Kapitel 40 | Die Nacht vor dem Ende

Warum sehen diese Gänge alle gleich aus?, fragte sich Eonwe frustriert, während er durch die Festung von Nurn irrte.
Er hatte mittlerweile vollständig die Orientierung verloren, doch er wollte jetzt nicht aufgeben.

Er suchte Daenor.

Der Elb war nach seiner Auseinandersetzung mit Vadrion plötzlich verschwunden - und bis jetzt nicht mehr aufgetaucht, obwohl es mittlerweile tiefe Nacht war.


"Hier findest du ihn sicher nicht", ertönte plötzlich eine belustigte Stimme rechts neben ihm.
Eonwe wirbelte erschrocken herum, griff nach einer Waffe, die nicht da war...
Die Gestalt lehnte grinsend im Schatten eines Türrahmens. Das schwache Licht spiegelte sich auf seinen Zähnen und einem schmalen Gegenstand, den er in den Händen drehte.
Es war einer der khandrischen Soldaten, die mit Daenor nach Nurn gekommen waren.

"Was meint Ihr?", erwiderte Eonwe verwirrt und entspannte sich etwas, als der Mann aus dem Schatten trat und der Maia ihn erkannte.
Er kramte in seinem Gedächtnis herum und erinnerte sich, dass sein Name Meras lautete - und bemerkte im gleichen Moment, dass das Ding in seiner Hand kein Messer, sondern ein Dietrich war.

"Ich meine damit genau das, was ich sage", erwiderte Meras und steckte das Werkzeug weg.
"Er ist nicht hier."
Eonwe runzelte besorgt die Stirn.
"Wo ist er dann?"
"Auf der Mauer, zumindest, soweit ich das weiß."
Meras deutete mit dem Kinn unspezifisch in Richtung der äußeren Wand.

"Danke."
Meras nickte und ging - obwohl es passender wäre, zu sagen, er verschwand einfach in den Schatten- während sich Eonwe in die entgegengesetzte Richtung aufmachte. Er kannte sich in dieser Festung kaum aus, und es dauerte seine Zeit, bis er den Aufgang zu der inneren Mauer Nurns gefunden hatte.

Er stieg hinauf und stieß die Tür aus verwittertem Holz auf, dann trat er hinaus in die Nacht.
Tatsächlich war der Kriegsherr dort und lehnte an der Brüstung der Mauer.


"Daenor?", fragte er vorsichtig und trat einen Schritt auf den Elben zu, der sich regungslos auf die Mauer stützte und auf etwas unter ihm starrte.
Ein leichter Wind sang leise in Eonwes Ohr und gab der Szene etwas Trostloses.
Der Herold trat einen weiteren Schritt nach vorne und plötzlich ertönte ein bitteres Lachen.
"Dich loszuwerden ist verdammt schwer, hat dir das schon mal jemand gesagt?"

Trotz des Gelächters klang Daenors Stimme gleichgültig und tonlos, und hatte nichts mehr mit dem festen Tonfall zu tun, den Eonwe von ihm kannte und eigentlich erwartet hätte.
Dennoch machte der Maia die letzten Schritte und stellte sich neben den Kriegsherren, der selbst jetzt den Kopf nicht hob.
Er starrte nachwievor in den leeren Hof zwischen den Mauern hinab, ohne ihn wirklich anzusehen.

Neben ihm stand eine mit ungleichmäßigen Lederstreifen umwickelte Flasche aus trüben Glas, die schief auf einer verwitterten, unebenen Zinne balancierte.
Durch die Streifen war unmöglich zu erkennen, wie viel Daenor schon getrunken hatte - doch Eonwe glaubte nicht, dass sich noch viel darin befand.

"Morgen werden wir reiten", begann Daenor plötzlich, ohne jeden Kontext, und ohne jedes Stichwort.
Er begann einfach zu reden, als würde er schlicht und ergreifend das sagen, was ihm gerade in den Sinn kam.
Eonwe stutzte.
Daenor redete nie einfach so, und vor allem nicht über etwas derart Persönliches.

"Und ich reite in vollkommener Unwissenheit, und mache trotzdem noch allen anderen Mut, sodass es aussieht als wüsste ich genau, was ich tue. Als könnte nichts schiefgehen."
Er schnaubte, griff unsicher nach der Flasche und nahm einen tiefen Schluck.
Dem Geräusch nach zu urteilen, das die Flüssigkeit machte, war sie schon zu mindestens Dreivierteln leer.

"Natürlich kann etwas schiefgehen. Alles kann schiefgehen. Aber sie verlassen sich auf mich", murmelte der Elb weiter, und durch seine undeutlich Aussprache war er kaum mehr zu verstehen,
"Sie dürfen nicht sehen, dass ich mir nicht sicher bin. Sie dürfen nicht sehen, dass ich Angst habe."

Daenor war sturzbetrunken, erkannte Eonwe schließlich.
Er wusste nicht mehr, was er sagte und erzählte ihm nun Dinge, die er sonst niemals offenbart hätte, er legte sein Innerstes offen, das er sonst hinter so vielen Masken und Mauern versteckt hielt.
Wieder lachte der Elb bitter, und das Geräusch verdeutlichte mehr als alles andere, wie verzweifelt der Mann neben Eonwe war, der gerade vergeblich versuchte, seine Sorgen zu ertränken.

"Jeder würde sich fürchten, der an deiner Stelle wäre", begann Eonwe schließlich, da er nicht wusste, was er sonst sagen sollte - und er Daenor  nicht länger so sehen wollte.
"Du bist gerade dabei, die Machtverhältnisse der Welt umzuwälzen. Und ich bin sicher, du wirst diesen Plan zu einem guten Ende führen."

Diese Worten hätten Daenor beruhigen sollen - doch sie verfehlten ihr Ziel gewaltig.
"Zum Ende, ja", meinte der Kriegsherr und trank erneut, "Und was dann? Was ist nach dem Ende?"
Er schüttelte den Kopf.
Eonwe schluckte, als er begriff, was Daenor meinte. Egal, wie diese Mission endete, egal, ob er seine Rache an Sauron nehmen konnte oder nicht - sobald es getan war, war es für Daenor vorbei.

Es gab keinen Weg, um dem zu entfliehen. Eonwe wusste das, und Daenor wusste es auch.
"Ich träume immer noch davon", fuhr Daenor einfach fort, immer noch geradeaus starrend.
"Von dieser Zelle. Die Ketten, die sich um mich winden, immer fester und kälter, die mich ersticken.
Und Angband.
All diese Männer, die ich angeführt habe. All diese Männer, die ich sterben sehen habe. Ich habe sie nie vergessen. Ihre Namen. Ihre Gesichter. Ihre Stimmen...ihren Tod."

Und dann, plötzlich, hob er den Kopf, sah Eonwe in die Augen. Jetzt, da Daenor alle Masken hatte fallen lassen, schien er ihn das erste Mal wirklich zu sehen. Da war keine Kälte mehr, kein Spott, kein Stolz.
Seine Augen waren wie leere Fenster, durch die man bis zu seiner Seele sehen konnte: erfüllt von Zorn, in Fetzen gerissen von Hass und Trauer - und Einsamkeit.
Unvergossene Tränen glänzten darin.

Eonwe hatte, erkannte er mit Beklommenheit, Daenor noch niemals in einem derartigen Zustand gesehen, auch nicht in Valinor.
Vor der Verbannung hatte er nie einen wirklichen Grund gehabt und danach...
Daenor hatte während seiner Gefangenschaft eine beinah unbeugsame Mauer aus Stolz und Zorn um sich gezogen, eine Festung, die er nicht verlassen wollte.
Doch Saurons Verrat hatte etwas in ihm so endgültig gebrochen, dass es diese Mauer niedergerissen hatte.

"Das war nicht deine Schuld", meinte Eonwe nun sanft.
Nein, es war nicht Daenors Schuld. Es war Morgoths. Er hatte Daenor auf seine Seite gezogen, hatte dessen unbeugsame Loyalität als letzten Schild genutzt - und zugelassen, dass er völlig zerstört zurückblieb.

"Nein...Das verstehst du nicht", murmelte Daenor und legte die Finger auf den Flaschenhals, dann wandte er den Blick wieder in die Nacht hinaus, "Weißt du...Das erste, das man als Anführer lernt, ist die Tatsache, dass man nicht jeden retten kann. Es gibt immer Tote.

Doch es gibt nichts Schlimmeres für einen Kommandanten als Niemanden retten zu können. Und selbst zu überleben - als einziger.
Es gibt nichts Schlimmeres als in eine Schlacht zu ziehen, die unser aller Ende bedeutet, nur um aufzuwachen, und festzustellen, dass man immer noch da ist. Dass man noch da ist, obwohl jeder andere gegangen ist."

Eonwe schüttelte den Kopf. So durfte Daenor nicht denken.
"Dass du überlebt hast war der Wille der Valar. Es war ihre Gnade."

"Ihre Gnade?", rief er aufgebracht aus, und riss den Kopf zu ihm zurück, die Leere in seinen Augen war ausgefüllt von blanker, plötzlicher Wut.
"Oh nein.
Du nennst die Valar Götter.
Du nennst sie gnadenreich.
Doch ich sage dir, würden sie irgendeine Art von Gnade kennen, hätten sie mich in Angband mit meinen Männern sterben lassen."

Daenor packte die Flasche fester, und für einen kurzen Moment schien er das Bedürfnis zu verspüren, sie einfach über die Brüstung zu schleudern.
"Daenor", setzte Eonwe an, nicht wissend, wie er ihn beruhigen sollte, "Ich...es tut mir..."

"Nein", schnitt Daenor ihm scharf das Wort ab, "Es soll dir nicht leid tun. Darauf hast du kein Recht."
Er schnaubte und schlug auf den Stein.
"Wenn das hier irgendeine große Aufgabe wäre, die mir auferlegt wurde", fuhr er fort, "Irgendein großes Schicksal...dann kannst du mir ruhig dein Beileid dafür aussprechen. Aber nicht hier. Das ist nicht mein Schicksal, das irgendwann einmal festgelegt wurde, sondern meine Entscheidungen, die ich allein, für mich selbst getroffen habe, und ich allein sollte die Konsequenzen dafür tragen. Also hör auf. Hör auf, deinen Kopf für etwas hinzuhalten, das nur mich etwas angeht! Jeder sollte das!"

Er holte tief Luft und fuhr sich durch die Haare, sodass ihm einige Strähnen ins Gesicht fielen und ihn noch verlorener aussehen ließen. Der Herold bezweifelte, dass er es überhaupt bemerkte.
"Ich habe nachgedacht, Eonwe", meinte er schließlich nach einer kurzen Stille - auf einmal lag keine Wut mehr in seiner Stimme, doch plötzlich sprach er mit einer Art der Resignation, die den Maia erschaudern ließ,
"Ich habe eine Entscheidung getroffen."
"Daenor, wovon in aller-"
"Ich komme mit dir."

"Was?"
Eonwe hätte in diesem Moment alles erwartet, aber nicht das.
Einen neuen Plan, irgendein Detail, das er hinzugefügt hatte, um das wacklige Gerüst, auf dem er stand, zu sichern.
Ich komme mit dir.
Erst nach und nach wurde Eonwe die volle Tragweite dieses kurzen Satzes klar.
Wenn Daenor mit ihm kam, lieferte er sich erneut den Valar aus - und damit dem Urteilsspruch Mandos'.
Dinge, von denen er, wie er gerade eben noch gesagt hatte, immer noch Albträume hatte.

"Warum?", fragte Eonwe fassungslos. Eigentlich hätte er gedacht, er würde sich über so eine Entscheidung des Elben freuen. Aber er fühlte sich einfach nur niedergeschlagen und seltsam schuldig.

"Warum?", wiederholte Daenor tonlos.
"Weil ich die Wahl zwischen schlimm und schlimmer habe. Wenn der Ring vernichtet ist, könnte ich natürlich fliehen. Oder ich könnte den Ring auch an mich nehmen, und mir ein Reich aufbauen. Aber die Valar? Sie würden euch Verstärkung schicken. Und all die Soldaten hier",
Er machte eine ausladende, allumfassende Armbewegung, bei der vermutlich nur die Mauer seinen Sturz verhinderte,
"Wären die ersten, die ihnen zum Opfer fielen. Und wofür? Für Dinge, an die sie keinerlei Anteil hatten. Für Dinge, die ich getan habe, als noch keiner von ihnen geboren war."

Er schüttelte den Kopf.
Dann nahm er die Flasche, setzte sie an die Lippen und trank den ganzen restlichen Inhalt aus.
"Ich verantworte kein weiteres Massaker. Wenn ich hier fertig bin, dann komme ich ohne Gegenwehr mit dir nach Valinor. Das ist alles, was ich im Gegenzug verlange: nur dieses kleine bisschen, um Sauron endlich das zu geben, was er verdient."

Eonwe nickte.
Zu mehr war er nicht imstande, und selbst wenn ihm Worte eingefallen wären, die er Daenor hätte sagen können, so hätten sie ihm vermutlich dennoch nicht geholfen.
"Ich verstehe."
Es war weit mehr als das.
Er verstand Daenors Entscheidung - so betrachtet war es eine rein logische Schlussfolgerung - doch auf persönlicher Ebene, war das, was Daenor da gerade versprach...
Eonwe spürte, wie sich etwas in seiner Brust schmerzhaft zusammenzog.

"Gibt es irgendetwas, mit dem ich dir helfen kann?"
Es erschien dem Herold richtig, dieses Angebot zu stellen. Dem Mann, den er einmal seinen besten Freund genannt hatte, zumindest ein paar Dinge zu erleichtern.

Eine Weile, die so lang wie Jahre schien, herrschte absolute Stille.

"Geh, Eonwe", flüsterte Daenor schließlich und senkte den Kopf, schwer auf die Mauer gestützt, als würde er ohne ihren Halt einfach in sich zusammenfallen, wie ein Segel, das in der Windstille hing.
"Lass mir die Zeit, die mir noch bleibt."

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