Kapitel 3 | Beratungen
Der Ring des Schicksals war schon seit Ewigkeiten nicht mehr voll versammelt gewesen. Seit langer Zeit waren die Valar nicht mehr so zusammengekommen.
Doch heute war selbst Ulmo hier, der Herr der Wasser.
Der Anlass war auch ernst genug:
Daenor Chelhathol war geflohen.
Nein, noch schlimmer: Man hatte ihn befreit.
Eonwe, Herold Manwes und Oberster der Maiar, hatte keinen Zweifel daran. Wer auch immer diese Wachen ermordet hatte, es war nicht Daenor gewesen. Er hätte diesen Ketten allein nicht entkommen können. Außerdem war nirgendwo ein Schiff gestohlen worden. Und hielte sich Daenor noch in Aman auf, dann wüssten sie es.
Also war jemand von außerhalb gekommen.
Aus Mittelerde.
"Ihr alle wisst, warum wir hier sind."
Begann Manwe, der Herr der Valar, die Versammlung und riss Eonwe aus seinen Gedanken. "Daenor Chelhathol ist befreit worden. Und ich denke, es ist allen klar, von wem."
Ein einstimmiges Nicken.
Eonwe hatte anfangs seine Zweifel gehabt, was die Annahme betraf, dass Sauron Daenor aus Valinor geholt hatte - er wusste um die Verachtung zwischen den beiden - aber schon allein die Tatsache, dass niemand die Flucht zunächst bemerkt hatte, ließ auf mächtige Tarnzauber schließen.
Und ein menschlicher Hexenmeister wäre dazu schlicht nicht in der Lage.
So war Sauron die einzige verbleibende Option.
Eonwe wollte sich nicht vorstellen, wozu die beiden zusammen fähig sein könnten.
Denn auch wenn Daenor, im Gegensatz zu Sauron, kein Zauberer war, so war er doch ein hervorragender Soldat.
Und ein ausgezeichneter Heerführer.
Der Elb war nicht ohne Grund Morgoths Kriegsherr gewesen.
Gleich nachdem man die beiden toten Wachen entdeckt hatte, hatten die Valar ihr Möglichstest getan, um Daenor zu finden. Doch selbst Ulmo war bei der Suche erfolglos geblieben. Von ihm fehlte jedwede Spur.
Er war den Valar entkommen.
Und würde das Festland bestimmt bald erreichen.
"Tatsache ist," fuhr Manwe nach dieser bedeutungsschweren Pause fort, "Dass unser Gefangener wieder in sein altes Umfeld zurückgekehrt ist. Und wir alle wissen, welchen Schaden er anrichten kann.
Deshalb muss er zurück nach Valinor gebracht werden.
Oder getötet." Fügte er leise hinzu.
Getötet.
Eonwe lief es kalt den Rücken hinunter.
Daenor und er mochten schon seit langem keine Freunde mehr sein, doch er konnte den Gedanken, ihn hinzurichten, dennoch nicht ertragen.
Er fühlte sich dem Elben immer noch auf irgendeine Weise verbunden. Das allein war der Grund gewesen, warum er Daenor regelmäßig besucht hatte. Eonwe brachte es einfach nicht über sich, ihm gänzlich den Rücken zuzuwenden.
Dann hatten die Valar Manwes Worte ausreichend bedacht und Mandos erwiderte:"Du sprichst von Gesandten. Von Jägern."
Der Herr der Valar nickte nur.
Man hörte immer noch den Ärger aus der Stimme des Schicksalsrichters heraus.
Eonwe konnte es ihm nicht verdenken. Nicht nur wegen den beiden getöteten Wachen - ihre Geister blieben in seinen Hallen. Aber es war noch niemandem je gelungen - er hatte Hilfe oder nicht - aus Mandos' Veste zu fliehen.
"Wen sollen wir schicken?" Das war Oromé.
"Ich werde gehen."
Eonwe hatte es gesagt, bevor er es zurückhalten konnte. Plötzlich waren alle Augen auf ihn gerichtet. Sowohl die der Maiar an den Seiten sowie die der vierzehn Valar. Selbst Manwe hatte sich zu ihm umgedreht.
Eonwe schluckte.
"Ich bringe ihn zurück nach Valinor."
Gegenüber von Manwe schnaubte Tulkas verächtlich. "Das habe ich irgendwo schonmal gehört."
Jetzt konnte Eonwe sein Zusammenzucken nicht mehr verhindern. Tulkas hatte recht. Bevor sie Morgoths Festung angegriffen hatten, hatte Eonwe Daenor angeboten, mit ihnen nach Valinor zurückzukehren.
Er hatte abgelehnt.
Er hatte nur gelacht.
Eonwe hatte Daenors Willenskraft damals beinahe bewundert. Er wusste genau, wie Daenor seine Chancen eingeschätzt hatte. Er war sich der sicheren Niederlage bewusst gewesen. Und doch hatte er Morgoth die Treue gehalten. Morgoth und seinen Männern. Die nur wegen Daenor noch auf der Mauer gestanden hatten.
Aber diesmal würde Eonwe nicht versagen.
Denn diesmal war es kein Angebot.
Diesmal war es Daenors letzte Chance.
Also sah Eonwe zu Manwe.. Flehentlich.
Es war Varda, die diese wartende Stille durchbrach:
"Du kennst ihn von allen am Besten, Eonwe. Ich glaube, wenn ihn jemand ohne größeren Schaden zurückbringen kann, dann du."
Der Maia nickte ihr dankbar zu, doch auch dafür hatte Tulkas einen Kommentar:"Ja, falls er ihn zurückbringt."
Manwe brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen, sagte jedoch:"Er hat nicht ganz unrecht. Außerdem ist einer allein für eine Solche Mission zu wenig." Er nickte in die Menge. "Vadrion wird dich begleiten.
Brecht bei Sonnenaufgang auf."
Eonwe fluchte innerlich.
Natürlich.
Natürlich stellten sie ihm jemanden wie Vadrion an die Seite.
Der Maia war in den ersten Jahren von Daenors Gefangenschaft einer seiner Wachen gewesen. Da der Elb sich aber eben in dieser Zeit noch einen Spaß daraus gemacht hatte, die Wachen zu provozieren, hatte er den impulsiven Vadrion mit seinen arroganten Beleidigungen und seinem Hang zum Sarkasmus sehr schnell in Rage gebracht.
Bis der Maia irgendwann die Nerven verloren und Daenor zweimal mit voller Wucht geschlagen hatte- und ihm dabei den Kiefer gebrochen hatte.
Der Elb hatte ihn jedoch trotz der Schmerzen, die er gehabt haben musste, lediglich ausgelacht - zumindest, soweit es ihm mit einer solchen Verletzung möglich gewesen war.
Hätte ihn die zweite Wache nicht festgehalten, hätte ihn Vadrion daraufhin vermutlich umgebracht.
Eonwe war nichts anderes übriggeblieben, als Vadrion sofort vom Wachdienst abzuziehen.
Er war dabei gewesen, als ihre Heiler den Elben verarztet hatten- er hatte ausgesehen wie ein Dämon, das Gesicht zu einer Maske aus Blut erstarrt, die schwarz-silbrigen Augen blitzend.
Schon allein darum hätte Eonwe lieber jemand anderen bei sich.
Denn wenn er eines über Daenor wusste, dann, dass er wenig vergab und nichts vergaß.
Ein Zusammentreffen mit Vadrion konnte furchtbar enden...
Eonwe war so in Gedanken versunken, dass er gar nicht bemerkte, dass Manwe die Versammlung beendete.
Als der Vala aufstand und sich zum gehen wandte, trat Eonwe an ihn heran.
"Mein Herr?"
Manwe drehte sich zu ihm um. "Was gibt es, Eonwe?"
"Warum ausgerechnet er?"
Der Herr der Valar verschränkte die Arme vor der Brust und sah seinem Herold in die Augen.
"Weil Tulkas recht hat. Ich gestatte dir diese Mission eigentlich nur, weil du Chelhathol von uns allen wirklich am besten einschätzen kannst. Aber es kann trotz deinen Versuchen, das Ganze friedlich zu regeln, dennoch dazu kommen, dass ihr ihn töten müsst. Und dann brauchst du jemanden, der nicht zögert."
Es lag Eonwe schon auf der Zunge, diese Aussage von sich zu schieben, doch das wäre eine Lüge.
Ja, es stimmte.
Er würde zögern.
Vielleicht nur einen Augenblick, aber ein Augenblick konnte alles verändern. Ein Augenblick war alles, was Daenor brauchte, um zu fliehen. Oder zu töten.
"Ich verstehe."
"Doch ich habe ihn nicht nur deshalb zu deinem Gefährten bestimmt. Es gibt Dinge, die du nicht über Vadrion weißt. Wenn der Zeitpunkt kommt und du an Jemandes Glaubwürdigkeit zweifelst, dann vertraue auf sein Urteil."
Manwe sah, wie Eonwe widerstrebend nickte und sein Blick wurde sanfter. "Ich weiß, dass dir immer noch etwas an diesem Elb liegt. Aber Eonwe, denk daran: Jetzt ist er nicht mehr der, den du vor so langer Zeit in Valinor kanntest.
Er ist der schwarze Kriegsherr von Morgoth, er trägt diesen Titel mit Stolz. Und er wird sich auch dementsprechend verhalten."
Der Maia seufzte. "Ich werde ihn nicht töten, solange es nicht unbedingt nötig ist. Aber ich werde ihn als den Feind sehen, der er ist."
"Viel Glück, Eonwe."
War Manwes einzige Antwort.
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