Kapitel 44 | Am Schicksalsberg - Teil 1
Es war kalt, es war unwegsam, und die Luft war staubtrocken.
Daenor schluckte mehrmals, doch sein Mund war so ausgetrocknet, dass es das Jucken in seiner Kehle nur verstärkte.
Er hustete und lehnte sich an den Felsvorsprung, der ihm und Ratte gerade Schutz bot, grub die Hände in den kalten, scharfkantigen Stein, der ihm in den Rücken schnitt.
Wortlos hielt Ratte ihm den Wasserschlauch hin, den sie dabei hatten und Daenor nahm ihn dankbar an.
Das Wasser schmeckte schal und abgestanden, dennoch war es eine Erleichterung, die nasse Spur zu fühlen, die sich ihren Weg durch seine ausgedörrte Kehle bahnte.
Er nickte dem Ork zu und wandte dann den Blick nach links.
Ein sanftes, beinah gespenstisch orangerotes Leuchten hüllte den Orodruin ein, der den Himmel vor ihnen ausfüllte, als wollte er mit seinem geschmolzenen Kern die Wolken selbst verbrennen.
Flüssiger Stein zierte den Krater, er rann in zähen Strömen an einer Seite des Berges hinab - zumindest, so dachte Daenor, nicht auf ihrer.
Eine kleine Erleichterung - aber immerhin etwas.
"Bist du sicher, dass du das allein machen willst?", brummte Ratte und Daenor wandte ihm den Blick wieder zu.
Die Schnur, an dem der Ring hing, schnitt ihm bei jeder Bewegung schmerzhaft in den Nacken; denn er war mit jedem Schritt nur schwerer und schwerer geworden.
Er nickte langsam und deutlich.
"Ja."
Seine Stimme war rau, aufgerieben durch den trockenen Staub, doch sie war fest - fester als es seine abgehackten Atemzüge und seine zitternden Hände vermuten ließen.
Es war Zeit, das Ganze zu Ende zu bringen.
Und Saurons Tricks würden ihn dieses Mal nicht retten.
"Ich weiß nicht, ob der Ring auf dich größere Auswirkungen hat", erklärte der Elb.
Er hatte schon genug Auswirkungen auf ihn selbst - wie sehr würde er dann erst einen Ork beeinflussen, der aus Barad-dûr selbst stammte, vor allem dann, wenn ihr gesamtes Schicksal auf Messers Schneide balancierte?
"Außerdem - traust du irgendjemand anderem zu, in Barad-dûr bereitzustehen, wenn Sauron fällt? Das Chaos wird dort am größten sein."
Ratte zögerte, nickte dann aber.
Er schob sich auf seine Seite des Felsvorsprung und lugte dahinter hervor, auf Barad-dûr, das sich hinter ihnen Zinne um Zinne, Mauer um Mauer in die Höhe schraubte, in ihrer Spitze gekrönt mit Saurons flammenden Auge, dessen Blick über die Ebenen glitt.
Ist er schon misstrauisch? Glaubt er bereits, dass ich ihn hintergangen habe?
Daenor schüttelte den Kopf.
Es brachte nichts, darüber nachzudenken - er hätte es sowieso nicht ändern können, selbst, wenn es so gewesen wäre.
"Dann wird es Zeit, dass ich verschwinde", meinte der Ork schließlich, und sah zurück zu Daenor.
"Es sind schließlich gerade noch ein paar Stunden Marsch."
Zwei, drei Stunden höchstens mit den Wargen, doch die hatten sie kurz nach ihrem Treffen mit Karûk zurückgelassen - zu Fuß würden sie viel länher brauchen
Ihre Umgebung hatte sich verändert; die Felsvorsprünge waren mehr und mehr breiten Spalten gewichen, die den Boden durchschnitten, manche kaum einige Meter tief, sodass man leicht in ihnen gehen könnte - was sie auch getan hatten - manche so tief, dass sie in bodenloser Schwärze verschwanden.
Selbst einige Schritte vor ihren Füßen zog sich so eine Schlucht, und die Schultern des Felsvorsprungs, an dem sie lehnten, mündeten in die Ränder der Klippe hinein.
Der Kriegsherr von Morgoth nickte langsam.
"Ich komme nach Barad-dûr, sobald ich kann", versprach er, während er die Zweifel verdrängte, die sich mit ihren glatten, schleichenden Stimmen einen Weg in seinen Geist bahnen wollten.
Ratte brummte eine Zustimmung.
"Auf bald, Eisklinge."
Seine Stimme war so grimmig, so entschlossen und unerbittlich - Daenor hatte noch nie so viel Überzeugung oder Leidenschaft in Rattes Stimme gehört, und der Elb spürte seine eigenen Zweifel nachlassen.
Er nickte dem Späher zu, der ihn bis hierher begleitet hatte.
"Auf bald, Ratte."
Ratte erwiderte das Nicken, sah noch einmal hinter dem Felsen hervor und verschwand dann ohne ein weiteres Wort, ließ Daenor allein zurück, der seinen Blick nun wieder dem feuerumhüllten Berg zuwandte, der sein Ziel sein sollte.
Er spähte um den Felsen, wie Ratte es getan hatte - von dem wenig überraschend keinerlei Spur mehr zu sehen war - und vergewisserte sich, dass Saurons Auge nicht auf ihn gerichtet war.
Nein, es streifte viel weiter westlich über die Ebenen.
Daenor stieß sich von dem Stein ab.
So schnell - und gleichzeitig so vorsichtig - wie er konnte, bahnte er sich seinen Weg durch das Geröll, das die Ausläufer des Orodruin zeichnete, vorbei an den Spalten, die sich unheilverkündend neben seinen Stiefeln auftaten.
Der Weg wäre schon beschwerlich genug gewesen, hätte er nur darauf achten müssen, sich nicht den Hals zu brechen.
Doch mit jedem Schritt, den er machte, lag ein Teil seiner Aufmerksamkeit auf Saurons wandernden Blick, während er auf alles lauschte, was Gefahr bedeuten könnte - das Trommeln von Warfpfoten, das Brüllen von Orks - oder, schlimmer noch, das Schlagen großer lederner Schwingen in der Ferne.
Wenn die Nazgûl zurückkehrten, bevor der Ring vernichtet war...
Daenor ging hinter einem Brocken in die Hocke und warf einen Blick zurück auf die Ebenen von Gorgoroth, auf der die flackernden Fackellichter immer mehr und mehr wurden.
Der Elb fluchte, während sich seine Hand um Naurings vertrautes Heft schloss, Halt suchte in der Kompromislosigkeit des Stahls.
Er hätte seine rechte Hand dafür gegeben, um zu wissen, was im Westen vor sich ging.
Zu wissen, wie viel Zeit ihm noch blieb.
Ob ihm überhaupt noch Zeit blieb.
Daenor schüttelte den Kopf und stand vorsichtig wieder auf, umklammerte den eingehüllten Ring mit seiner Linken, um vielleicht das Gewicht zu mindern, das um seinen Hals hing - ein Gewicht, das ihn an Ort und Stelle halten wollte, und sich gegen ihn stemmte.
Doch Daenor rollte nur die Schultern und setzte seinen Marsch fort, nachwievor vorsichtig, doch entschlossener als jemals zuvor.
Sollte der Ring nur versuchen ihn zu fesseln.
Ich bin der Kriegsherr von Morgoth.
Es stimmt nicht, was ich zu Eonwe sagte. Ich habe ein Schicksal. Doch ich habe es selbst gewählt.
Und er würde keine Art von Ketten mehr dulden, weder die des Rings noch - wie ihm nur immer deutlicher klar wurde - die der Valar.
Doch die Valar waren jetzt nicht wichtig.
Schritt für Schritt rückte der Orodruin näher, seine feurige Spitze nun kaum mehr einen Marsch von zwei oder drei Stunden entfernt.
Daenor drückte die Schultern durch, und konzentrierte sich mehr und mehr auf den Weg vor ihm, lauschte weniger und weniger auf eine mögliche Gefahr oder die sich sammelnde Armee weit hinter ihm.
Daenor blieb stehen und fluchte leise.
Eine Spalte tat sich vor seinen Füßen auf, beinahe drei Meter breit, und so lang, dass er nicht außen herumgehen konnte - so viel Zeit wollte er nicht verschwenden.
Er würde springen müssen.
Der Elb trat ein paar Schritte zurück, versicherte sich, dass Saurons Blick von diesem Ort abgewandt war.
Daenor warf einen letzten Blick auf Saurons Auge, dann sprintete er nach vorne, eine Hand auf Nauring gelegt, damit es ihm nicht zwischen die Beine kam und stieß sich von der Kante ab.
Ein kurzer Moment der Schwerelosigkeit folgte, wie Daenor sie eigentlich eher vom freien Fall kannte, während sich die bodenlose Schwärze unter ihm auftat, wie ein klaffendes Maul.
Der Moment endete so abrupt, wie er angefangen hatte, als Daenor mit einem scharfen Ruck auf der anderen Seite aufkam und sich, plötzlich schwer atmend, an einen Stein lehnte.
Seine Hand suchte den Ring, dessen Gewicht sich noch während des Sprungs angefühlt hatte, als wollte er ihn in die Tiefe reißen.
So abwegig wäre der Gedanke nicht.
Daenor lächelte schwach, hob den Blick wieder-
Und erst da sah er die langen Schatten, die seine Gestalt warf, die plötzliche Helligkeit seiner Umgebung.
Panik krachte in ihn hinein, mit einer Macht, die Daenor kurzzeitig lähmte, als ihm mit erschreckender Klarheit bewusst wurde, was das bedeutete.
Er hat mich gesehen.
Er...
Doch noch während er das realisierte, noch während jede einzelne Faser seines bewussten Wesens schrie, sich irgendwo zu verstecken, wurde dem Kriegsherrn klar, wer hier tatsächlich die Macht in Händen hielt.
Daenor drehte sich langsam zu Barad-dûr um, zu Saurons Auge, dessen Blick nun direkt auf ihm lag.
Es hatte keinen Sinn, würde er sich jetzt noch verstecken.
Und plötzlich - plötzlich, hatte er keine Angst mehr. Da war nur noch diese eisige, kompromislose Ruhe, die er erst selten in seinem Leben verspürt hatte - bis aufs äußerste entschlossen, und bar jedweder Gnade.
Er fühlte den Ansatz eines kalten Lächelns auf seinem Gesicht, die Genugtuung, diese schreiende Stimme in ihm, die langsam verstummte.
Das hier war es wert.
Jede Sekunde in den Verliesen von Valinor, jedes Mal, in dem er verraten und seine Seele in Stücke geschlagen worden war, war diesen Moment wert.
Ja, du hast mich gesehen, Verräter, dachte er, und hoffte für einen kurzen, hasserfüllten Moment, Sauron möge ihn hören, Und jetzt lasse ich dich bezahlen. Für alles. Und es gibt nichts, was du dagegen tun könntest.
Die Nazgûl waren nicht hier.
Noch nicht.
Und keine Patrouille könnte ihn erreichen bevor er den Schicksalsberg erklommen hatte.
Daenor lächelte kalt und drehte sich um, verschwand wieder zwischen den Felsen, als hätte er nicht gerade dem Mann, der sein Leben in Fetzen gerissen hatte, sein Verderben prophezeit.
Doch noch während er ging schoss der Lichtstrahl von Saurons Auge immer wieder nach Westen.
Daenor beschleunigte seine Schritte.
Diese seltsame Ruhe, die er verspürt hatte, als er Sauron angesehen hatte, war immer weiter und weiter versiegt, und hatte nur den Drang zur Eile hinterlassen.
Er schätzte den restlichen Weg auf knapp zwei Stunden.
Zwei Stunden, und es sollte vorbei sein.
Der Elb schlang die Hand um Naurings Heft, seine stetige Erinnerung an alles, wofür er kämpfte, und immer wieder aufstand.
Zwei Stunden.
Und er konnte endlich mit Frieden auf die Vergangenheit blicken - was danach kam, darum konnte er sich später kümmern.
Er tat einen weiteren Schritt -
Als der Ring um seinen Hals plötzlich um sich zu greifen schien, eine uralte, hass- und zornerfüllte Präsens, die Saurons und doch nicht Saurons war.
Die leisen, flüsternden Stimmen erhoben sich zu einem kreischenden Sturm, der auf seinen unrechtmäßigen Träger niederkrachte wie die Wellen, die Numenor verschlungen hatten.
Daenor keuchte auf, doch so schnell es begonnen hatte, so schnell war es vorbei und ließ nichts zurück außer einer drohenden, dunklen Vorahnung.
Daenor erstarrte, eine Hand um den Ring gelegt.
Weit in der Ferne, nicht zu hören für irgendjemand außer ihn, drang das Geräusch riesiger Flügelschläge an seine Ohren.
Und dann erklang, aus den undurchdringlichen Wolken, ein einzelner, schriller, markerschütternder Schrei.
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