Kapitel 41 | Feind meines Feindes

Eonwe starrte den zähnefletschenden, riesigen Warg an, der so viel größer, langbeiniger und aggressiver war als der auf ihrem Weg von Pelargir, und schüttelte den Kopf
"Das ist nicht Euer Ernst."
Er hatte schon Probleme mit einem normalen Exemplar dieser Biester.

Sarodis, der an seinem eigenen Warg  zu schaffen war, sah auf und schnaubte.
"Das ist mein voller Ernst. Mordor ist zu unwegsam für Pferde und niemand läuft den ganzen Weg. Es gibt nichts schnelleres als sie."
"Aber..."
"Kein aber. Rauf da", unterbrach ihn Sarodis unwirsch. Sie traffen gerade die letzten Vorbereitungen für ihren Aufbruch nach Cirith Ungol - und eine sehr wichtige, wenn nicht existentielle Vorkehrung fehlte, wie Eonwe besorgt  mit Blick auf den dritten - reiterlosen - Warg feststellte.
Nach ihrem Gespräch in der letzten Nacht...
"Was ist mit Daenor?"

"Was soll mit mir sein?", erklang eine Stimme hinter ihnen. Eonwe drehte sich um und sah Daenor auf sich zukommen. Er trug ein in Segeltuch eingeschlagenes, langes Bündel in der Hand und statt seiner üblichen Weste einen Panzer aus gehärtetem, geschwärztem Leder. Nauring und seine Messer hingen von seiner Seite und der Saphir glänzte fahl in dem trüben, wässrigen Licht, das so typisch für Nurn war.

Nichts erinnerte mehr an den gebrochenen Mann, den Eonwe gestern betrunken und verzweifelt auf der Mauer Nurns gefunden hatte.
Sein Gang war aufrecht und sicher, sein Blick klar und stolz - dies hier war die Eisklinge, der Kriegsherr von Morgoth, den nichts aus der Ruhe brachte und der jedes Heer zum Sieg führen konnte.

Er nickte ihnen kurz zu, bevor er zu seinem Warg hinüberging.
Eonwe zögerte kurz, dann folgte er ihm.
"Daenor, wegen gestern, ich habe Vadrion noch nichts-"
"Was ich gesagt habe, meinte ich vollkommen ernst", erwiderte er, ohne zu ihm aufzusehen, "Ich habe meine Entscheidung getroffen, und ich halte mein Wort."
Die Art, mit der er das sagte, hatte etwas Eisernes, Unbeugsames, aber auch bedrückend Resigniertes an sich - der Entschluss war gefasst, und nichts und niemand konnte ihn nun noch ändern.

Eonwe nickte langsam und wandte sich ab, eine seltsame Art von Traurigkeit beschlich ihn. Das Opfer das Daenor brachte...das er erneut brachte...
Der Maia wollte nicht länger darüber nachdenken.

"Eonwe."
Der Herold drehte sich überrascht um, als Daenor ihn zurückrief. Er hatte das lange Bündel gehoben und hielt es ihm hin, bis Eonwe es ihm zögernd aus der Hand nahm und die Schnüre löste, die das raue Segeltuch zusammenhielten.
Die Stofflagen klappten zurück und Eonwe keuchte überrascht auf.

In seinen Händen lag Veanië.

Er sah erstaunt zu Daenor auf.
"Aber wie...warum..."
"Betrachte es als Versprechen", meinte Daenor leise, bevor er sich auf seinen Warg schwang, und dann auf den Mantel deutete, den Eonwe über seiner khandrischen Rüstung trug.
"Trag es unter dem Umhang. Und pass auf, dass man den Knauf nicht sieht."

Eonwe nickte sprachlos.
Dann ging er zurück zu seinem eigenen Warg und zog sich unsicher auf dessen Rücken. Er hasste diese Tiere, doch Sarodis hatte recht - es gab kein besseres Reittier für Mordor.

Als sie die Festung von Nurn verließen, trieb Daenor seinen Warg neben Eonwe.
Sein Gesicht sah erwartungsvoll und gleichzeitig nachdenklich aus - seine Miene, wenn er bereit war, einen Plan zu schmieden.

"So. Und jetzt erzähl mir, was du über diese Hobbits weißt."

~

Der Kriegsherr war gekommen.
Daenor Chelhathol - das war sein Name.
Eisklinge, nannten ihn die Orks, und der Name war durch die Festung gewandert, wurde geflüstert, manchmal voller Furcht, manchmal voller Verachtung.

Sam hatte Angst.
Er fürchtete dieses Zusammentreffen mit der Eisklinge, fürchtete, was er tun würde, um die Informationen zu bekommen, die er wollte.
Die Orks hatten sich nicht an ihnen vergriffen, doch langsam glaubte Sam, dass es ihnen befohlen worden war. Hatte der Kriegsherr es so gewollt? Wollte er sie in aktzeptablem Zustand, damit er selbst...

Sam schauderte und rückte näher zu Frodo, der an der Wand der runden Turmzelle lag, in die man sie gesperrt hatte. Obwohl die Orks sie nicht gequält hatten, hatte der Ring und Kankras Gift seinem Freund so ausgezehrt...Frodo war in denkbar schlechter Verfassung.
Und wer wusste, was der Kriegsherr ihnen antat.

"Es wird alles gut, Herr Frodo", murmelte Sam, doch er sagte es mehr zu sich selbst, "Ich sorge schon dafür."
Noch während er das sagte, schüttelte er den Kopf.
Wem machte er eigentlich etwas vor?
Frodo drehte den Kopf und sah zu ihm auf. Der Ansatz eines warmen, müden Lächelns lag auf seinem Gesicht.
"Ach, Sam..."
Er wusste ganz genau, dass es keine Hoffnung mehr gab. Der Ring war fort und sie saßen hier und würden bald einem Diener des Bösen aus der alten Welt gegenüberstehen...

Doch als die Mächte des Westens kamen,
Angband niederzureißen
Da sahen sie, auf schwarzen Zinnen
Die Klinge des Kriegsherren gleißen.

Daenor Chelhathol, ein Herr der Orks
Ein Dämon aus finstren Legenden,
Er führte Stahl aus eisiger Glut
In blutbefleckten Händen...

Sam erschauderte erneut, als ihm die beiden Strophen dieser Ballade einfielen, die der alte Bilbo ihm einmal vorgelesen hatte, als er noch jünger gewesen war.
H

atte er jemals geglaubt, so jemandem gegenüberzustehen?
Nein, und er hätte es auch um keinen Preis wollen.

Er wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis der Elb eintraff.
Und als er schließlich Stimmengewirr von unten hörte, verschiedene Stimmen, die einander überlappten, wusste er, dass es soweit war.

Sam holte tief Luft, als er hörte, wie die Leiter an die Falltür gelegt wurde und mehrere Paar Stiefel die Sprossen erklommen.
Zuerst kamen zwei Männer, Sam vermutete, dass beide menschlich waren. Einer war dunkelhäutig und kahl, zumindest mitte Dreißig, wenn nicht älter und trug dunkle, gewöhnliche Kleidung - allgemein sah er normal und wenig bedrohlich aus.

Der Zweite war in eine leicht aber volle Rüstung samt Helm mit vollständigem Gesichtsvisier gekleidet, über seine Schulter ragte ein Schwert, das Sam seltsam bekannt vorkam, obwohl die Scheide unter seinem Umhang geschnallt, und das Heft mit Stoff umwickelt war.

Die beiden traten zur Seite und machten dem Dritten Platz, der gerade eben die Leiter erklomm.

Und dann sah Sam das erste Mal den Mann, den die Geschichten die Eisklinge nannten.
Und ohne das Schwert an seinem Gürtel überhaupt wahrzunehmen, fand er diesen Namen mehr als passend.

Der Elb hatte die dunkelblonden Haare und die kantigen Gesichtszüge, mit denen Eonwe ihn beschrieben hatte; Narben zogen sich über Hals und Kinn, doch das, was Sam am meisten verängstigte, waren seine Augen:
Sie musterten ihn forschend, weder abwertend noch überrascht.
Sein Blick, sein Gesicht waren vollkommen ruhig und ohne eine Emotion - sie waren nicht einmal kalt oder leer, sondern einfach völlig unbewegt.
Abwartend.
Genauso gut hätten ihn anstatt der schwarz-silbernen Iriden die Augen einer Statue anstarren können.

Sam rückte unwillkürlich näher an Frodo heran, der die Neuankömmlinge mit trüben Blick ansah.
Die Eisklinge musterte Frodo einen Moment lang mit zusammengekniffenen Augen, dann wandte er sich an den kahlen, dunkelhäutigen Mann neben sich und nickte ihm zu, woraufhin sich der Mensch vor dem Hobbit hinkniete.
"Was...was macht Ihr mit ihm...?"

Leise Schritte erklangen neben ihm und als Sam sich zwang, den Blick von seinem Freund abzuwenden, rückten eisenbeschlagene Stiefel gefährlich nahe in sein Sichtfeld.
Er hob den Kopf.

Der Kriegsherr war in die Hocke gegangen, doch immer noch war er größer als der Hobbit.
Still verharrte er so und sah Sam an, der seinen Blick auf sich spürte und glaubte, seine Falkenaugen würden ihn durchbohren.
Irgendwann hielt der Hobbit es nicht mehr aus.
"Was soll das?", rief er plötzlich, "Was wollt Ihr, Ihr...Ihr..."
Er verstummte, da ihm im letzten Moment einfiel, dass er im Begriff war, Saurons Kriegsherrn zu beleidigen.

"Daenor."
Es war das erste Wort, das aus dem Mund des Elben kam und Sam erschauderte. Er wusste nicht, was er von ihm erwartet hatte, doch ganz sicher nicht eine Stimme die so rau und so berechnend klang.
Er klang nicht wie ein Elb.
Dann erst drang der Inhalt zu Sam durch.
"Was?"

Der Schatten eines schmalen Lächelns zog sich über das Gesicht des Kriegsherrn, doch es war so schnell verschwunden, dass Sam nicht hätte sagen können, ob es wirklich da gewesen war.
"Mein Name ist Daenor. Da du offensichtlich nicht weißt, mit welcher Beleidigung du mich titulieren sollst, hättest du die Freundlichkeit, ihn zu benutzen, Meister Gamdschie?"

Sam zuckte zusammen.
"Woher kennt Ihr meinen Namen?"
"Warum sollte ich nicht?", meinte er, als erkläre sich sein Wissen von selbst. Ohne weiter darauf einzugehen, wandte er sich an den dunkelhäutigen Mann:
"Wie sieht es aus?"
Ein entnervtes Brummen ertönte, und als Sam sich ebenfalls wieder umwandte, sah er Verärgerung auf dem Gesicht des Mannes, der nachwievor vor Frodo kniete.
"So viel zu sie sind in guter Verfassung. Er hatte eine Aufgabe. Eine.
Wenn ich Schagrat in die Finger kriege, bringe ich ihn um, ich schwöre!"

Chelhathol schnaubte amüsiert.
"Das wird warten müssen, bis wir fertig sind."
Doch dann wurde er wieder ernst und fragte: "Glaubst du, sie sind stark genug für den Ritt?"
Diese Begegnung verwirrte Sam immer mehr. Ritt? Welcher Ritt? Wohin?
Der Mann zuckte die Schultern und deutete mit einer vagen Handbewegung auf Sam.
"Er schon. Der andere...macht mir mehr Sorgen."

Ein Nicken von Chelhathol, und der Mann stand auf und zog sich wieder zu dem Behelmten zurück.
Sam musterte Frodo besorgt, doch der Hobbit schien in keinem anderen Zustand als zuvor. Was war hier los?
"Nun, um zur Sache zu kommen", begann der Kriegsherr schließlich, als hätte er Sams Gedanken gelesen.
"Wir haben nicht viel Zeit. Wo ist der Ring? Schnell. Ihr könnt mir vertrauen."

Dieser Satz traf Sam völlig unerwartet. Sie konnten ihm vertrauen?
War er sich eigentlich bewusst, wie vollkommen verrückt das klang?
Er machte den Mund auf, doch plötzlich trat der behelmte Mann vor und sagte: "Er hat recht. Ihr könnt ihm vertrauen. Aber beeilt euch."

Sam starrte den Mann an.
Diese Stimme...
Da griff er nach oben und nahm den Helm ab und enthüllte ein vertrautes, ein totgeglaubtes Gesicht...
"Eonwe?", flüsterte Frodo ungläubig und mit etwas, das Sam schon seit einer gefühlten Ewigkeit schon nicht mehr gehört hatte - Hoffnung.
"Aber...was isz mit Vadrion? Wie kommt Ihr hierher, wie..."

Eonwe hob die Hand und brachte sie zum Schweigen, bevor er sich neben Daenor hockte, der ungeduldig wartete.
"Vadrion geht es gut", erklärte der Maia hastig und eindringlich.
"Aber ihr müsst uns jetzt alles erzählen, was ihr wisst. Ausnahmslos. Ich erkläre euch alles später, wenn wir euch hier weggebracht haben, aber im Moment müsst ihr Daenor vertrauen. Er ist der einzige, der den Ring vielleicht noch vernichten kann."

Sam konnte es immer noch nicht glauben. Eonwe war hier, und er arbeitete mit einem Diener des Bösen zusammen, und der war ein Verbündeter...irgendwie.
Doch schließlich siegte sein Vertrauen in den Maia und er sagte: "Gollum hat ihn gestohlen. Als ich ihn das letzte Mal sah, kletterte er die Berge hinauf richtung Norden."

Eonwe blinzelte überrascht, doch Chelhathol nickte nur.
"Sonst noch etwas?", fragte der Kriegsherr drängend,
"Irgendein Ort, den er erwähnte, eine Richtung, irgendetwas."

"Sme- Gollum erwähnte manchmal...ein oder zwei Mal eine Art Tal  "sagte Frodo plötzlich, "Er sagte etwas wie 'Im Norden, unter spitzen Schatten, wo Wasser nicht plätschert...' aber...ich weiß nicht, was das bedeutet."
Chelhathol rieb sich das Kinn und wandte sich an den anderen Menschen.

"Sarodis, kannst du dir einen Reim darauf machen?"
Der Mensch überlegte, doch schließlich zuckte er die Schultern.
"Nicht wirklich. Ich glaube, ich habe so etwas schon einmal gehört, aber ich weiß es nicht. Aber ich bin mir sicher, Ratte reicht das, um ihn aufzuspüren."

Ein Nicken, dann stand Chelhathol auf.
"Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Bringt sie nach Nurn und haltet euch bereit. Ich breche mit Schagrat und den anderen sofort auf. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren."
Er wandte sich den Hobbits zu.
"Ich werde tuen, was in meiner Macht steht, um Eure Aufgabe zu beenden", sagte er ernst,
"Darauf habt ihr mein Wort."

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