endlich aufgab und losließ.

Und während er da saß, ohne Zeitgefühl und vollkommen kraftlos, drangen plötzlich leise Schritte an sein Ohr, nur ein leises Scharren, als wehte der heiße, trockene Wind ein Blatt über den Stein, das durch irgendein Wunder seinen Weg in diese Wüste gefunden hatte.
Daenor dachte sich nichts dabei.
Er hatte gehört, dass manche Leute am Ende ihrer Kräfte halluzinierten - er bildete es sich bloß ein. Und selbst wenn nicht, dachte er, was sollte ihm denn jetzt noch passieren?

Doch die Schritte kamen näher und der Elb öffnete flackernd die Augen.
Eine Gestalt ragte über ihm auf - wobei aufragen nicht das richtige Wort war, denn die Person war nicht besonders groß - sie wirkte nur so, weil Daenor saß.
Es war ein Ork, dessen Umriss sich verschwommen über ihn abzeichnete, ein Ork, gehüllt in einen zerfetzten, ausgeblichenen Umhang...

"Dargash...?"
Es war nichts als eine Halluzination, die sein geschwächter Geist daherfaselte - warum sollte Dargash also nicht hier sein?
Warum sollte er nicht kommen, und ihn das letzte Stück des Wegs begleiten?

"Nein."
Die Stimme kam Daenor bekannt vor und er bemühte sich, die Verschwommenheit wegzublinzeln.
Erst da bemerkte er das vernarbte Gesicht, die Messer mit Ringknauf, die grimmigen schwarzen Augen.
"Ratte?"
Aber, wenn Ratte hier war...
Der Ork ging neben ihm in die Hocke, und Daenor spürte, wie er seinen Arm dabei streifte.
Wie er ihn streifte...
Er war hier.
Er war real.

Daenor keuchte überrascht auf, als sich diese Erkenntnis in ihm breit machte.
Ratte hatte ihn gefunden.
Wie auch immer er das geschafft hatte.
Dann kniff er die Augen zusammen und besah sich den Ork genauer.
Er wirkte müde und ausgezehrt, Blut bedeckte einen Teil seines Umhangs, sein Blick war gehetzt und gleichzeitig fast...enttäuscht.
Enttäuscht darüber, was er vorgefunden hatte?
Daenor konnte es ihm nicht verdenken.

Und er war bewaffnet...
Ratte setzte zu etwas an, doch bevor er ein Wort hervorbringen konnte, drehte Daenor den Kopf weg.
Er würde niemanden mehr enttäuschen.
"Tu mir den Gefallen", murmelte er und schloss die Augen halb, "Mach es schnell."

Ratte bewegte sich nicht.
Daenor wandte sich ihm wieder zu, nur um zu sehen, dass ihn der Ork immer noch anstarrte.
"Steh auf."
Es waren zwei Wörter, die über Lippen des Spähers kamen, und Daenor hatte ihn noch nie so ernst, so bestimmt reden hören.

Aber was er verlangte...
"Ich kann nicht."
"Du willst nicht", knurrte Ratte, "Ich habe es nicht lebend aus Barad-dûr geschafft, nur um dir jetzt zuzusehen, wie du verreckst! Steh auf!"
Daenor seufzte tief.
"Ratte", begann er langsam, "Sauron hat den Ring. Es ist vorbei. Was soll ich denn jetzt noch groß tun? Ich bin derjenige, der dafür verantwortlich ist."

"Und was hätten wir getan, wenn du nicht da gewesen wärst, mmh? Verdammt, der Plan war gut. War er wirklich. "
Ratte sah ihm in die Augen.
"Und wenn wir noch irgendeine verfluchte Chance haben, das hier irgendwie zu überstehen, dann hilf uns gefälligst dabei! Ich hab keine Lust, mich für den Rest meines Lebens zu verkriechen!"

Ich kann diesen Leuten doch nicht mehr in die Augen sehen. Was bin ich denn jetzt noch? Nichts als ein verdammter Narr. Was erwartet er eigentlich von mir?
Ich kann nicht mehr.
"Ratte...", setzte er an, doch der Ork ließ ihn nicht zu Wort kommen.

"Wir brauchen einen Anführer! Egal, wie schlecht es aussieht. Und du bist unsere beste - unsere einzige - Möglichkeit, verdammt! Jetzt steh auf!"
Plötzlich griff er nach hinten, Metall scharrte über den Boden...
"Nimm es und steh auf!"
Und plötzlich hielt er Daenors Schwertgurt in seinen Händen, Naurings Heft ihm zugewandt.
Daenor spürte, wie sich etwas in ihm so schmerzhaft zusammenzog, dass er glaubte, ersticken zu müssen.
Ratte hatte es gefunden...

Und erst dann sah er den Saphir.
Seine obere Hälfte fehlte vollständig, scharfkantige Zacken und Scherben zeichneten die Bruchstelle, auf der sich das Licht spiegelte wie in einem Maul voller Reißzähne.
Die untere Hälfte war noch da, doch durchzogen von Rissen, die ihre weißen Strahlen tief in sein Inneres sandten - nur noch zusammengehalten von der Spannung, die die stählernen Rippen des Knaufs auf den Stein ausübten.

Daenor keuchte leise auf.
Er hatte geglaubt, den Stein bersten zu hören, obwohl es ihm vollkommen unmöglich erschienen war...
Nauring war alles, was ihm von seinem früheren Leben geblieben war, und es lag hier vor ihm in Scherben.

Langsam griff er danach, schlang die Finger um den so vertrauten Griff.
"Wenn ich sterbe, dann ist es so", knurrte Ratte, "Aber nicht, ohne diesen Dreckskerlen ein Andenken zu hinterlassen."
Wenn wir sterben, dann sterben wir zumindest kämpfend. Aufrecht. Und knietief im Blut.
Die Erinnerung kam plötzlich, und mit erschreckender Klarheit - die Erinnerung daran, was er seinen Männern in Angband gesagt hatte.

Egal, wie schlecht es stand, egal wie verzweifelt man war - nichts war verheerender als ein Gegner, der nichts zu verlieren hatte.
Daenor blickte hinab auf die Klinge in seiner Hand, auf den geborstenen Edelstein.
Ratte hatte recht.
Sie würden sich nicht verkriechen.
Sie konnten es nicht.

Langsam hob er den Kopf zu dem Ork, und sein Blick wurde hart.
"Kämpfen wir."
Ein letztes Mal.

Mae Govannen!

Well, endlich mal ein Kapitel, auf das ihr nicht ein Zeitalter lang warten musstet.


Das Bild ist eine Illustration von Daenor, im Krieg des Zorns und jetzt.

LG m_r_480

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