Kapitel 37 | Rückkehr
Daenor stand auf einem der Türme von Angband, verborgen in den schartigen Hängen des Thangorodrim, und starrte auf die Anfauglith hinaus.
Dargash stand an seiner Seite, das Gewicht lässig auf ein Bein verlagert, die Arme vor der Brust verschränkt.
Er war so, wie er immer gewesen war.
Sein Krummschwert steckte in seinem Gürtel, der Dolch mit dem Knochengriff ragte aus seinem Stiefel.
Ein zerschlissener Kriegsmantel, so verblichen, dass man statt seiner ursprünglichen Farbe nur noch ein Gemisch aus Grau und Braun erkennen konnte, lag um seine Schultern.
Irgendwo in Daenors Hinterkopf meldete sich das Wissen zu Wort, dass Dargash gar nicht hier sein konnte - dass er selbst gar nicht hier sein konnte. Diese Zeit, dieser Ort, waren längst Vergangenheit, doch der Elb ignorierte es und akzeptierte es so, wie es war.
Es war gut so.
"Es ist schön wieder hier zu sein", meinte Daenor, "Es ist schön dich zu sehen."
Dargash antwortete nicht.
Er starrte weiterhin auf die Ebenen hinaus und als Daenor seinem Blick folgte, entdeckte er dort eine hohe, dunkle Gestalt.
Sauron.
In Daenor regte sich Zorn, und die Konturen um ihn herum zersplitterten, als würde er sie durch die Facetten eines Kristalls sehen.
Allein Dargash stand noch fest neben ihm, das einzig Ganze in einem Haufen aus Scherben.
"Er wird bezahlen. Ich verspreche es, Dargash."
Erst da hob der Ork den Kopf und Daenor zuckte zurück.
Er wäre auf alles gefasst gewesen, doch nicht auf diese abgrundtiefe Verachtung in seinen schwarzen Augen.
"Was bist du eigentlich für ein verdammter Narr?", zischte er und wandte sich Daenor vollständig zu.
"Du glaubst du kannst die ganze Welt befreien - und wirst nicht einmal deine eigenen Ketten los."
Plötzlich spürte Daenor ein Gewicht an seinen Armen und als er nach unten sah, entdeckte er eiserne Fesseln, die sich um seine Hand- und Fußgelenke schlangen und in schwere, schwarze Ketten ausliefen.
Der Stein unter ihm verschwamm, wurde ebenmäßiger, eine Spur heller.
Daenor glaubte, an seinem Entsetzen zu ersticken, als er erkannte wo er sich befand, und er schnappte nach Luft.
Das ist nicht real...
Aber so fühlte es sich an.
"Du hast Angst",
Ertönte Dargashs Stimme wieder, und als Daenor den Kopf hob, sah er ihn außerhalb der schwarzen Gittertür stehen, die so lange Zeit das Ende seiner Welt bedeutet hatte.
"Dargash!", rief er verzweifelt aus und rannte auf ihn zu, doch die Ketten um seine Beine waren kürzer als die seiner Hände und er wurde mit einem scharfen Ruck auf die Knie gerissen.
Erst da bemerkte er hinter Dargash zwei weitere Gestalten.
Eonwe und Vadrion, schemenhaft und verzerrt, doch ganz eindeutig sie.
"Du hast Angst davor, was sie darstellen, nicht wahr?", fuhr Dargash verächtlich fort, "Angst vor dem, was auf dich wartet, und dem du nicht entkommen kannst...Oder was glaubst du, wird geschehen, wenn Sauron gefallen ist,mmh, Kriegsherr? Welche Strategie hast du, um einem unausweichlichem Schicksal zu entfliehen?"
Die Ketten schlangen sich enger um ihn.
Daenor schrie, ein Schrei purer Verzweiflung.
"Hilf mir", stieß er hervor und in einer anderen Situation hätte er sich für dieses Wimmern, zu dem seine Stimme geworden war, gehasst. Doch nicht hier, nicht an diesem Ort.
"Dargash, hilf mir... Bitte. Lass mich nicht im Stich."
"Wie du mich im Stich gelassen hast?", fragte Dargash und trat einen Schritt von der Tür zurück.
"Ich habe nicht...ich wusste nicht..."
Flüsterte Daenor und versuchte, zu ihm zu gehen, zu ihm zu kriechen, doch die Ketten hielten ihn zurück, allein in diesem Kerker, begraben unter Stein.
"Du hättest es wissen müssen. Das alles ist deine Schuld."
Dargash wandte sich ab, war plötzlich verschwunden, genauso wie Eonwe und Vadrion; Daenor war vollkommen allein, und er stemmte sich in Angst und Zorn und Verzweiflung gegen das kalte Eisen.
"Nein!"
Seine Stimme brach; doch immer noch riss er an seinen Ketten.
"Nein! Nein!"
Seine Schreie verhallten in der Dunkelheit und es war niemand mehr da, der sie hörte.
Daenor schlug die Augen auf.
Er lag auf dem Rücken und starrte an die Decke, während seine eigenen Schreie in seinem Geist verhallten.
Er war in Pelargir.
Nicht Angband, nicht in Valinor.
In Gondor.
Zögernd tastete der Elb nach seinem Handgelenk, doch er spürte kein Eisen sondern nur schweißnasse, klamme Haut.
Langsam setzte er sich auf.
Daenor zitterte am ganzen Körper, doch es lag nicht an der Temperatur im Raum.
Er wusste, dass diese Stimme nicht Dargash gewesen war. Sie nahm viele Formen an, sprach durch viele Zungen. Zu lange verfolgte sie ihn schon durch seine Albträume.
Dennoch war das, was sie gesagt hatte, nicht weniger war: er trug diese Ketten immer noch mit sich und er würde niemals eine Möglichkeit haben, vor Mandos' Urteilsspruch zu fliehen.
Kraftlos stützte Daenor die Ellbogen auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen.
~
Der Warg warf unruhig den Kopf hin und her und fletschte die Zähne.
Daenor riss ihn zurück in die Reihe und zwang ihn still zu stehen, während die letzten Orks und die paar Dutzend Khandrim, die sie nach Nurn begleiten würden, ihre Reittiere in Formation brachten.
Auch Eonwe und Vadrion würden mit ihm kommen und sie reihten sich gerade mit einigen Schwierigkeiten in den vorderen Reihen zwischen Sarodis und Meras ein, die ebenfalls nach Nurn zurückkehrten.
Den beiden Maiar gegenüberzutreten hatte Daenor einiges an Überwindung gekostet.
Dieser Albtraum heute Nacht war so schlimm gewesen wie seit Ewigkeiten nicht mehr, und er schleuderte all diese Ängste, die er im Wachen Zustand im Zaum hielt, zurück an die Oberfläche seines Geistes.
Ja, die beiden waren eine permanente Erinnerung an das Urteil, das die Valar über ihn gefällt hatten.
Er wusste nicht, was er tun sollte, wenn - oder falls - er Sauron stürzen konnte.
Wieder spürte er die Schatten der Fesseln und schüttelte den Kopf.
Er würde nicht dorthin zurückkehren.
Egal, was geschah - das würde er kein weiteres Mal überstehen.
Daenor grub die Hände in den Nacken seines Wargs, konzentrierte sich auf das raue Fell zwischen seinen Fingern und das Muskelspiel des Tieres, das er durch den Sattel spürte.
"Kriegsherr?"
Der Elb riss den Kopf hoch und sah Asrán neben seinem Warg stehen; hinter ihm stand Karíl und unterhielt sich mit Meras.
Asrán war allein hier, es gab keine Spur von Lazar oder einem anderen Umbar.
"Sie sind bereit."
Daenor nickte und zwang sich zu einem Lächeln.
"Danke, Asrán. Auf bald."
Der Rote Tod neigte den Kopf, dann sah er kurz zu den Orks und wieder zurück. Sorge stand in seinem Gesicht und den goldbraunen Augen.
"Ich hoffe, es geht gut. Viel Glück."
"Das hoffe ich auch", erwiderte Daenor grimmig.
Dann wandte er sich zu den Soldaten um und gab das Zeichen zum Aufbruch.
Eintausenddreihundert Orks trieben ihre Warge aus den geöffneten Toren Pelragirs hinaus, angeführt von der Eisklinge, mit dem sie diese Stadt erobert hatten, und dem sie in weitere Schlachten folgen würde.
Ich werde ihnen gegenüber nicht versagen, schwor er sich.
Nicht noch einmal.
Sie entfernten sich schnell von Pelargir, und als die Stadt außer Sichtweite kam, drosselte Daenor das Tempo und wandte sich Eonwe und Vadrion zu.
"Ihr könnt die Helme jetzt abnehmen. Hier ist niemand mehr, der euch verraten könnte."
Die beiden sahen sich kurz erstaunt an.
"Wie kommt Ihr darauf?", fragte Vadrion misstrauisch.
"Weil jeder einzelne von diesen Männern seit Anfang an in das Ganze hier verstrickt ist", erwiderte Sarodis. Sein Warg war der einzige, der sich einigermaßen ruhig verhielt - was vermutlich daran lag, dass sich nicht einmal so eine Bestie mit dem khandrischen Heiler anlegen wollte. "Wenn wir unter ihnen einen Verräter hätten, wärst du unser geringstes Problem."
Vadrion antwortete nicht, sondern griff zögernd nach dem Kinnriemen.
Daenor war bereits aufgefallen, dass der Maia sich von Sarodis fernhielt und lächelte schmal.
Wäre er bei diesem Kampf nicht mit Eonwe beschäftigt gewesen, dann hätte er die Szenerie, wie Sarodis den ach so starken Krieger von Mandos zusammengeschlagen hatte, sicher genossen.
Doch dieser Gedanke weckte andere Erinnerungen und er verbannte ihn schnell aus seinem Geist.
"Warum eigentlich Nurn?", fragte Eonwe plötzlich.
Daenor runzelte die Stirn.
"Was meinst du?"
"Warum hat dieser...Widerstand gegen Sauron ausgerechnet in Nurn angefangen?"
Genau dieselbe Frage hatte sich auch Daenor gestellt, und als er mit Gorog gesprochen hatte, hatte sich nicht nur dieses Mysterium geklärt, sondern auch die Vermutungen, die der Elb schon von Anfang an über die Orks gehabt hatte.
"Sieh dir Gorog und die anderen an", meinte er und sah zu dem drahtigen Ork, der ein paar Reihen weiter hinten an der Spitze der Orks ritt.
"Sehen sie für dich aus wie die Orks, die du kennst? Oder verhalten sie sich so?"
Eonwe schüttelte langsam den Kopf.
"Ich dachte, man hätte sie so gezüchtet", meinte er und hob die Schultern.
"Genau das ist der Punkt", warf Sarodis ein. "Das hat man nicht. Vielleicht sind sie von Natur aus klüger als die meisten von ihnen, aber darum geht es nicht. Gorogs Art war lange vor Sauron in Nurn. Sie wurden nicht gezüchtet, sie haben gelebt."
"Gorog", griff Meras den Faden auf, "Ist ungefähr so alt wie ich und damit schon fünfmal älter, als es die meisten Orks aus Barad-dûr jemals werden. Sie wissen ganz genau, dass sie ohne Sauron überleben können und sind viel weniger unter seinem Einfluss, als die meisten."
"Sie weigern sich, Saurons Werkzeuge zu sein", schloss Daenor, "Denn er sieht sie als nichts anderes."
Eonwe sah sich noch einmal zu den Orks um, und als er sich ihnen wieder zuwandte, stand Respekt in seinem Gesicht.
"Und Ihr werder sie anführen?", wollte Vadrion wissen und kniff die Augenbrauen zusammen.
"Ja," antwortete Daenor leise und nach einer kurzen Stille, nicht fähig, die beißende Antwort auszusprechen, die ihm auf der Zunge gelegen hatte, "So gut ich es vermag."
Sauron wird bezahlen, Dargash. Ich verpreche es. Ich sorge dafür, dass dein Opfer nicht umsonst war.
Er sprach nicht zu dem Ding, das ihn im Schlaf heimgesucht hatte, und das er sich weigerte, in Erinnerung zu behalten.
Nein, er sprach zu all denen, die neben ihm gestanden hatten, als die Nacht am dunkelsten gewesen war.
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