Kapitel 31 | Ein Elb, den sie Eisklinge nannten

Der Weg nach Minas Tirith war weit.
Auf den Pferden Rohans brauchten sie etwas weniger als drei Tage, und nachdem selbst Gandalf sie besorgt zur Eile getrieben hatte, schien ihnen jeder Tag, den sie verloren, als ein Tag zu viel.

Während sie durch das sanft gewellte Grasland ritten, wurde die Gebirgskette, die die westliche Grenze Mordors darstellte, immer größer, schärfer und bedrohlicher.
Wolken, wie sie nur ein schwerer Sturm mit sich brachte, krochen hinter den schartigen Felsmassiven hervor, wie Rauch aus einem Kamin quillt, und erstreckten sich bereits weit nach Gondor hinein.

Doch Eonwe wusste, dass dies kein normaler Sturm war.
Der Wind, der von Osten wehte, war feindselig und scharf und er heulte mit einer Stimme, die Eonwe durch Mark und Bein ging.
Dein Zauberwerk wird mit jedem Jahr, das vergeht, verderbter, Sauron, dachte er und packte die Zügel seines Pferdes fester, Wie viel Unheil musst du noch anrichten?

Er schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf den Weg vor ihm.
Neben ihnen ragte das weiße Gebirge unbefleckt und mit Schneeresten gekrönt in den noch reinen, wolkenlosen Himmel.

Schließlich überquerten sie die letzte Hügelkuppe und hielten kurz inne, als sich ihnen die weiße Stadt in all ihrer Pracht präsentierte.
Eonwe spürte, wie sein Pferd die Luft einsog und sie schnaubend wieder ausstieß.
"Hannon le", flüsterte er dem Tier zu und tätschelte dessen schweißnassen Hals.

Dann wandte er sich Vadrion zu, der die Stadt skeptisch beäugte.
"Ich hoffe, wir finden hier die Antworten, die wir brauchen. Mit jedem Tag, der vergeht, wird dieser Mistkerl gefährlicher," murmelte dieser gerade, "Wir brauchen endlich einen Anhaltspunkt - uns läuft die Zeit davon."

Eonwe nickte langsam.
"Ich weiß. Lass uns gehen."
Sanft trieb er den Falben an, allerdings in einem weniger halsbrecherischen Tempo.
Je weiter sie sich Minas Tirith näherten desto höher ragte die Stadt auf, die sich Mauer um Mauer an den Ausläufern des Weißen Gebirges nach oben zog.

Und doch, kam es Eonwe vor, war sie nur ein kleiner heller Funke angesichts der Dunkelheit, die sich hinter ihnen zusammenbraute.
Noch während sie sich dem Tor der Stadt näherten, fragte Eonwe sich, ob Daenor bei dem Angriff auf Minas Tirith beteiligt sein würde.
Nicht, wenn wir es verhindern können.

Sachte hielten die beiden Maiar ihre Reittiere vor dem Tor an, das geschlossen vor ihnen aufragte.
Eine gepanzerte Gestalt erschien oben auf dem Wehrgang und beugte sich über die Brüstung.
"Wer seid Ihr? Antwortet!", rief der Soldat unwirsch zu ihnen hinab.

Eonwe legte in einer Geste des Friedens die Rechte Hand auf die Brust.
"Wir sind Eonwe und Vadrion, Gesandte von Valinor. Wir haben eine wichtige Botschaft für Denethor, euren Truchsess!"
Ganz bewusst verzichtete er darauf, Gandalfs Namen zu erwähnen.

Der Mann verschwand ohne eine Erwiderung aus ihrem Sichtfeld.
Mehrere Minuten lang warteten Eonwe und Vadrion vor dem Tor. Die Pferde stampften unruhig auf der Stelle, als sie die Anspannung ihrer Reiter spürten.

Gerade, als Eonwe zu befürchten begann, man würde sie abweisen und ihre beste Chance auf Informationen damit zunichte machen, ertönten laute Rufe und das Rasseln schwerer Ketten aus dem Inneren der Stadt.
Krachend glitten die Schließmechanismen zurück und das Haupttor von Gondor wurde für die beiden Maiar geöffnet, die ihre Pferde im Schritttempo durch das Tor trieben.

Dahinter erstreckte sich ein kleiner Platz, dessen Mitte von einer lebensgroßen Statue eines Mannes auf einem Pferd geschmückt wurde.
Gebäude, aus demselben weißen Stein wie die Mauer errichtet, säumten den Platz, bis auf eine breite Straße, die stetig anstieg und in die höheren Ebenen führte.
Mehrere Soldaten, gekleidet in mattsilberne Rüstungen mit hohen Helmen, standen um den Platz verteilt.

"Absitzen!", erklang plötzlich eine Stimme und aus den Soldaten löste sich ein Mann mittleren Alters.
Seine Statur war kräftig - sie reichte nicht ganz an Vadrions athletischen Körperbau heran.
Er war kahl, und trug einen schwarzen Waffenrock, auf dem in Silberfäden aufwendig das Wappen Gondors gestickt worden war. Darüber lag ein ebenso hochwertiger Umhang, der, wie der Rest seiner Rüstung perfekt saß.
Sein Gesicht war grimmig und seine Augen hatten den Ausdruck eines Mannes, der durchaus mit Gefahr umzugehen wusste.

Eonwe und Vadrion wechselten einen angespannten Blick, befolgten den Befehl des Mannes allerdings ohne zu zögern. Der Maia war froh, dass man sie überhaupt in die Stadt gelassen hatte, obwohl man sie nicht kannte.
Der Mann trat auf sie zu und musterte sie von oben bis unten.
"Ihr seid Gesandte aus Valinor?"
Seine Stimme war rau und erinnerte Eonwe entfernt an Daenor - die Stimme von jemanden, der den Schlachtlärm gewöhnt war.

"Ja. Und Ihr seid?", wollte Vadrion wissen, der sich sichtlich um einen freundlich Tonfall zu bemühen schien, doch die Anspannung nicht aus seiner Stimme halten konnte.
Der Gondoraner fixierte Vadrion.
Er war etwas kleiner als die Maiar, aber er war derjenige, der die Befehlsgewalt hatte - und das gab ihm eine Macht, die es unmöglich machte, ihn herabzusetzen.
"Mein Name ist Hauptmann Laonir", erwiderte er.

Kurz hielt er inne, doch dann trat er einen Schritt zurück und bedeutete ihnen, ihm zu folgen.
"Ich bringe Euch zum Truchsess."
In einem Schweigen, das niemand als gesellig bezeichnen würde, führte Laonir sie die Ebenen von Minas Tirith hinauf.
Der Weg, den sie mit den Pferden in Minuten zurückgelegt hätten, nahm nun beinahe eine halbe Stunde in Anspruch, doch beide dachten an Gandalfs Worte - sie mussten hier vorsichtig sein.

Schließlich hatten sie die oberste Ebene von Minas Tirith erreicht.
Der weiße Baum Gondors, der, bewacht von vier Männern, in der Mitte des Plataeus stand, das sich über die Stadt hinaus erstreckte und dann senkrecht abfiel, reckte seine verdorrten Äste in den Himmel wie knochige Finger.

Trauer überkam Eonwe bei diesem Anblick, doch er hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, denn Laonir scheuchte sie bereits weiter.
Auf der anderen Seite erhob sich die weiße Fassade des Thronsaals.
Laonir führte sie auf die hohe schwarze Tür zu, die von den beiden Wachhabenden aufgestoßen wurde, und trat ihnen voraus in den Thronsaal der Könige Gondors.

Säulen säumten die Wände und zwischen ihnen erhoben sich die stolzen Statuen längst vergangener Könige.
Am anderen Ende erhob sich ein Podest, auf dem ein großer weißer Thron aufragte.
Und darunter, auf einem schlichten schwarzen Stuhl, saß eine Gestalt, das einzige Lebendige in dieser Halle aus totem Stein.

"Mein Herr," sprach Laonir zu Denethor und verneigte sich tief, "Die Gesandten, die gerade eingetroffen sind."
Er trat einen Schritt zur Seite, um den Blick auf Eonwe und Vadrion freizugeben, die sich nun ebenfalls leicht verbeugten.

Der Mensch hob den Kopf, seine Gesichtszüge wiesen eine Art von Verbitterung und Gram auf, die Eonwe schaudern ließ.
"Was wollt Ihr, Eonwe und Vadrion von Valinor?", sprach er, doch seine Stimme glich eher einem Knurren.

"Die Valar entsandten uns hierher," begann Eonwe, "Um Daenor Chelhathol zu finden, der mithilfe des Dunklen Herrschers aus den Verliesen von Mandos fliehen konnte."
Denethors Gesichtszüge verfinsterten sich, als habe sich ein düsterer Verdacht bestätigt, während Laonir zuerst die Stirn runzelte, bevor sich seine Augen weiteten und er die beiden Maiar entsetzt ansah.

"Wir sind gekommen," fügte Vadrion nun an Eonwes Satz an, "Um um Hinweise zu bitten. Nachrichten über jemanden, der ihm ähneln könnte.
Wir müssen ihn finden, bevor er Schaden anrichtet."
Denethor fixierte sie finster und verächtlich. Eonwe spürte ein derartiges Unbehagen, dass er am liebsten einfach verschwunden wäre.
Und dann zischte der Truchsess von Gondor:
"Ihr kommt zu spät."

Die Worte trafen Eonwe wie ein Schlag ins Gesicht und er wechselte einen entsetzten Blick mit Vadrion.
"Was ist passiert?", fragte der braunhaarige Maia.
Laonir verschränkte die Arme hinter dem Rücken und erwiderte dann:

"Vor mehreren Wochen erreichte uns die Nachricht, dass sich ein Heer aus Mordor der Hafenstadt Pelargir im Süden von Gondor nähert.
Spähern zufolge war es kaum größer als die stationierte Garnison, weshalb der befehlshabende Kommandant  Taragond zuversichtlich war, die Stadt halten zu können.
Doch dann brachen die Nachrichten ab."

Eonwe schluckte.
Er konnte sich vorstellen, was nun kam.
"Etwa eine Woche später," fuhr Laonir fort, "Erreichte uns ein Soldat Pelarigrs. Er war geschickt worden, um uns auszurichten, dass die Stadt an Mordor gefallen sei und dass..." Laonirs Stimme zitterte ein wenig, "Dass man die Überlebenden als Geißeln genommen hätte, um sich sicher zu sein, dass wir keinen Angriff unsererseits beginnen."

"Wie viele?", wagte Eonwe zu fragen, obwohl er die Zahlen gar nicht wissen wollte.
"Knapp unter tausend," stieß Laonir hervor, seine Stimme klang erstickt.
Wie viele dieser Männer mochte er kennen?
Eonwe spürte Entsetzen in sich aufsteigen, als ihm das volle Ausmaß der Dinge klar wurde, die Daenor angerichtet hatte. Denn all das klang nach dem Elb - jedes Detail geplant und ausgearbeitet, ein sorgfältiger Plan ohne Lücken oder Schwachstellen.

"Wir bedauern, dass wir nicht früher gekommen sind, doch auch unsere Reise war nicht gänzlich ohne Gefahren," setzte Eonwe nun an. Vadrion nickte und fügte hinzu:
"Dank Euch glauben wir nun zumindest, zu wissen, wohin unser Weg führt."

"Ihr braucht nicht zu glauben," mischte sich plötzlich Denethor wieder ein, der sich auf seinem Stuhl vorgelehnt hatte, "Ihr könnt Euch sicher sein."
"Was meint Ihr damit?," fragte Eonwe vorsichtig, denn er wusste nicht, ob sie die schon gering wirkende Geduld dieses Mannes nicht zu sehr strapaziert hatten.

"Der Junge, den man uns geschickt hatte," antwortete Laonir tonlos, "Hatte weder die Erfahrung noch die Ausblidung für eine solche Schlacht - es gab nichts, was er uns sonst hätte erzählen können, außer das: Die Orks und die Menschen Mordors werden angeführt von einem Elb.
Einem Elb, den sie Eisklinge nannten."

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