Kapitel 26 | Die Wahrheit - Teil 1

Bei all den Mächten, die diese Welt heimsuchen...was tue ich hier eigentlich?
Es war die Frage, die ihm durch den Kopf ging, seit er in der Dämmerung auf den Wehrgang der Hafenmauer gestiegen war. Daenor wusste nicht genau, wie viel Zeit bereits vergangen war, doch mittlerweile herrschte tiefe Nacht.

Was tue ich hier?
Es war sein Plan gewesen, Asrán und Gorog an Sauron auszuliefern, ihn zu warnen, dass diese Verschwörung, dieser Verrat, bis in so hohe Kreise führte.
Daenor erkannte Angst, wenn er sie sah, und die blanke Furcht in den Augen der Menschen, war alles, was er gebraucht hatte.
Alles, um sich sicher zu sein.

Sie hätten auf Daenors Anspielung niemals so reagiert, wenn sie nicht zumindest Bescheid wussten.
Das war keine Unruhe.
Das war die Reaktion von jemandem, der um sein Leben fürchtete.

Doch von der Entschlossenheit, die er vor dem Tor verspürt hatte, war nichts mehr übrig.
Sie war mit jedem Schritt geschwunden, den er in Richtung des Palantir gemacht hatte - und irgendwann hatte er vor diesem Tisch im Raum des Kommandanten gestanden und hatte die verschlossene Kiste einfach nur angestarrt.

Plötzlich war er sich alles andere als sicher.
Konnte Asrán dennoch unschuldig sein?
Konnte Daenor sich irren?
Denn wenn er es tat, überließ er nicht nur Asrán und Gorog, sondern auch ihr nahes Umfeld Saurons Gnade.
Und Daenor kannte Sauron gut genug, um zu wissen, was das zu bedeuten hatte.

Irgendwann hatte er sich einfach umgedreht und war gegangen - nein, er war geflohen, vor diesem verdammten Zögern, dass er selber nicht verstand.

Daenors Hände krallten sich in die steinerne, vom salzigen Meerwind zerfressene Brüstung, so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.
Jetzt, wo er sich etwas beruhigt hatte, hatte er eine sehr passende Vermutung für das, was gerade mit ihm passiert war:
Er wollte schlicht und ergreifend nicht noch einmal sinnlos gute Soldaten verlieren.

Hatten ihn diese Niederlage in Angband und all die darauffolgenden Jahre wirklich dermaßen gebrochen, dass er sich einer solchen Entscheidung nicht mehr sicher war?
Daenor seufzte und schüttelte den Kopf. Was für ein Anführer war er, wenn er nicht einmal einen beinahe sicheren Verräter ausliefern konnte?
Er hatte seine eigenen Empfindungen niemals über seine Pflichten gestellt.
Niemals.

Plötzlich hörte er etwas anderes.
Schritte. Und Stimmen.
Daenor schoss hoch und lauschte auf die sich nähernden Geräusche.
Zwei oder drei Personen.
Und eine Stimme erkannte er auf Anhieb. Gorog.
Der Elb fluchte und trat von der Mauer zurück.
Neben ihm ragte ein Wachhaus auf, das von Innen auf die Mauer führte, so, wie auch am anderen Ende der Mauer eines stand und in die Hafenkaserne führte.

Daenor trat in das Haus und schloss die Tür bis auf einen Fingerbreit, sodass er immer noch in der Lage war, zu hören, was gesagt wurde.
Die Grübeleien und Zweifel in seinem Kopf waren verstummt und zurückgeblieben war nur der Wunsch, sich der Loyalität dieser Männer endlich sicher sein zu können.

Die Schritte - Daenor war sich nun fast sicher, dass sie zu zweit waren - kamen näher und verstummten schließlich.
Sie schienen von einer der äußeren Treppen auf die Mauer gekommen zu sein.
Dann ertönte eine ruppige Stimme, die eindeutig Sarodis gehörte: "Zum letzten Mal: Das kannst du nicht wissen."

"Oh doch," brummte Gorog, "Das kann ich. Er weiß Bescheid, das hätt' jeder Blinde gesehen. Aber red' du nur. Du bist ja in Sicherheit."
Obwohl die Tür fast vollständig geschlossen war, drückte Daenor sich noch etwas tiefer in die Schatten.
"Nein. Ist er nicht," sagte plötzlich eine dritte Person.
Asrán.
Der Elb unterdrückte einen Fluch.
Er hatte ihn überhört. Der Rote Tod von Mordor war derart geschickt darin, sich lautlos zu bewegen, dass das lauteste von ihm verursachte Geräusch vermutlich sein Herzschlag war.
"Glaubst du wirklich," fuhr Asràn scharf fort, "Dass er denkt, das sind nur wir beide? Glaubst du wirklich, er ist ein solcher Narr? Wenn, dann liegen wir gerade alle unter'm Fallbeil, Gorog."

"Asrán hat recht, Gorog," mischte sich Sarodis wieder ein, "Karíl und ich stehen euch zu nahe. Genauso wie die meisten Hauptmänner. Garos, Ranik...niemand würde uns für unschuldig halten. Und die Eisklinge schon gar nicht."

Asrán und Meras haben die anderen also gewarnt. Oder zumindest Sarodis und Karíl, dachte Daenor. Er wusste nicht genau, ob es ihn beunruhigen oder freuen sollte. Auf der einen Seite, würde ihre Angst sie zu undurchdachten Entscheidungen drängen.
Auf der anderen bedeutete das, dass sie - auf jeden Fall teilweise - auf ihn vorbereitet waren.
Doch zumindest einer Sache konnte er sich sicher sein: dass er mit seiner Vermutung und seinem Misstrauen von Anfang an recht gehabt hatte.
Sie waren nichts als treulose Verräter.

"Die Eisklinge," schnaubte Gorog, "ist ein Mann."
"Er ist eine Bedrohung," zischte Sarodis zurück. Daenor konnte die drei nicht sehen, doch er hörte, wie Sarodis ein paar Schritte vor trat. Vermutlich hatte er sich vor Gorog aufgebaut.
"Wenn er etwas weiß," fuhr der Heiler fort, "Dann hat er uns in der Hand. Wem, denkst du, wird Sauron glauben? Dir oder ihm?"

"So weit war ich auch schon," knurrte Gorog und trat, den Geräuschen nach zu urteilen, ein paar Schritte zurück.
"Was sollen wir tun, Asrán?", wandte sich der Ältere Mensch an seinen Kommandanten.
Daenor horchte auf.
Wenn er wusste, was sie planten, dann konnte er sich vorbereiten.

Der Mensch, der während des Streits der beiden geschwiegen hatte, seufzte tief. "Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, weil ich ihn nicht einschätzen kann. Ich -"
"Ich sage," warf Gorog gereizt ein, "Wir bringen ihn um. Jetzt sofort."
Versuch es, dachte Daenor mit wachsendem Zorn, während er mit dem Daumen über Naurings Parierstange strich.

"Und wie genau," rief Asrán gedämpft, mit dem Tonfall einer Person, die sowohl mit ihren Nerven als auch mit ihrer Weisheit am Ende war, "Stellst du dir das vor?"
Daenor dachte an sein Gespräch mit Sauron in Barad-dûr zurück. Der Maia hatte ihm gesagt, dass Asrán vielleicht ein guter Krieger war, doch kein Anführer und kein Stratege.
Diese Leute zählen auf ihn und er kann damit nicht umgehen. Gut...Ein schwaches Glied und die Kette reißt. Dann fällt alles auseinander.

Gorog schnaubte. "Na ganz einfach. Wir-"
"Es geht nicht darum, wie man ihn tötet, du Idiot," schnitt ihm Sarodis ungehalten das Wort ab, "Ihm im Schlaf die Kehle aufzuschlitzen ist nicht das Problem."
Asrán machte ein Geräusch, das eine Mischung aus einem Schnauben und einer Art bitterem Gelächter war.
"Seid euch da nicht so sicher," murmelte er.

Daenor spürte ein Gemisch aus Trauer, Wut und Verachtung in sich hochsteigen, als er da in den Schatten stand und keine drei Meter von ihm entfernt drei seiner Soldaten dabei zuhörte, wie sie über seine Ermordung diskutierten.
Es war nicht das erste mal, dass jemand vor ihm darüber sprach, wie man ihn töten sollte - wenn es jemand geschafft hatte, ihn gefangen zu nehmen, war es ein beliebter Zeitvertreib der Noldor gewesen - doch es war das erste Mal, dass es Leute taten, auf die er sich einmal verlassen hatte.
Die er als seine Männer betrachtete.

Daenor dachte daran zurück, wie er damals Asrán im Halbschlaf angefallen hatte und ihn fast getötet hätte - was vermutlich auch das war, worauf der Mensch gerade anspielte. Im Nachhinein betrachtet schien es ihm besser, er hätte es getan.

"Aber Sarodis hat recht," fuhr Asrán fort und riss Daenor damit aus seinen düsteren Gedanken, "Es geht darum, wie wir das erklären. Wie ich das erkläre. Was soll ich sagen, wenn ich ihn jetzt töte?"
Wenn er mich jetzt tötet? Was meint er damit, dachte Daenor verwirrt und schloss die Hand fester um Nauring, suchte Ruhe in dem kompromisslosen Stahl. Es hörte sich fast so an, als hätte Asrán einen Befehl, den er nicht brechen durfte...

"Wir müssen etwas tun. Ich werd' nicht dasitzen und darauf warten, dass sich die Schlinge zuzieht," meinte der Ork. Mittlerweile hatte sich Sorge in seine zuvor noch so selbstbewusste Stimme gemischt.
"Das stimmt," erwiderte Sarodis, "Ich ganz sicher auch nicht. Aber was immer wir tun, wir müssen es schnell tun. Wer weiß, was dieser Elb plant..."

"Ihr habt beide recht," schaltete sich nun Asrán ein. Daenor hörte, wie er Luft holte und sie zischend zwischen den Zähnen wieder ausstieß.
Wie die falsche Schlange, die er ist.
"Wir müssen handeln. Jetzt. Falls Daenor uns in der Hand hat, müssen unsere Leute vorbereitet sein." Asráns Stimme klang fester und entschlossener als zuvor.
"Wir müssen unsere Leute in Mordor kontaktieren. Sie sollen sich bereithalten und auf das Schlimmste gefasst sein. Und sie sollen bereit sein, zuzuschlagen."

Daenors Kopf schoss in die Höhe.
Bereit sein, zuzuschlagen.
Das war ein geplanter Angriff!
Er hatte genug gehört.
Hatte lange genug gezögert.
Er musste Sauron warnen, bevor er alles aufs Spiel setzte.
Der Maia war seine - ihrer beider - letzte Chance, Morgoth jemals zurückzuholen.
Sauron durfte nicht fallen.

Daenor hatte Morgoth gegenüber einmal versagt.
Nie wieder.
Es war der entscheidenden Gedanke, der, der seine Zweifel und sein anfängliches Zögern für nichtig befand.

Lautlos stieß der Elb sich von der Wand ab, an der er gelehnt hatte, und stieg vorsichtig die innere Treppe des Wachhauses hinab.
Je weiter er sich von der Mauer entfernte, desto schneller wurde er.

Und dann stand er wieder vor dem Tisch und sah auf die Kiste hinab.
Und dieses Mal zögerte er nicht.
Er enthüllte den Palantir, dessen schwarzer Stein im schwachen Licht glänzte.

Erfüllt von kalter Entschlossenheit trat Daenor vor und legte seine Hand auf den Stein.

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