Kapitel 38 | Schlechte Wendungen
"Der Plan lautet folgendermaßen", begann Daenor und verschränkte die Arme vor der Brust.
Vor ihm standen Gorog, Marok und Ragga, an der anderen Wand lehnten Sarodis und Meras.
Eonwe und Vadrion verharrten etwas verloren in der Mitte des Raums, hörten Daenor aber aufmerksam zu.
"Sauron hat gestern die Nazgûl mit dem restlichen Heer von Minas Morgul nach Osgiliath gesandt.
Die Truppen, die noch in Mordor sind, sind weit verstreut," führte er seine Gedanken aus.
"Wenn wir zuschlagen wollen, dann müssen wir es jetzt tun."
Gorog nickte vor sich hin, erwiderte aber nichts darauf.
"Und der Ring?", warf Meras ein und stieß sich von der Wand ab, "Ohne ihn macht das alles keinen Sinn. Selbst wenn wir Mordor unter unsere Kontrolle bringen könnten, sobald die Nazgûl zurückkommen, sind wir erledigt."
"Ratte ist sich sicher, dass sie über den Ungol-Pass kommen", kam es von Sarodis, der sich nachdenklich an seinem Bart kratzte,
"Die größte Gefahr ist dabei immer noch Gorbag. Selbst mit Ratte bin ich mir nicht sicher, dass Schagrat die Halblinge vorbeischleusen kann."
"Wer ist das?"
Die Frage kam von Eonwe.
Daenor ließ die beiden Maiar bei seinen Plänen zuhören - wenn sie wussten, was genau er vorhatte, waren sie weitaus weniger gefährlich, als wenn sie anfingen, zu spekulieren.
"Ein Hauptmann, der mit Schagrat in Cirith Ungol stationiert ist", antwortete Meras, "Er gehört nicht zu uns."
Gorog schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust, wobei sein Kettenhemd leise klirrte, "Dieser Idiot ist dümmer als ein hirnloser Warg, klar versteht der nicht, worum es geht."
"Schagrat ist auch nicht gerade der Hellste", warf Sarodis ein,
"Deshalb ist Ratte ja auch nach Cirith Ungol gegangen, um Schagrat unter die Arme zu greifen. Eine gute Wahl."
Daenor nickte.
"Genau. Sobald Ratte und Schagrat den Ringträger abgefangen haben, schließen sie sich ihnen an, und sorgen dafür, dass sie sicher über die Gorgroth kommen."
"Warte", warf Eonwe plötzlich ein. Die Maiar hatten ihre Verkleidung mittlerweile abgelegt
"Du sorgst dafür, dass sie sicher über die Gorgoroth kommen? Du willst ihm den Ring..."
"Nein", erwiderte Daenor.
"Ich habe die Nazgûl noch nie gesehen, aber ich will nicht wissen, was dieses Ding aus einem Verstand machen kann. Und wenn dieser Halbling den Ring bis hierher gebracht hat, ohne wahnsinnug zu werden, dann kann er ihn auch noch weiter tragen."
Dieser Ring war Saurons Meisterstück und er wollte nicht wissen, wie viel Einfluss er auf den Geist haben konnte, lag doch die Macht des Herrn der Lügen in ihm.
Außerdem hatte Sauron seine Macht noch niemals mit jemandem geteilt, und Daenor war sich sicher, dass auch niemand den Ring ohne Konsequenzen benutzen konnte.
Vadrion brummte etwas unverständliches, hielt sich aber zum Glück zurück.
Daenor hatte andere Probleme, als das, was die Maiar darstellten.
Er wusste, dass er nicht ewig davor würde fliehen können - Mandos' Urteil war unvermeidlich. Doch jetzt war nicht der Zeitpunkt, darüber nachzudenken.
Hatten sie diesen Wahnsinn erst einmal überlebt, konnte Daenor sich damit auseinandersetzen, wie er seine Ewigkeit verbringen würde.
Er hatte lange überlegt, wie er das Risiko, das Gorbag darstellte, irgendwie aus den Weg räumen konnte - und sei es, indem Ratte ihn beseitigte - doch ihm war nichts eingefallen, wie er das bewerkstelligen sollte, ohne irgendwelches Misstrauen zu erwecken.
Wenn Sauron Verdacht schöpfte, und sei er noch so gering...
Er hasste diese Unwissenheit, diese fehlende Variable in einer Gleichung, die zwar kompliziert, aber bis auf dieses eine Bruchstück doch lösbar gewesen wäre.
Jetzt musste Daenor auf Rattes Fähigkeiten vertrauen, und darauf, dass es nicht zu unvorhergesehenen Komplikationen kam.
Denn wenn das geschah, stand mehr auf dem Spiel als seine Rache.
Wenn ihr Plan versagte, wenn auch nur ein Riss in diesem Netz auftauchte, das er sorgfältig, Faden für Faden gesponnen hatte, gefährdete er ihrer aller Leben.
Und das würde er kein weiteres Mal zulassen.
Daenor nickte und gab sich einen Ruck.
Er war ihr Anführer, er war derjenige, der stark bleiben musste. Selbst wenn alles andere auseinanderbrach, musste er aufrecht und unverwüstlich stehen bleiben.
"Ratte weiß was er tut", unterbrach er das leichte Gemurmel scharf.
Dann wandte er sich den Orks zu.
"Ragga. Benachrichtige unsere Verbündeten nördlich von Barad-dûr; Marok, du und Krín tut das Gleiche für den Rest Núrns und die Gebiete im Osten. Sie sollen sich bereithalten.
Brecht auf, sobald ihr könnt.
Wenn sie merken, dass der Ring vernichtet wurde, müssen sie bereit sein, die Kontrolle zu übernehmen. Es wird Chaos geben, sie dürften also leichtes Spiel haben."
Die beiden hünenhaften Orks nickten entschlossen und Daenor spürte, wie ihn ein Gefühl der Sicherheit beschlich.
Das war sein Element.
So, wie vor so vielen Jahren in Gondolin, würde er auch hier die Falle so auslegen, dass Sauron sein Verderben erst bemerkte, wenn das Fallbeil auf ihn niederfuhr.
Und, bei allen Plagen dieser Welt, wie gut würde es sich anfühlen dabei zuzusehen.
"Wir bereiten uns ebenfalls vor," fuhr Daenor an alle gewandt fort.
"Ratte wird uns bald eine gute Nachricht bringen."
Er sagte es als Überzeugung, doch er war sich nicht einmal ansatzweise sicher.
Trotz allem, was er gesagt hatte, trotz der Tatsache, dass Ratte ein Experte auf seinem Gebiet war, wurde Daenor das Gefühl nicht los, dass irgendetwas gehörig aus dem Ruder laufen würde.
Und wie sich herausstellte, war nicht nur Gorbag daran Schuld.
~
Die Spinne kreischte.
Sie wand sich über Sam, als der Hobbit Stich weiter und weiter in ihren Unterleib trieb, mit einer Kraft, die aus Verzweiflung entstanden war, und alles übertraf, was er sich hätte vorstellen können.
Kankra krümmte ihre Beine um die Wunde, und als Sam endlich das Sternenglas zu fassen bekam, kreischte sie ein letztes Mal auf und zog sich immer weiter zurück, verkroch sich vor diesem spitzen Ding und dem grellen Leuchten tief in ihren Schlupfwinkel.
Sam ließ das Schwert sinken, als die plötzliche Energie aus seinem Körper wich und ihn kraftlos zurückließ.
Einen Moment lang beherrschte die Ungläubigkeit und die Erleichterung, diesen ungleichen, hoffnungslosen Kampf nicht nur gewonnen sondern auch überlebt zu haben, alles.
Doch dann kam der letzte Rest Erinnerung zu Sam zurück.
"Frodo!", rief er aus und ließ sich neben seinem Freund, seinem Herrn auf die Knie fallen, Stich neben sich.
Verzweifelt riss er die Spinnweben auf, die Frodos Gesicht verdeckten, doch der Hobbit starrte blicklos in den bedeckten Himmel hinauf, das Gesicht blass, die Haut kalt.
"Frodo", flüsterte er und rüttelte ihn an den Schultern, "Nein."
Es durfte so nicht enden.
Nicht nachdem sie so weit gekommen waren...
"Frodo...wach auf..."
Voller Trauer legte er die Hände um Frodos eingesponnene Schultern und senkte den Kopf.
Er bemerkte den Schatten nicht, der hinter ihnen den Felsen erklomm und in ebendiesem Moment auf sie niedersprang.
Sam wurde von langen Fingern gepackt und zurückgeschleudert, er stolperte nach hinten und prallte mit dem Kopf an einen Felsen.
Schmerz explodierte hinter seinen Augen.
Stöhnend sank der Hobbit zu Boden, seine Sicht verschwamm, schwarze Punkte tanzen vor seinen Augen.
Plötzlich durchbrach eine bekannte Stimme die Benommenheit:
"Ahh....da ist es, mein Schatz, da ist es! Mein Schatz, mein Schatz!"
Gollum!
Sam blinzelte gegen sein Verschwommenes Sichtfeld an, doch er sah nichts weiter als einen grauen Schatten, der umhersprang und Freudenrufe schrie.
"Hattet gedacht, dass die Klippe mich schluckt, mein Schatz, aber Gollum klettert!"
Sam stemmte sich auf die Knie, sein Kopf dröhnte, seine Beine waren weich wie Butter.
Alles wirkte verschoben, doch er sah die silberne Kette, die Gollum durch die Luft schwenkte.
Der Ring! Nein!
"Nein!", rief er schließlich laut, doch sein Kopf schien zu zerschellen.
Gollum wandte sich um und stieß ein Fauchen aus.
Verschwommen sah Sam, wie er auf ihn zu kam, die Kette an sich gepresst.
"Dummer, fetter Hobbit. Du kriegst unseren Schatz nicht, Gollum, Gollum!"
Seine Finger streckten sich aus, und aus schierer Verzweiflung warf sich Sam blindlings nach vorn, ohne viel zu sehen, ohne zu wissen, was er tat.
Es wäre ein ungerechter Kampf gewesen, und ein Kampf, der schnell vorbei gewesen wäre.
Doch es kam nie dazu.
Denn plötzlich färbte Stichs Klinge sich blau, und aus weiter Ferne ertönten raue Rufe und gepanzerte Schritte.
Gollum stieß einen schrillen, panischen Schrei aus und sprang zurück, auf die Felswand hinter ihm zu.
Sam kämpfte sich wankend auf die Beine, stolperte ihm hinterher.
Eine Stimme in seinem Kopf schrie ihn an, dass es Orks waren, die da kamen, dass er sich verstecken musste.
Aber was nützte ihm ein Versteck, wenn er den Ring nicht mehr hatte.
Doch Gollum war längst geklettert, kauerte auf einem Vorsprung über ihm.
Sam streckte verzweifelt die Hand nach ihm aus.
Die Kreatur fauchte und verschwand.
Der Hobbit stolperte zurück.
Der Ring, brachte sein Kopf zustande.
Er hatte den Ring verloren.
Er hatte alles verloren.
Frodo und all ihre Hoffnung, Mittelerde könnte in Frieden leben.
Die Schritte und die Stimmen kamen noch näher, doch Sam realisierte es gar nicht.
Was lohnte es sich jetzt noch, zu kämpfen?
Es war sowieso schon vorbei.
Die Trauer in ihm wurde mehr und mehr von resignierter Leere eingenommen.
Plötzlich hörte er einzelne Schritte, eine einzelne Person, die viel näher war, als alle anderen.
Plötzlich wurde Sam nach oben gerissen und an die Felswand gepresst, der kalte, nasse Stein drückte gegen seinen Rücken.
Der Hobbit sah in das Gesicht eines Orks.
Krallennarben verunstalteten sein Gesicht, und er war kaum größer als Sam selbst, doch er verspürte keine Angst mehr.
Er hatte doch nichts mehr, was er verlieren konnte - und deshalb auch nichts mehr, um das er fürchten musste.
"Wo ist der Ring?", zischte der Ork drängend.
Sam erwiderte seinen Blick ruhig.
Er hatte nichts mehr zu verlieren.
Er hatte nichts mehr zu fürchten."
"Er ist fort."
"Wo ist der Ring?", wiederholte der Ork, und diesmal glaubte Sam, etwas wie Panik in seiner Stimme zu hören.
"Er ist fort."
Es war die einzige Antwort, die der Ork bekommen würde.
Dieser machte erneut den Mund auf - als eine andere Stimme erklang.
"Ratte", blaffte ein anderer Ork, der, zusammen mit einem ganzen Trupp, zwischen den Felsen auftauchte und vor Frodo stehenblieb.
Oh, Frodo, es tut mir so leid...
Etwas anderes brachte Sam nicht mehr zusammen, und etwas anderes interessierte ihn auch nicht.
"Hast zumindest einen der beiden lebendig erwischt, nah?", fuhr der Ork fort. Er war kleiner als die anderen, was vor allem daran lag, dass er seltsam vornübergebeugt ging, doch er trug die Fetzen eines Umhangs - und eine Peitsche.
Er ließ keinen Zweifel daran, dass er die Befehlsgewalt hatte.
Ratte, der Sam von dem Stein riss und ihn nach vorne zog, schnaubte nur.
"Die leben beide."
Der Satz traf Sam, wie ein weiterer Schlag ins Gesicht.
Nicht tot? Aber dann...dann...
Der Hobbit wand sich im Griff des Orks, spürte neuen Kampfgeist in seinen Adern.
Sein Freund war noch am Leben!
Doch Ratte verstärkte nur seinen Druck und stieß ihn dann in die Hände eines anderen Orks, der weitaus größer und stärker war.
Er hielt den wild um sich tretenden Hobbit mit Leichtigkeit fest.
"Der da", sagte Ratte zu dem Ork, der vorhin gesprochen hatte, und deutete auf Frodo, "Wird in ein paar Stunden wieder aufwachen, Gorbag."
Gorbag schnaubte und zögerte kurz.
Dann hob er die Peitsche und rief:
"Zurück zur Festung!"
Mehrere andere Orks nahmen Frodo auf, und trugen ihn den Pfad hinauf, der dort zu dem düster aufragenden Turm hinter dem Felsmassiv führte.
Der Ork, der den mittlerweile schlaff in seinem Griff hängenden Sam mit sich schleifte, bildete das Schlusslicht.
Ratte reihte sich neben ihnen ein, befand sich aber knapp außerhalb von Sams Sichtfeld.
"Er hat ihn nicht", murmelte der kleine Ork plötzlich.
Sam spürte, wie sich der Große versteifte und sein Griff wurde schmerzhaft fest.
"Sicher?"
"So, wie der geredet hat? Ziemlich."
Der Große stieß einen Fluch aus.
"Und jetzt?"
Die Panik in seiner Stimme, die er schon zuvor bei Ratte gehört hatte, begann Sam zu verwirren.
Es klang fast, als würden sie etwas anderes planen...
"Die Eisklinge muss das erfahren. Und zwar ohne, dass Gorbag Verdacht schöpft. Ich gehe nach Barad-dûr."
Die Eisklinge?
Sam kam der Name bekannt vor, und er kramte in seinem benommenen Schädel nach Antworten.
Die Eisklinge...Chelhatol!
Der Mann, den Eonwe und Vadrion jagen sollten.
Aber wenn er noch lebte, bedeutete das dann...
"Bist du jetzt vollkommen irre geworden?", unterbrach der Große seine Gedanken.
Unter die Panik seiner Stimme hatte sich Wut gemischt.
"Verdammt Schagrat", zischte Ratte zurück. Auch er klang mittlerweile wütend und verzweifelt.
"Benutz einmal das Ding zwischen deinen Ohren. Gorbag kann nichts sagen, wenn's die Eisklinge direkt von Sauron erfährt. Der denkt sich schon was aus, was wir jetzt tun."
Spätestens jetzt war Sam derart verwirrt, dass sein Unverständnis seine Angst überstieg.
Worum ging es hier?
Was hatte diese Eisklinge vor?
Schagrat schnaubte.
"Das will ich hoffen.
Und was soll ich tun?"
Ratte schwieg einen Augenblick, dann erwiderte er:
"Halt Gorbag hin. Und lass sie nicht sterben. Die Eisklinge wird das regeln."
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