Kapitel 23 | Verdacht
Ich hätte mich nach einem solchen Schlag nicht dermaßen betrinken sollen, dachte Daenor missmutig, als ihm ein weiterer schmerzhafter Stich durch die Schläfe schoss.
Der Elb hatte gewusst, in welcher Verfassung er nach diesem Gelage sein würde - ihm war selbst klar, dass er den Alkohol nicht mehr gewohnt war - doch das war es ihm wert gewesen.
Zu lange war das einzige, was ihn am Leben gehalten hatte, seine angeborene Unsterblichkeit gewesen.
Und jetzt - jetzt ließ Daenor es sich nicht nehmen, jeden Moment wirklich zu leben.
Als der, der er war.
Und dafür nahm er auch ein paar Kopfschmerzen in Kauf - auch wenn sie deswegen nicht weniger lästig waren.
Sie allein hätten ihm den Tag allerdings nicht verdorben.
Doch es wurde langsam Zeit, dass Daenor Sauron über ihre Lage in Kenntnis setzte. Er war nicht in der Stimmung für ein Gespräch mit dem Maia, aber er hatte es nun schon lange genug aufgeschoben. Der Elb seufzte und betrat einen der beiden Räume, die er nun als die seinen betrachtete.
Sie hatten dem Kommandanten gehört, und Daenor hatte sie schlichtweg übernommen.
Beide waren sporadisch eingerichtet.
Während das kleinere Zimmer, in dem er schlief, außer einem kleinen Schrank und einem Bett gar nichts enthielt, war der Raum, den Daenor gerade betreten hatte, mit einem massiven Tisch und einigen Regalen eingerichtet.
Sie waren größtenteils angefüllt mit Büchern.
Manche waren Chroniken, doch meistens handelte es sich um Listen über Schiffsladungen und den stationierten Soldaten. Als Daenor die Listen durchgeblättert hatte, war er leicht überrascht auf Hereths Namen gestoßen, dem Hauptmann, auf den sie auf ihrem Weg nach Mordor getroffen waren. In den Registern galt er als verschollen.
Zwei schmale Fenster in der nördlichen Mauer spendeten gerade genug Licht, um das Zimmer zu erhellen.
Vorsichtig, damit ihm nicht schwindlig wurde, zog Daenor die einfache, zerschrammte Kiste hervor, in der er den Palantir befördert hatte und legte den Stein provisorisch auf den Tisch.
Schließlich legte er widerwillig die Hand auf den Stein.
-Du warst erfolgreich?
Erklang Saurons Stimme beinah sofort in seinem Kopf.
Daenor ignorierte den fehlenden Gruß. Er wollte diese Farce nur schnell hinter sich bringen, und da half es nicht, wenn er einen Streit begann.
-Ja, das war ich.
Kurz legte er die Strategie dar, mit der sie die Stadt erobert hatten, und konnte sich eines stolzen Tonfalls nicht erwehren. Sauron sollte nur wissen, dass er Daenor brauchte.
-Das tue ich allerdings. Meinen Respekt, Daenor.
-Was? Was meinst du mit "Das tue ich allerdings"?
-Du hast es gedacht. Ich soll wissen, dass ich dich brauche. Ich brauche dich tatsächlich.
Daenor blieb kurz die Luft weg, und er unterdrückte das Verlangen, die Hand von dem Stein loszureißen.
-Du kannst meine Gedanken lesen?
-Nein. Ich sehe die Gedanken, die an vorderster Stelle stehen, die, die du mir regelrecht entgegenschreist. Die Magie des Palantir ist längst nicht stark genug, als dass ich in deinen Kopf käme, Daenor.
-Ich verstehe.
Brummte Daenor zurück. Sein Misstrauen gegenüber magischer Artefakte verhärtete sich erneut - diese Information war mehr als beunruhigend. Er wollte nicht, dass irgendjemand wusste, was er dachte. Sein Geist war das einzige, das stets nur ihm selbst gehört hatte.
-Wann bekomme ich Verstärkung?
Fragte Daenor schließlich und konzentrierte sich wieder auf das, warum er eigentlich hier war.
-Du weißt, Sauron, dass ich zumindest ein paar hundert brauche, besser wären in etwa Tausend. Werden wir angegriffen, weiß ich nicht, ob ich die Stadt lange halten kann.
-Mein Angriff auf Osgiliath wird bald beginnen.
Antwortete der Maia. Daenor konnte sich denken, was jetzt kam.
-Deine Verstärkung trifft ein, sobald die Flotte der Umbar bereit ist. Du wirst die Stadt noch ein paar Wochen mit den Mitteln halten müssen, die du hast.
Zu seinem Glück hatte Daenor mit so etwas gerechnet, und hatte es dementsprechend mit in den Plan einbezogen. Dass sie so viele Gefangene genommen hatten, kam nicht von irgendwo. Dennoch ging ihm Saurons Teilnahmslosigkeit gehörig gegen den Strich.
-Das kann ich regeln. Sonst noch etwas?,
Fauchte er der Form halber.
Er war schon dabei, die Hand von dem Palantir zu nehmen, als Sauron sagte:
-Ja. Du musst wachsam sein. Unter meinen Hauptleuten gibt es Anzeichen einer Verschwörung. Jemand versucht, meine Macht zu untergraben.
Daenor glaubte, sich verhört zu haben. Kurz blitzte Asrán in seinem Geist auf, doch er schob den Gedanken beiseite. Er wusste zu wenig, und er wollte nicht riskieren, dass er Sauron gegenüber einen Verdacht äußerte, bevor er sich nicht sicher war. Sauron hatte bei so etwas nie Geduld gezeigt, und Daenor wollte niemanden grundlos ans Messer liefern.
-Weißt du etwas genaues?
Fragte Daenor beunruhigt nach.
-Nur, dass es mehr Auffälligkeiten im Süden gibt. Überfälle, und etwas derartiges. Diese Angriffe kommen von Innen, das ist das einzige, das klar ist. Sie haben sich gegen Mordor gestellt. Wir müssen die Verursacher finden, bevor sie eine Bedrohung werden.
-Ich halte die Augen offen.
-Tu das.
Aufgewühlt nahm Daenor die Hand von dem Palantir und verstaute ihn wieder in seiner Kiste.
Doch während er das tat, schweiften seine Gedanken immer wieder zu Asrán. All diese kleinen Andeutungen...
Er misstraute dem Mann seit dem ersten Tag, und jetzt wusste er vielleicht endlich, was das alles zu bedeuten hatte. Und wenn er eine Gefahr für Sauron darstellte, war er auch eine Gefahr für Daenor.
Andererseits - er konnte sich irren.
Daenor musste herausfinden, inwieweit seine Vermutungen stimmten.
Doch zuerst, sagte er sich, musste er dafür sorgen, dass die Gondoraner sie nicht behelligten.
Die Gefangenen waren ein gutes Druckmittel, um einen Angriff im Keim zu ersticken. Er hatte nicht vor, diese Menschen zu töten. Es genügte das Wissen, dass sie in seiner Gewalt waren, die Drohung, was er tun könnte.
Daenor verließ den Raum, wo Gorog auf ihn wartete. Er befahl dem zweiten Ork, der neben dem Hauptmann stand, ein Pferd satteln und es zu den Toren bringen zu lassen. Außerdem sollte er Asrán dazuholen. Dann bedeutete er Gorog, ihn zu begleiten, und stieg die Treppen zu den Zellen hinab.
Sie brauchten noch jemanden, der dem Truchsess von Gondor Daenors Botschaft überbrachte.
Wie viel könnte Gorog von all dem wissen?
Der Gedanke kam ihm, während er ging, und er erschien ihm nicht einmal unwahrscheinlich. Asrán und der Ork kannten sich zu lange und zu gut. Wenn der eine involviert war, war es der andere mit Sicherheit auch.
Daenor seufzte und versuchte, seine Spekulationen zur Seite zu schieben.
Er sollte noch früh genug erfahren, worum genau es eigentlich ging.
~
Daenor hatte darauf bestanden, den gondoranischen Boten selbst auszuwählen. Asrán stand neben Meras auf dem Hof hinter dem Tor. Der junge Khandrim hielt das Pferd fest, das Daenor zu satteln befohlen hatte, während Asrán mit vor der Brust verschränkten Armen wartete.
Meras strich sich gerade mit einer Hand durch die halblangen, braunen Haare, als er mit der Zunge schnalzte und nach vorn deutete.
"Da kommen sie."
Asrán sah sie auf sich zukommen. Daenor ging voraus, Gorog hatte den gefangenen Mann am Arm gepackt und zog ihn mit sich.
Als sie näherkamen sah Asràn, dass das kein Mann war - das war ein Junge.
Der Khandrim schätzte ihn auf knappe fünfzehn - alt genug, um im Notfall rekrutiert zu werden, und doch viel zu jung für eine Schlacht.
Er zitterte so sehr, dass er ein paar mal stolperte und dann eigentlich nur noch von Gorog aufrechtgehalten wurde, dessen lange Finger um seinen Arm fast ganz herumreichten.
In seinem jungen Gesicht stand blanke Angst.
Zweifellos glaubte er, zu seiner Hinrichtung geführt zu werden.
Als sie bei ihnen angekommen waren, drehte Daenor sich zu dem Jungen um und zog seinen Dolch. Blanke Panik trat in seinen Blick und er wollte zurückweichen, doch Gorogs Griff war eisern.
Der Junge presste die Augen zusammen, als wollte er seinen eigenen Tod nicht mitansehen -
Bei dem dumpfen Geräusch der zu boden fallenden Fesseln öffnete er überrascht die Lider einen spaltbreit.
Erst jetzt schien er das Pferd zu bemerken, das Meras nach wie vor festhielt.
"Rauf da," sagte Daenor und deutet mit dem Kopf auf das Tier.
Der Junge starrte immer noch seine befreiten Hände an, als könne er nicht glauben noch am Leben zu sein.
"Ich rede mit dir! Kannst du überhaupt reiten?"
Der Gondoraner zuckte zusammen. Langsam nickte er, doch er wagte es nicht, Daenor anzusehen.
"Dann steig auf," sagte dieser mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
Gorog ließ den Jungen los, und als sich der Griff lockerte, stolperte der Mensch nach vorn und zog sich in den Sattel.
Unschlüssig saß er da, und schien nicht die geringste Ahnung zu haben, was von ihm erwartet wurde.
Doch da trat Daenor bereits vor.
Obwohl er den Elben von seinem neuen Sitz aus deutlich überragte, zuckte der Mensch sichtbar zurück.
Das Pferd begann, nervös zu tänzeln, als es die Angst seines Reiters spürte.
"Jetzt hör mir gut zu, Kleiner,"begann Daenor,"Reite nach Minas Tirith. Richte deinem Truchsess aus, dass Pelargir nun Mordor gehört. Hast du die Gefangenen gesehen?"
Ein rasches Nicken.
"Es sind neunhundertachtundsechzig Männer. Und sollte dein Truchsess auch nur Anstalten machen, diese Stadt zurückzugewinnen, werde ich sie töten. Bis zum letzten Mann.
Denk daran. Neunhundertachtundsechig Leben, die er wegwirft, sollte er die Waffen gegen uns erheben."
Der Junge starrte ihn an.
Asrán sah Entsetzen und Angst in seinen Augen.
"Jetzt verschwinde," fügte Daenor hinzu und trat einen Schritt zurück.
Meras ließ die Zügel los und tat es dem Kriegsherrn gleich. Der Gondoraner warf einen Blick über die Schulter auf das geöffnete Tor, dann drehte er den Kopf zurück zu Daenor.
Kurz schien ihn seine Angst und seine Ungläubigkeit zu lähmen, doch dann riss er plötzlich an den Zügeln und trieb das Pferd in halsbrecherischem Galopp durch das Tor von Pelargir.
Kaum war er verschwunden, veränderte sich Daenors ganzes Gebahren, seine Haltung entspannte sich, seine Gesichtsausdruck wurde weniger grimmig - und doch wich diese an Grausamkeit grenzende Gnadenlosigkeit nicht ganz aus seinen Augen.
"Warum habt Ihr diesen Jungen als Boten benutzt? Warum nicht jemand anders?", fragte Asrán vorsichtig. Daenor hatte ihm zwar heute Morgen gesagt, was es mit den Gefangenen auf sich hatte, doch er sagte niemals alles, was ihm durch den Kopf ging.
"Weil er nichts weiß, Asrán. Er hat Angst, mehr als die meisten. Er ist zu jung, zu unerfahren für einen Krieg", antwortete Daenor, "Die meisten älteren Soldaten werden sich bereits zusammengereimt haben, dass wir durch die Hafenbecken gekommen sind. Sie können unsere Verluste einschätzen, können das ganze sachlich betrachten. Er kann das nicht. Dafür hatte er viel zu viel Angst."
Asrán nickte. Er wusste nicht ganz, ob ihn Daenors Handeln beeindrucken oder beunruhigen sollte. "Ich verstehe. Durch ihn erfahren sie am wenigsten."
"Ja," erwiderte Daenor, "Angst kann eine mächtige Verbündete sein, wenn man sie richtig einsetzt. Ich benutze sie nicht gern, doch wir sind im Moment nicht in der Position, wählerisch zu sein. Man muss das beste aus dem machen, das man hat. Und alles ausmerzen, was einem Schaden könnte."
Als er diesen letzten Satz sagte, schluckte Asrán unwillkürlich. Er warf einen Blick zu Meras und Gorog, die beide in Daenors Rücken standen, und ebenfalls beunruhigt wirkten. Jedes einzelne Wort des Kriegsherrn hörte sich an wie eine Drohung.
Eine Drohung gegen sie.
Konnte es sein, dass er...
"Es ist gut, dass wir Euch auf unserer Seite haben, Eisklinge," meinte Asrán schließlich, um die Situation etwas aufzulockern, "Es gibt wirklich nichts, was Euch aus der Ruhe bringt."
"Doch",sagte Daenor, der sich bereits zum Gehen gewandt hatte, über die Schulter.
"Verrat."
Asrán wusste, dass ihm die Gesichtszüge entglitten, nur für einen Moment, aber...
Auch Meras und Gorog sahen Daenor hinterher, als er ging, und in ihren Augen stand eine Mischung aus Angst, dunkler Vorahnung und Ungläubigkeit.
Vielleicht war es nur ein Zufall, versuchte der Mensch, sich zu beruhigen, Und er weiß von nichts. Von gar nichts.
Doch seine fadenscheinigen Hoffnungen wären im Wind verweht, hätte er Daenors Gesichtsausdruck gesehen:
Es war die kalte, überlegene Gnadenlosigkeit eines Raubtiers, das sich seiner Beute sicher war.
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