Kapitel 47 | Schuld und Verrat
"Die Schlacht um Minas Tirith wurde verloren. Lazars Flotte wurde vollständig vernichtet. Es gibt Gerüchte, dass der Hexenkönig von Angmar selbst gefallen sei", zählte Asrán auf, während er nachdenklich in dem Ratszimmer von Pelargir auf und ab lief, "Das bedeutet, Mordors Macht wurde drastisch geschwächt - jetzt liegt alles in Daenors Händen."
Wenn er es schaffte, den Ring zu finden, zu vernichten, dann hätten sie gewonnen - nach all den Jahren sorgfältiger Planung war der Sieg plötzlich zum Greifen nah.
"Das bedeutet also, über das Schicksal unseres Volkes entscheidet einzig und allein dieser...dieser Kriegstreiber?", kam es plötzlich empört von Rodin, der Asrán gegenüberstand und ihn abschätzig musterte.
Fürst Rodin war ein Mann in Sarodis' Alter mit schwarz-braunem Haar und einem wieselartigen Gesicht, aus dem kleine, dunkle Augen voll verächtlichen Spottes herausstachen . Er war - sehr zu Asráns Überraschung - mit der khandrischen Verstärkung gekommen, obwohl er nicht zu den Leuten gehörte, die sich am Krieg beteiligten.
Asrán kannte ihn schon, seit er denken konnte.
Und er hasste ihn, seit er denken konnte.
"Ja", antwortete Asrán und zwang sich zur Ruhe - kaum hatte er gedacht, Lazar loszusein, tauchte der nächste Mistkerl auf.
Kurz warf er einen Blick auf Karíl, der neben ihm an der Wand stand. Der Schütze verzog keine Miene, doch Asrán kannte ihn.
Er wusste, dass er Rodin nicht weniger verachtete als Asrán selbst.
Dann zwang er sich, fortzufahren:
"Von uns allen hat er die besten Chancen. Ich vertraue ihm, und er vertraut mir."
Rodin schnaubte verächtlich..
"Das wundert mich nicht. Ihr umgebt Euch hier nur mit Mördern, Dieben,"
Er sah zu Karíl hinüber, nur ein schneller, aber äußerst vielsagender Blick.
"Deserteuren."
Der langhaarige Schütze zeigte keine Reaktion, zumindest nicht für jemand Fremden.
Doch Asrán sah das leichte schmäler werden seiner dunklen Augen, die Sehnen, die sich an Hals und Oberarmen leicht von der Haut abhoben, als er sie anspannte.
Kaum sichtbar für Rodin - selbst wenn er sich die Mühe gemacht hätte, ihn richtig anzusehen - doch Asrán kannte ihn zu lange und zu gut.
Er sah den Hass in diesen kleinen Bewegungen.
Den Zorn.
Alte, aber dafür umso heller brennende Emotionen, zurückgehalten allein von der Disziplin, die aus seiner Zeit als Soldat so tief verwurzelt war, dass sie vermutlich das einzige war, das Rodin gerade am Leben hielt.
"Diese Mörder und Deserteure sind der einzige Grund, warum Khand noch nicht von der Landkarte radiert wurde", knurrte Asrán, und wünschte sich im gleichen Moment, Daenor wäre hier.
Er hatte auch Lazar in seine Schranken gewießen - und hätte mit Rodin noch leichteres Spiel.
Aber Daenor war leider nicht hier.
Er hatte wichtigeres zu tun als einen arroganten Adligen.
Und es wurde Zeit, dass Asrán sich selber darum kümmerte.
"Ach tatsächlich?", Rodin legte den Kopf schief, und musterte Asrán von oben herab, wie er es immer getan hatte, "Bis jetzt hat sich nicht viel geändert."
"Wir haben zumindest den Mut zu kämpfen", kam es plötzlich von Karíl. Seine Stimme war kalt, aber bewundernswert ruhig, "Im Gegensatz zu Euch haben wir dazu beigetragen, dass wir nicht alle wie Schafe auf der Schlachtbank liegen."
Rodins Kopf schoss zu dem sonst so schweigsamen Schützen herum.
"Pass jetzt auf, was du sagst, oder-"
"Oder was?", zischte Karíl und erwiderte seinen Blick nicht weniger verächtlich, "Willst du mich auspeitschen lassen?"
Rodins Gesicht verzerrte sich vor zunehmender Wut, er hob eine Hand, öffnete den Mund-
"Es reicht!",
Rief Asrán, und schlug auf die Tischplatte.
"Wir haben genug Feinde! Wir können es uns jetzt nicht leisten, zu streiten! Was-"
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und ein junger Rhûn, der nicht viel älter als Meras war, kam schlitternd vor ihnen zum Stehen, das Gesicht verzerrt von blanker Angst.
"Aquin!", rief Asrán alamiert aus und war innerhalb eines Herzschlages bei ihm, "Was ist passiert? Sag schon!"
Aquin sah Asrán mit weit aufgerissen Augen an.
"Nazgûl! Sie...sie kommen!", keuchte er zwischen zwei Atemstößen.
Asrán fluchte.
"Wie viele?", drängte er, und unterdrückte seine eigene Angst.
Was, wenn Daenor es nicht geschafft hatte? Was...was, wenn sie Bescheid wussten?
Khand würde es niemals überstehen.
Aquin antwortete zuerst nicht, starrte ihn nur, angsterfüll an.
Asrán packte ihn an den Schultern.
"Wie viele?"
"Zwei!"
Asrán ließ ihn los und trat zurück.
Zwei? Dann war das keine dringende Botschaft. Das war eine Drohung - oder bereits deren Ausführung.
Ungläubig und schockiert drehte sich Asrán zu Karíl und Rodin um.
"Und was wollt Ihr jetzt tun?", fragte Rodin und schritt auf ihn zu.
Er war bleich und es schien wie ein Wunder, dass er nicht zitterte - und doch tat er sein Bestes, seine Angst hinter Wut zu verbergen.
"Was jetzt, Prinz Asrán?"
"Das werden wir dann sehen", knurrte Asrán, und bemühte sich, seine Angst und Wut unter Kontrolle zu halten.
Sollte Daenor wirkligh versagt haben, standen ihre Chancen plötzlich verschwindend gering...
"Wir sollten sie nicht warten lassen", murmelte Asrán und holte tief Luft, "Kommt."
Er wandte sich an Aquin.
"Sag den Männern, sie sollen auf den schlimmsten Fall bereit sein."
Der junge Mann nickte ängstlich.
Asrán nickte zurück.
Dann klopfte er Aquin auf die Schulter und schob sich an ihm vorbei, dicht gefolgt von Karíl.
Asrán wusste, dass er sich auf ihn verlassen konnte, und das schon lange nicht mehr nur deshalb, weil er ihm vor gut vier Jahren einen Begnadigungsbrief unter die Nase gehalten hatte.
Weitere Schritte ertönten, und Rodin folgte ihnen ebenfalls nach draußen.
Er versuchte immer noch, irgendwie den Starken zu spielen.
"Ihr braucht Eure Angst nicht zu verstecken. Sie werden sowieso nichts anderes erwarten."
Rodin drehte den Kopf zu ihm, in seinen Augen stand eine solche Mischung aus Überraschung und Unglauben, dass sie sogar seine Angst für eine kurze Zeit übertraf.
"Wie könnt Ihr jetzt so ruhig sein?"
Asrán blinzelte, als ihm erst jetzt klar wurde, wie gefasst und klar seine Stimme geklungen hatte, wie aufrecht er dastand, obwohl seine Hände feucht von kaltem Angstschweiß waren.
Rodin war anscheinend erst jetzt aufgefallen, dass der Mann, der da vor ihm stand, nichts mehr mit dem Jungen zu tun hatte, der vor mehr als neun Jahren Khand verlassen hatte.
Das hier war nicht der Prinz von Khand, der weder zum Krieger noch zum Anführer geboren worden war.
Das hier war der Rote Tod von Mordor, der gefürchtet und geachtet wurde.
Vielleicht habe ich auch einfach nur zu viel Zeit mit Chelhathol verbracht. Und er hat mit seinem seltsamen Desinteresse auf mich abgefärbt.
"Das ist nicht das erste Mal, dass ich Sauron ins Gesicht lüge", erwiderte er lediglich und legte eine Hand auf eins seiner Kampfmesser, das Messing des Ringknaufs lag glatt an seiner Handfläche.
Dann holte er tief Luft und trat hinaus in den Hof.
Die Fellbestien der Nazgûl waren im inneren Hof von Pelargir gelandet, dem Platz, der sich direkt vor der Veste befand - selbst wenn er hätte fliehen wollen, er hätte es nicht geschafft.
Aus der Nähe sahen die Biester noch furchterregender aus, als Asrán sie in Erinnerung hatte - doch sie waren nichts im Vergleich zu ihren Reitern.
Die Nazgûl, die Diener des Dunklen Herrschers, standen Seite an Seite vor ihren Reittieren, mitten auf dem Platz, wie dunkle, kalte, tödliche Schatten, die aufragten wie ein Grabmal.
Asrán drehte sich zu Rodin und Karíl um.
"Bleibt hier. Ich werde tuen, was ich kann."
Er senkte die Stimme, stellte jedoch sicher, nicht verdächtig zu wirken:
"Wenn das hier nicht so verläuft, wie ich hoffe, dann lauft."
Rodin schien nicht einmal in der Lage zu sein, zu reagieren - zu sehr entsetzte ihn der Anblick der Nazgûl, doch Karíls Augen wurden schmal.
"Ich bin direkt hinter dir. Egal, was passiert."
Asrán nickte nur dankbar, und drehte sich dann zu den Nazgûl um.
Karíls Beteuerung gab ihm zumindest einen Funken Sicherheit - das Wissen, jemanden im Rücken zu haben, der ohne zu fragen für ihn durch Feuer und Tod gehen würde.
Langsam schritt er auf die untoten Schatten zu.
Sie bewegten sich nicht, doch aus irgendeinem Grund schienen sie...realer.
Mächtiger.
Hatte Daenor tatsächlich...
"Seid gegrüßt", zwang sich Asrán zu sagen, und neigte leicht den Kopf.
Kling unsicher, unterwürfig, aber sei nicht ängstlich. Zeig zu viel Angst, und du verrätst dich.
Und wenn er es nicht schaffte, dieses Spiel zu spielen, verdammte er nicht nur sich - sondern ganz Khand.
Ein weiteres Mal verfluchte er das Blut, das in seinen Venen floss.
Der linke Nazgûl trat einen Schritt vor, albtraumhaft langsam; und das Aufsetzen seines Stiefels schien auf eine seltsame Weise lautlos, und gleichzeitig dröhnend wie ferner Donner.
"Daenor Chelhathol hat uns verraten", zischte der Nazgûl, der vorgetreten war,
"Er trachtete danach, die Macht unseres Meisters an sich zu reißen. Er stahl den Meisterring."
"Er hat was?", stieß Asrán hervor, und er musste sein Entsetzen gar nicht spielen.
"Wie konnte das geschehen?"
Doch der Nazgûl fuhr fort, ohne auf seine Frage einzugehen:
"Sein Versuch war vergebens. Wir beendeten sein verräterisches Dasein. Und holten zurück, was uns gehört."
Wir holten uns zurück, was uns gehört.
Sie hatten den Ring zurück.
Sauron hatte den Ring zurück.
Und Daenor...
Asrán spürte bodenloses Entsetzen in sich, als er erst langsam, schleichend, die volle Bedeutung dieses einen Satzes erfasste.
Wir beendeten sein verräterisches Dasein.
Daenor Chelhathol war tot.
Asrán zwang sich zu einem abwartenden, leicht zornigen Gesichtsausdruck, als der Nazgûl weitersprach:
"Und nun, wurden wir gesandt, um die Verräter auszumerzen."
Er schluckte.
Bedeutete das...
Ja. Genau das bedeutete es.
Asrán spürte kalten Schweiß auf seiner Haut, und zwang sich, seinen Gesichtsausdruck beizubehalten.
Er hatte nur noch eine Chance.
Er musste sich hier herauswinden.
Irgendwie.
"Und warum seid ihr dann hier?", fragte er und sah zu dem Nazgûl auf, der bedrohlich vor ihm aufragte.
"Der einzige Grund, warum Chelhathol noch am Leben war, war der, dass unser Meister den Befehl nicht gab. Chelhathol schien immer noch nützlich. Ich wusste nicht, was er plant. Welchen Grund hätte ich, ihn gegen die Macht Mordors zu unterstützen?"
Die Nazgûl verharrten weiterhin regungslos, ihre leeren Kapuzen waren auf ihn gerichtet.
"Deine Männer waren in Nurn. Es gab keinen Befehl dazu. Und Nurn wusste es. Deine Männer wussten es."
Asrán schluckte.
Er hatte richtig gelegen.
Das hier war ein Hinrichtungskommando.
Er überlegte fieberhaft, suchte nach einem Ausweg, der Khand und Rhûn vor dem Untergang bewahrte, der zumindest einen Teil des Massakers verhinderte.
Wenn er sonst nichts hatte tun können, dann zumindest das.
Daenor hätte sich hier herauswinden können.
Asrán schuldete es ihm, es wenigstens zu versuchen.
Und dann entdeckte er den Weg aus ihrem Dilemma, die große, und doch so einfache Lüge, um Sauron davon abzuhalten, seinen Zorn gegen Khand selbst zu richten.
Es war der einzige Weg, den Asrán sah, und er hasste sich dafür, hasste es, diesen Gedanken überhaupt in Erwägung zu ziehen.
Und doch hatte er keine andere Wahl.
Sah keine andere Möglichkeit.
Sarodis...Meras...Bitte vergebt mir. Bitte...es geht nicht anders...
Asrán richtete seine Augen zurück auf den Nazgûl.
"Dann müssen sie es gewesen sein, die uns verraten haben! Meine eigenen Leute!"
Er spuckte diese Worte voller Zorn aus, sein Gesicht war wutverzerrt, während gleichzeitig etwas tief in seinem Inneren auseinanderriss und schreien wollte.
Er veriet seine besten, seine einzigen Freunde für das Wohl eines Landes, das ihn längst vergessen hatte.
"Sie haben mich dazu gebracht, sie mit Chelhathol nach Nurn zu schicken!", fuhr er empört fort, als würde er erst jetzt eins und eins zusammenzählen.
Es tut mir so unendlich leid.
"Sie müssen ihm verraten haben, was der Plan war, um ihn auszuschalten! Das sind die Verräter! Sie sind nach Nurn gegangen!"
Der Nazgûl schwieg.
Er schwieg eine ganze Weile, während der zweite nachwievor regungslos hinter ihm stand.
"Sie haben die falsche Seite gewählt. Sie werden es bereuen," sagte er dann schließlich.
Sie glauben es.
Asrán hätte froh sein müssen über diese Erkenntnis, stolz auf seine Lüge, doch er fühlte nichts außer niederschmetternder Schuld.
Er wartete darauf, dass die Nazgûl gingen, ihr Urteil an anderen ausführten.
An Sarodis und Meras.
An Freunden, nein - sie waren mehr als das. Sie waren wie Brüder.
Asrán wusste nicht, wie er es schaffen sollte, sich umzudrehen, wie er Karíl jemals wieder in die Augen sehen konnte.
Er hatte ihre Freunde zu Folter und Tod verurteilt.
Doch die Nazgûl gingen nicht.
Nein, stattdessen trat einer von ihnen noch einen Schritt vor.
Plötzlich schoss sein Arm nach vorne, und die Hand des Nazgûls krallte sich um Asráns Hals, und die Kälte, die von ihr ausging, erstickte alles andere.
Grenzenlose Panik packte seinen Geist, doch er hätte nicht schreien können.
Er hätte in diesem Moment auch keinen Tropfen Blut hergeben können.
"Betet, dass ihr die Wahrheit sagt", zischte der Nazgûl, doch Asrán hörte es nur noch halbwegs, seine Sicht verschwamm, seine Kraft wich aus seinen Gliedern.
Dann, als Asrán zu glauben begann, sein ganzes Schauspiel hätte am Ende doch nichts genützt, verschwand der Druck um seinen Hals.
Nach Luft schnappend brach Asrán auf die Knie, tödliche Kälte ließ seine Muskeln erstarren, als hätte der Griff des Nazgûls ihm die Wärme des Lebens selbst aus den Adern gesaugt.
Seine Hand suchte seinen Hals, während er in tiefen Atemzügen Luft durch seine wunde Kehle in seine Lunge zog und versuchte, das Zittern seiner Glieder unter Kontrolle zu halten.
Die Panzerstiefel des Nazgûls scharrten über den Boden, als er sich von dem knieenden Prinzen abwandte.
Er sagte kein Wort mehr - seine bloße Anwesenheit war Drohung genug.
Leises Scharren und Klirren ertönte, als die Ringgeister zurück in den Sattel stiegen. Mit einem Rascheln entfalteten sich die ledernen Schwingen der Fellbestien, bevor sie sich mit einem gewaltigen Windstoß in die Luft schwangen.
Asrán blieb einfach auf den Boden knien, und erlaubte jetzt endlich, dass das Entsetzen und die Schuld sichtbar wurden, die er so lange im Zaum gehalten hatte.
Sein Vater hatte einmal zu ihm gesagt, dass ein Anführer bereit sein musste, für das große Ganze Opfer zu bringen.
Doch wenn dies das Opfer eines Anführers war, dann wollte er keiner sein.
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