Kapitel 36 | Die Flotte

"Eisklinge! Die Flotte aus Umbar! Sie sind hier!"

Asrán unterbrach sein Gespräch mit Daenor, als Krín schlitternd neben ihnen zum Stehen kam.
"Sie sind gerade in Sichtweite gekommen."
Der Elb nickte düster.
"Danke, Krín."

Dann wandte der Elb sich an die beiden gerüsteten und mit Helmen bewehrten Khandrim, die neben ihnen an der Wand standen - zumindest sahen sie wie Khandrim aus.
Bei genauerem Hinsehen wäre aufgefallen, dass keine der beiden eine Waffe trug, und dass Daenor ihnen niemals den Rücken zuwandte.

"Mitkommen."

Die beiden wechselten einen Blick und setzten sich dann widerwillig in Bewegung. Einer von ihnen drehte den Kopf zu Daenor.
"Die Umbar werden..."
"Kein Wort mehr", knurrte der Elb, "Wir haben einen Handel, schon vergessen?"
"Trotzdem werden..."
"Vadrion", kam es unter dem anderen Helm hervor, "Lass es gut sein."
Dieser stieß ein undefinierbares Brummen aus, wandte die Augen aber dann wieder geradeaus.

Asrán reihte sich zusammen mit Krín neben Daenor ein.
Ein Handel, ja.
Aber keiner, von dem er wirklich überzeugt war.
Das Angebot, das Daenor den Maiar gemacht hatte, war im Grunde einfach:

Er würde sie freilassen, sie in seiner Nähe behalten - unter der Bedingung, dass niemand sie erkennen durfte.
Als Asrán Daenor später nach dem Sinn dieses Vorschlags gefragt hatte, hatte der Elb ihm gleich mehrere Gründe genannt:
Erstens wäre es einfacher, die Anwesenheit von zwei Maiar auf diese Weise zu verschleiern - denn niemand achtete auf zwei Soldaten, während das Gerücht über zwei Gefangene, die ausschließlich von Daenors engsten Vertrauten bewacht wurden, schnell die Runde machte.
Der zweite Grund war in etwa genauso pragmatisch: dadurch, dass Leute wie Meras, Ragga oder Sarodis nicht mehr Stunden mit der Wache verschwendeten, hatten sie wieder die Zeit, die sie brauchten, um ihren Aufgaben nachzugehen.

Nacheinander verließen sie die Veste von Pelargir und traten in den Hafen hinaus.
Gorog und ein paar seiner Orks waren bereits dort, zu denen sich Krín gesellte, genauso wie Meras, Karíl und Sarodis.
Eonwe und Vadrion reihten sich zwischen dem Heiler und dem Schützen ein, während Daenor kurz in die Runde nickte und dann auf das Pier hinaustrat, Asrán nur einen Schritt hinter ihm.

"Egal, was passiert", murmelte Daenor , gerade so laut, dass die Anwesenden in verstehen konnten, "Tut nichts, was ihr Misstrauen erwecken könnte."
Er sah Asrán in die Augen.
"Ich weiß, was sie planen, und was das für euch bedeutet. Aber lasst euch ja nichts anmerken."

Asrán straffte die Schultern, als er die ersten Schiffe sah, dass sich durch die Lücke in der Hafenmauer Pelargir rasch näherten.
Die Flotte von Umbar.
Vermutlich eins der Hauptinstrumente, um Khand und Rhûn ihrer Macht zu berauben und zu vernichten.
Asràn verspürte plötzlich das enorme Bedürfnis, diese Schiffe brennen zu sehen.

Das Flagschiff legte an dem Pier an, an dem Daenor und Asrá warteten.
Rufe schallten über das Decke, und man sah mehrere Leute darauf hin und her rennen.

Plötzlich wurde eine Planke über die Bordwand geschoben und landete mit einem hohlen Knall auf dem hölzernen Pier, nur ein paar Schritte entfernt von Daenor, der das ganze Szenario ungerührt verfolgte.

Der Kapitän des Flagschiffs schwang sich auf die Planke und überquerte mit lauten Schritten, die im halben Hafen zu hören waren, die kurze Distanz, bis er vor Daenor stand.
Er hatte offene schwarze Haare und ein breites, wettergegerbtes Gesicht.
Der Mann war nur etwas kleiner als die Eisklinge, doch gebaut wie ein Stier.
Seine Schultern waren breit, seine Arme muskulös und er hatte die sichere Haltung eines Kriegers, der ganz genau wusste, dass er stärker war als seine Gegner.

Asrán spürte Verachtung in sich hochsteigen.
Auch dieser Mann war beteiligt am Verrat an den Völkern Khand und Rhun, und er trat wie selbstverständlich direkt in ihre Mitte, als wäre er der Herr Pelargirs.

Der Kapitän baute sich vor dem Elben auf, der seinen Blick kühl erwiderte.
Man hätte meinen können, Daenor würde aufgrund seiner hageren Statur schwächer aussehen als der Umbar.
Doch wie er da stand, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, so unverwüstlich und unbeeindruckt wie ein uralter Berg, wirkte er viel bedrohlicher, als dieser Mann, der sich nur auf seine rohe Stärke zu verlassen schien.

Asrán erinnerte sich daran, wie unbehaglich er sich gefühlt hatte, als Daenor das erste Mal in die Rolle des Kriegsherrn geschlüpft war - diese Angst, als man keine seiner Handlungen mehr hatte vorhersagen können.

"Ihr seid Admiral Lazar?", fragte Daenor nun, seine Stimme ruhig und abwartend. Asrán wusste ganz genau, dass Daenor sich über Umbars Absichten im Klaren war.
Der Admiral und sein Männer waren Feinde - vielleicht nicht in ihrem Krieg gegen Gondor, wohl aber in ihrem Kampf gegen Sauron.

Lazar nickte langsam, als wäre es eine Unverschämtheit nach seinem Namen zu fragen, und verschränkte die Arme vor dem leichten, bronzenen Schuppenpanzer, der seine Brust schützte.
"Und Ihr seid Daenor Chelhathol?", entgegnete er abschätzig.

"Kriegsherr Daenor Chelhathol", verbesserte der Elb ihn kühl.
Asrán schluckte.
Jeder mit nur einem Funken Verstand konnte sehen, wer hier die Befehlsgewalt hatte.
Jeder, außer Lazar selbst, wie es schien, wenn sogar jemand wie Daenor auf seinem Titel beharrte - jemand, dem man die Führungsposition von vorneherein ansah.

Lazar neigte den Kopf zur Seite.
"Natürlich", antwortete er gedehnt.
"Kriegsherr Chelhathol. Ich bitte um Vergebung."
Seine Stimme schien vor unterschwelligem Spott zu triefen und Asrán spürte, wie sich seine Hand zur Faust ballte.
Was glaubte dieser Mann eigentlich, wer er war?

Ein Sieger, kam es ihm dann in den Sinn, Er sieht uns an und sieht einen Haufen Narren, die alle nacheinander in die Falle tappen werden. Aber wenn er Bescheid wüsste, spann er den Gedanken grimmig weiter, Würde er sein Maul nicht ganz soweit aufreißen.

Der Mensch sah zu Daenor hinüber, der noch immer keine Miene verzogen hatte.
"Ich werde in den nächsten Tagen zurück nach Mordor aufbrechen", begann er, ohne auf Lazars Spott auch nur im Mindesten zu reagieren.
Dann trat er zur Seite und wies mit dem Kinn auf Asrán.

"Asràn erhält während meiner Abwesenheit die volle Befehlsgewalt über die Soldaten. Das schließt Euch und Eure Männer mit ein, Admiral."
Lazar blinzelte überrascht, bevor er sich Asrán zuwandte und ihn abwertend musterte.
"Was? Ihn?"
Der Rote Tod spürte Zorn in seinen Adern, seine Augen verengten sich zu Schlitzen und er schaffte es gerade so zu verhindern, dass er zum Messer griff.
"Ja", knurrte er, "Ich."

Lazar schnaubte und wandte sich zurück an Daenor.
"Das kann nicht Euer Ernst sein! Ich könnte ihn töten, ohne mich anzustrengen!"

"Sagte der Löwe zum Skorpion."

Der Admiral blinzelte.
"Was?"
Daenor zog die Augenbrauen hoch und erwiderte spöttisch:
"Ich bin größer als du, stärker als du, sagte der Löwe zum Skorpion - und ehe er sich's versah, verreckte er an seinem Gift.
Es ist kein Wunder, dass Ihr lediglich als Verstärkung geschickt wurdet", fügte der Elb hinzu, "Ihr hättet Pelargir niemals einnehmen können, wenn Ihr das große Ganze nicht erkennen könnt."
Er warf Asrán einen Seitenblick zu, der ihn mit Stolz erfüllte - Daenor wusste seine Fähigkeiten zu schätzen und er verließ sich auf ihn.
"Und Eure Gegner derart unterschätzt."

Lazars Gesicht verzerrte sich vor Zorn.
"Ihr wagt es..."
"Ich wage es", schnitt Daenor ihm das Wort ab und trat einen Schritt auf ihn zu, sodass dem Admiral keine andere Wahl blieb, als auf die Planke zurückzuweichen.
Asrán sah, wie sich Lazars Besatzung verspannte, doch niemand griff zu den Waffen - niemand brachte den Mut dazu auf.

"Wir befinden uns im Krieg, Admiral", knurrte der Elb und drängte ihn noch einen Schritt weiter zurück.
Asrán genoss die Angst, die sich langsam auf das Gesicht des Menschen schlich - selbst Lazar hatte nun begriffen, dass man es sich nicht mit der Eisklinge verscherzen sollte.
Hatte er bereits Zweifel, ob es wirklich so gut war, sie zu hintergehen?
"Und Ihr", fuhr Daenor kalt fort, "Seid mir unterstellt. Ich werde keine Befehlsverweigerung dulden, weder mir noch meinem Statthalter gegenüber. Habt Ihr das verstanden?"

Lazar nickte schnell.
"Natürlich...Kriegsherr."
Daenor trat zurück und lächelte schmal. "Gut."
Dann wandte er sich an Asrán und bedeutete ihm, ihm zurück zur Veste von Pelargir zu folgen, während sich Meras und Karíl aus den Reihen lösten, um sich um die Flotte zu kümmern.
Die Maiar hängten sich ohne zu zögern an ihre Fersen und Asrán ließ sich zurückfallen, um die beiden aus seinem Rücken zu haben.

"Glaubt Ihr wirklich, wir würden Euch jetzt angreifen?", fragte Vadrion und rollte die Schultern.
Asrán schnaubte. "Ich würde mich nicht drauf verlassen."
Der Maia schüttelte den Kopf und sagte nichts darauf.

Als sie die Veste erreichten und die Inneren Gänge betraten, blieb Daenor schließlich stehen und rieb sich über das Gesicht.
Als er die Hände herunternahm, war zu Asráns Erleichterung das Emotionslose aus seinem Gesicht so vollständig verschwunden, als hätte er gerade eine Maske abgesetzt.
Dahinter lag nun eine Art grimmiger Vorfreude.
"Ich bin froh", meinte er nach einer kurzen Stille, "Dass er einer der ersten ist, die wir aus dem Weg haben werden."

Asrán nickte nur, denn Daenor hatte ihm schon vor mehreren Tagen erklärt, dass sie das ausschalten mussten, was nach der Schlacht um Minas Tirith von der Flotte übrigblieb - sobald sie sich des Ringes bemächtigt hatten, durften sie nicht zur Gefahr werden.

Doch für die Maiar kam diese Information überraschend.
"Du willst sie töten?" , fragte Eonwe, mit leiser, ungläubiger Stimme, "Sie alle?"
Asrán schnaubte.
So sehr er die ehrenhafte Einstellung dieses Mannes bewunderte, so sehr war sie hier fehl am Platz.
"Wir tuen das mit ihnen, was sie mit uns getan hätten. Ihr versteht das nicht. Dafür versteht Ihr zu wenig, wie in Mordor gespielt wird."

Eonwes Gesicht war durch den Helm nicht zu sehen, doch in seiner Stimme lag abgrundtiefes Entsetzen, als er ansetzte: "Aber du kannst doch nicht einfach..."
Daenor schnaubte und trat vor den Maia hin.
"Du stehst hier in einer Stadt voller Mörder, Eonwe. Komm mir jetzt bloß nicht mit Moral."

Dann wandte er sich ab und ließ die Maiar bei Asrán zurück.

Eine Stadt voller Mörder?
Ja, vielleicht waren sie das, kam es Asrán in den Sinn.
Und doch waren sie vermutlich die Einzigen, die Sauron und all seine Verräter zu Fall bringen konnten.

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