Kapitel 27 | Die Wahrheit - Teil 2
Als Daenor Saurons Präsenz dieses Mal wahrnahm, spürte er als erstes eine argwöhnische Überraschung bei dem Maia - natürlich, schließlich war es erst einige Stunden her, seit sie das letzte Mal Kontakt zueinander aufgenommen hatten.
-Daenor?
Normalerweise hätte Daenor Saurons Vewirrung genossen, doch nun war er in Eile. Und es gab Wichtigeres als ihre alte Rivalität.
-Sauron. Es geht um die Verschwörung, von der du gesprochen hast. Ich habe etwas herausgefunden. Sie reicht bis in die höchsten Kreise.
Im nächsten Moment spürte Daenor durch die Verbindung, die der Palantir schuf, ein Wirrwarr verschiedenster Emotionen: Verwirrung, Erstaunen, Sorge - doch alles wurde überlagert von verschlingender, feuriger Wut.
-Von wem sprichst du?
-Von Asrán, Sauron. Er bereitet etwas vor.
Kurz glaubte Daenor, etwas wie Schrecken und Argwohn wahrzunehmen, doch das Gefühl verschwand so schnell, wie es gekommen war.
-Asrán ist loyal!
Ertönte Saurons Stimme mit unerwarteter Heftigkeit,
-Ich hätte es gespürt, wenn er mich belogen hätte!
-Sauron, ich bin mir sicher.
antwortete Daenor bemüht ruhig und verbarg seine wachsende Verwirrung und Wut so gut es ging. Seit wann gingen Sauron die Taten seiner Gefolgsmänner so nahe? Was war hier los?
-Asrán ist nicht in Mordor.
Wie soll er dafür verantwortlich sein? Er...
Daenor hörte ihm nicht mehr zu. Er hatte etwas anderes bemerkt. Eine Art Bild, ein Gedanke, der sich in Saurons Geist abspielte, während er sprach.
Der Elb erinnerte sich an die Worte des Maia, als dieser ihm erklärt hatte, dass der Palantir die Einsicht auf die vordersten Gedanken des jeweils Anderen gewährte.
Saurons Verhalten hatte seinen Argwohn geweckt.
Während der Maia seinen Satz weiterführte, konzentrierte sich Daenor auf das, was dahinter lag...
Es war eine Erinnerung, erkannte er.
Plötzlich sah er den kreisrunden Raum in der Spitze von Barad- dûr, und er sah ihn durch Saurons Augen.
Das Bild wirkte ausgegraut und seltsam verzerrt, doch die Szenerie war deutlich zu erkennen:
Vor ihm kniete Asrán.
Der Mensch hatte den Kopf gesenkt; er wirkte angespannt, nervös und auch übermüdet.
"Mein Herr. Ich...ich verstehe nicht," sagte er gerade, "Was hat das zu bedeuten? Wie...warum?"
"Weil ich ihn brauche!", herrschte Sauron Asrán an, der daraufhin den Kopf noch weiter einzog, "Ich brauche einen zweiten Heerführer, einen zweiten Strategen an der Spitze!"
"Aber warum sollten wir ihn dann-", setzte Asrán an, aber Sauron schnitt ihm das Wort ab.
In Daenor breitete sich langsam ein Verdacht aus, den er nur zu gern ignoriert hätte. Doch dann begann der Maia zu sprechen:
"Daenor," meinte Sauron abfällig, "Wird niemals akzeptieren, dass ich nun der dunkle Herrscher bin. Er wird nicht von seinen Vorstellungen ablassen. Doch die Zeit von Morgoth ist vorbei."
Der Elb fühlte sich, als hätte ihm ein Troll ins Gesicht geschlagen. Aber wenn Sauron nicht...
"Gewinn Daenors Vertrauen," wieß er Asrán an und unterbrach damit die Gedanken des Elbs, "Bring ihn zu mir. Und wenn er getan hat, wofür er gebraucht wird," sprach er weiter, und ein eisiges Lächeln zog sich über die geisterhaften Lippen,
"Dann töte ihn."
"Natürlich, mein Herr," erwiderte Asrán, doch Daenor hörte ihn nur noch verzerrt. Sauron hatte...er hatte...
Und noch immer sah Daenor durch die Augen des Maias, er fühlte nichts als einen Nachhall seiner Bosheit, seiner Zufriedenheit, seiner Hinterlist.
Saurons Emotionen überlagerten seine eigenen, fluteten in ihn hinein, erstickten alles andere.
Nach allem brauche ich ihn doch noch, hörte Daenor wie aus weiter Ferne Sauron denken, während sich Asrán erhob und den Raum verließ, Und es wäre alles so perfekt eingefädelt gewesen...
Und dann rutschte Daenor in eine weitere Vision. Nein, keine Vision.
Eine Erinnerung in einer Erinnerung.
Er sah die Ebenen von Anfauglith.
Angband rauchte in der Ferne, der Himmel war dunkel und dort, nicht weit von dem Ort, an dem Sauron stand, lief ein einzelner Ork, so schnell ihn seine Beine trugen. Er umklammerte einen langen, schmalen Gegenstand.
Das war nicht irgendein Ork, erkannte Daenor, der nichts empfinden konnte außer Saurons bösartigen Absichten - sondern Dargash.
Hilflos sah Daenor durch Saurons Augen, wie der Maia eine Hand hob.
Ein Ork, der neben ihm stand, nickte, ein Bogen spannte sich...
Dargash fiel ohne einen einzigen Laut.
Die Erinnerung fuhr genadenlos fort, machte einen Sprung, zeigte den sterbenden Ork von Nahem.
Hilflose Wut stand in seinen Augen, als er Sauron erkannte.
Er hatte versucht, sich den Pfeil aus dem Körper zu ziehen und hatte dabei den Pfeilschaft gebrochen.
Seine Rechte Hand umklammerte Nauring, die Linke die Waffe, die ihm den Tod bringen sollte, das gesplitterte Holz war noch nass von seinem Blut...
"Hilf...ihm," stieß der Ork plötzlich hervor, "Mach schon..."
Blut bahnte sich seinen Weg aus seinem Mundwinkel, seine Stimme klang erstickt, als seine Lunge ihm Stück für Stück den Dienst verweigerte...
"Niemand wird ihm helfen, wenn du nicht mehr da bist. Niemand wird ihn retten, Ork," kam es von Sauron, der sich über den Sterbenden beugte, die Hand ausstreckte...
Mit einem Mal endete die Erinnerung, Daenor war wieder er selbst, er stand in Pelargir, im Raum des Kommandanten und hatte die Hand auf den Palantir gelegt.
Und wie eine sturmgepeitschte Welle brachen all die Emotionen über ihn herein, die Saurons Erinnerungen unterdrückt hatte.
Er fühlte sich, als hätte Jemand eine Eisenklammer um seine Brust geschlungen; er war kaum in der Lage zu atmen. In seinem Kopf wirbelten Gedanken wild durcheinander, brüllten, schrien, rangen um die Vorherrschaft.
-Verstanden?,
Durchschnitt Saurons Stimme plötzlich das Chaos,
-Wenn Asrán nicht in Mordor ist, kann er nichts mit der Verschwörung zu tun haben.
Was? Wie?
Dann begriff er.
Sauron wusste nicht, dass Daenor all das gesehen hatte. Er hatte es nicht bemerkt. Er sprach vom gleichen Thema wie zuvor. Irgendein Teil von ihm bemerkte mit Erstaunen, dass diese Erinnerungen nur so lang gedauert hatten, wie Sauron für einen Satz gebraucht hatte.
-Halt die Augen weiter offen und sag mir, wenn du etwas Stichhaltigeres gefunden hast.
Daenor war nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.
Er fühlte sich benommen, als wäre er betrunken, halb erstickt oder gerade aus dem schlimmsten Albtraum seines Lebens aufgewacht.
-Ja,
Stieß er hervor.
Dann riss er seine Hand von dem Palantir los und stolperte nach hinten. Er streckte den Arm aus, um sich an der Wand abzustützen. Um etwas Wirkliches in dieser berstenden Realität zu spüren, als ihn das Gefühl überkam, die Welt war in Scherben geborsten.
Er glaubte, der Boden würde unter seinen Füßen einbrechen und er würde fallen, immer weiter und weiter, in verschlingende Finsternis hinab.
Hätte er noch klar denken können, dann hätte er vermutlich um sein Leben gefürchtet, er hätte sich gefragt, was für ein verschlagenes, doppeltes Spiel Asrán eigentlich spielte, da die Erinnerungen Saurons im absolutem Gegensatz zu dem Gespräch von vorhin standen.
Doch er konnte es nicht.
Dann töte ihn...
Dargash und der Pfeil...
Niemand wird ihm helfen...
Daenor schnappte nach Luft, sein Sichtfeld verengte sich.
Weg, brachte sein Kopf zustande,
Er musste sofort weg.
Daenor wusste nicht, wie er den Weg durch die Stadt fand, doch plötzlich lief er auf das offene Tor zu, durch das die Nachtpatrouille gerade heimkehrte.
"Soldat!", herrschte Daenor den ihm am nächsten Stehenden Menschen an, der gerade eben von seinem Pferd stieg und sich erschrocken zu ihm umdrehte.
Ohne auf eine Erwiderung zu warten, schwang Daenor sich auf das Pferd und hieb ihm die Fersen in die Flanken.
Er preschte los, durch die Tore von Pelargir, ohne zu wissen, wohin er ritt.
Weg.
Es interessierte ihn nicht, ob Asrán und Gorog noch auf der Mauer standen, es war ihm egal, ob ihnen jemand sagte, dass er verschwunden war.
Die schreienden Stimmen in seinem Kopf waren alles, aus dem die Welt bestand.
Alles, was existierte.
Er wusste nicht, wann das Pferd stehen blieb.
Nur, dass es irgendwo im Grasmeer des südlichen Gondors war, so verloren, wie er sich selbst fühlte.
Daenor saß ab.
Ziellos stolperte er einige Schritte nach vorne und brach auf die Knie.
Seine Hände gruben sich in den lockeren Boden, als versuchten sie, Halt zu finden, als sein Kopf endlich imstande war, aufzufassen, was geschehen war.
Er bemerkte gar nicht, dass er sich dabei die Handflächen aufriss.
Sauron hatte ihn verraten.
Er wollte ihn beseitigen lassen.
Sauron war kein treuer Diener Morgoths mehr. Angband bedeutete nichts mehr für ihn.
Und Daenor...Daenor hatte ihn geschützt. Hatte den Zorn der Valar über sich ergehen lassen, hatte all die Jahrtausende in ihren Kerkern ausgeharrt.
All das Leid und die Angst und der Wahnsinn - umsonst.
Der Zorn, der Daenor durchströmte, der die Stimmen verschlang und seine Benommenheit fort trug, glich einem reinen, verheerenden Feuer, als er den Kopf in den Nacken legte und schrie.
Er schrie, als tief in ihm etwas so endgültig zerbrach, dass er den Schmerz beinahe fühlte.
Alles was er getan hatte.
Alles was geschehen war.
Es war alles umsonst.
Umsonst, umsonst, umsonst.
Regen setzte ein, er spürte die Tropfen, die auf sein Gesicht fielen, die sich mit den Tränen vermischten, die sich letztendlich ihren Weg bahnten.
Das kühle Wasser rann an ihm hinab, es löschte die Flammen seines Zorns und spülte die Asche weg, bis nichts mehr blieb als ohnmächtige Leere, die ihn mit ihrem klaffenden Nichts erfüllte.
Er fühlte sich, als könnte er nie wieder in der Lage sein, irgendetwas zu empfinden.
Lange kniete er so da und fragte sich nur, wie er jemals so dumm hatte sein können, Sauron zu vertrauen.
Den Lügen des großen Täuschers zu glauben.
Und in dieser Leere, in der jeder Gedanke kam und bedeutungslos verhallte, fügten sich die Teile des Rätsels zusammen, die seltsamen Andeutungen, das unerklärliche Verhalten.
Sauron hatte ihn benutzt.
Er wollte Morgoth nicht zurückbringen, nein.
Er wollte die Herrschaft.
Also hatte er Asrán auf ihn angesetzt, um ihn zu beseitigen, sobald er nicht mehr gebraucht wurde.
Doch gleichzeitig arbeitete Asrán mit den Aufständischen zusammen und hinterging damit Sauron.
Jeder rammt jedem ein Messer in den Rücken.
Bedeutete das, dass Asrán Saurons Befehl verweigern würde? Nein, natürlich nicht.
Er würde sich verraten, würde er das tun.
Außerdem - im Moment stellte Daenor für die Aufständischen eine ebenso große Bedrohung dar wie für Sauron.
Daenor war nur ein unwissender Teil dieser ganzen Scharade, eine Spielfigur auf diesem Schachbrett aus Lügen, die man beiseite schob, sobald sie zur Last wurde.
Und wenn die Aufständischen eine weitere Lüge waren?
Ein weiterer Trick Saurons?
Nein.
Es gab keinen Sinn.
Sauron hatte Asrán verteidigt und zwar nur deswegen, weil er gedacht hatte, Daenor hätte irgendwie von seinen Befehlen erfahren.
Doch ihm von einer Verschwörung zu erzählen und ihn wachsam zu machen?
Nein.
Es gab diese Verschwörung wirklich.
Und Asrán hinterging Sauron ebenso, wie der Maia Daenor hinterging.
Und dann wanderten seine Gedanken zu der zweiten Erinnerung, vor der er bis jetzt zurückgeschreckt war...
Warum?
Warum hatte Sauron Dargash getötet?
Die Antwort, kam ihm bitter in den Sinn, lag auf der Hand.
Sauron hatte nie vorgehabt, Daenor zu befreien. Er hätte ihn den Valar überlassen.
Und Dargash hätte ihn nie im Stich gelassen. Er hätte eine schwindend geringe Chance gehabt, Daenor zu befreien - aber nichtsdestotrotz eine Chance.
Deshalb hatte er sterben müssen.
Um die letzte Gefahr zu bannen, die Daenor für Sauron darstellen könnte.
Dies war der Grund, warum Sauron ihn erst jetzt befreit hatte, im dritten Zeitalter, nachdem sein erster Krieg fehlgeschlagen war.
Weil jedes einzelne seiner Worte eine Lüge gewesen war.
Daenor spürte den Hass, der durch seine Adern kroch, die Leere in ihm mit seiner tödlichen Kälte ausfüllte.
Mit einem einzigen Gedanken, einem einzigen, kristallklaren Ziel, das sich vor seinem inneren Auge auszubreiten begann, so wie Blut aus einer tödlichen Wunde floss.
Sauron würde bezahlen.
Für jede Lüge.
Für jeden Verrat.
Für jeden Tropfen Blut.
Mae Govannen!
Wir sind am Ende von "Teil 1 - Ein Funke im Schatten" angelangt!
Am Ende des ersten Aktes sozusagen!
Was hat euch bis jetzt am besten gefallen?
Ich würde mich sehr über eure Rückmeldung freuen!
LG m_r_480
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