Kapitel 22 | Den Anduin hinab

Während Daenor im Süden seine Stellung festigte, machte sich die Gemeinschaft, begleitet von Eonwe und Vadrion, bereit, Caras Galadhon zu verlassen.
Nacheinander bestiegen sie die schmalen Boote, mit denen sie ihren Weg fortsetzen würden.

Die Boote würden sie bis zum Rauros tragen, einem großen Wasserfall des Anduin. Erst im Laufe der Reise wollten sie entscheiden, welchen weiteren Weg sie nach Mordor einschlagen sollten.

Das Boot schwankte hin und her, als sich zuerst Frodo und dann Sam, der treue Gefährte des Ringträgers, zu Eonwe gesellten.
Pippin, Merry und Boromir teilten sich ebenfalls eines, genauso wie Legolas und Aragorn.
Vadrion hatte sich bei der Ausrüstung einquartiert und bildete die Nachhut.

Während sie langsam aus der Stadt in den Wäldern hinausfuhren, fragte sich Eonwe, ob Vadrion diese Position absichtlich gewählt hatte.
Durch seine Fähigkeiten eignete sich der Herold als Späher, weshalb er voranfuhr und somit den größtmöglichen Abstand zwischen sich und Vadrion brachte.

Es stimmte ja - sie hatten seit ihrer Auseinandersetzung nur miteinander geredet, wenn es um die Reisevorbereitungen gegangen war.
Doch Vadrion hatte bereits deutlich gemacht, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen war.

Er vertraute Eonwe nicht mehr.
Er war sich nicht sicher, ob er sich auf ihn verlassen konnte.
Das Schlimmste war, Eonwe wusste es selbst nicht. Er wusste nicht, was geschehen würde, wenn sie Daenor fanden. Er...

"Eonwe?"

Sams zögerliche Frage riss ihn aus seinen Gedanken. Er hob den Kopf und zwang sich zu einem Lächeln.
"Es ist alles in Ordnung, Sam," sagte er freundlich, "Ich habe bloß nachgedacht."
Der blonde Hobbit nickte.

"Ihr seht besorgt aus," warf Frodo ein, der vor Sam saß und sich umgedreht hatte. Eonwe zog die Augenbrauen hoch. Es ist der Ring, dachte der Maia, Frodo sieht mehr, als er normalerweise sehen könnte. Dieses Ding schärft seine Wahrnehmung.
Eonwe hoffte zutiefst, dass dies der einzige Einfluss war, den der Ring auf den Hobbit hatte.

Doch im Moment schien es nicht so, dass ihn das äußerlich so unscheinbare Schmuckstück in irgendeiner Weise veränderte.
Eonwe richtete seine Gedanken zurück auf die Frage, die ihm gestellt worden war.

"Es ist nichts," wiederholte er, und dieses Mal klang er überzeugender.
Eine Zeit lang schwiegen alle drei, bis Eonwe auffiel, dass Frodo mit einem seltsamen Gesichtsausdruck zum Ufer  blickte.
Als er seinem Blick folgte, sah er zu seiner Überraschung Galadriel, die Herrin Lothloriens, die zwischen den jungen Bäumen stand und ihnen nachsah.

Der Maia schluckte, als sie sich von Frodo abwandte, und ihm in die Augen blickte.
Noch gestern hatten die beiden unter vier Augen gesprochen.
Hatte ihr Gespräch zuerst keinen tieferen Sinn gehabt, so hatten sie doch irgendwann begonnen, über ernstere Dinge zu reden.

Eonwe hatte es vermieden, Daenor zu erwähnen, doch als sich die Gesprächsthemen langsam Valinor und dem ersten Zeitalter zuwandten, rückte der Abtrünnige doch weiter in den Vordergrund.
Und obwohl Galadriels Worte nicht anklagend oder feindselig gewesen waren, so verfolgten sie Eonwe doch mehr als alles, was Vadrion jemals im Zorn von sich gegeben hatte.

Im Nachhinein betrachtet, erscheint mir sein Name wie eine Prophezeiung. Daenor - Schattenfeuer.
Das war er in Valinor.
Ein Funke, der im Schatten brannte, zu klein, um bemerkt zu werden. Ihr wart der einzige, der diesen Funken wahrgenommen hat, Eonwe. Doch nicht einmal Ihr konntet den Flammensturm erahnen, den er entfesseln würde.

Es stimmte.
Daenor war in Valinor so unscheinbar gewesen, so gewöhnlich.
Ja, er hatte schon immer einen Hang zum Sarkasmus besessen, doch das Einzige, das ihn besonders ausgezeichnet hatte, war seine Freundschaft zu Eonwe gewesen.

Und dann war der Tag gekommen, an dem die Valar den Verbannten und den Menschen zu Hilfe gekommen waren.
Eonwe erinnerte sich noch an den Gesichtsausdruck des Noldos, den er nach Daenor gefragt hatte, nachdem sie das Festland betreten hatten.

Ungläubigkeit, Wut, Hass - das alles hatte der Herold in den Augen des Elbs gelesen. Kurz hatte er gedacht, Daenor wäre tot oder gefangen.
Die Wahrheit, und alles, was auf sie folgte, war tausendmal schlimmer gewesen.
Eonwe seufzte und schüttelte den Kopf, in der Hoffnung, seine Gedanken endlich zum Schweigen zu bringen.

~

Als das Licht langsam schwand, zogen sie die Boote aus dem Wasser und lagerten in Ufernähe.
Eonwe kam etwas später dazu, da er sich noch vergewissert hatte, ob ihre Transportmittel auch sicher befestigt waren.

Doch kurz, bevor er aus dem Schatten der Bäume treten konnte, packte eine Hand seinen Arm.
Alamiert fuhr der Maia herum - und sah keinen Angreifer, sondern niemand anderen als Vadrion.

Der Braunhaarige hatte einen Finger an die Lippen gelegt, und deutete mit dem Kopf tiefer in den Wald hinein.
Eonwe runzelte die Stirn, folgte seinem Gefährten aber dann weg von der Gemeinschaft.
"Was ist los?," fragte der Herold und verschränkte die Arme vor der Brust, "Ich bin wirklich nicht in der Stimmung, mich mit dir zu streiten, Vadrion."

"Darum geht es nicht. Zumindest jetzt nicht," erwiderte dieser finster und warf einen Blick zurück, so als fürchtete er, jemand würde sie belauschen.
Eonwe glaubte es nicht. Der Wind wehte, die dichten Blätter der Eichen und Buchen rauschten - so leicht waren Stimmen nicht davon zu unterscheiden.

"Es geht um Boromir," fuhr Vadrion schließlich fort, "Wir müssen ihn im Auge behalten."
Eonwe zog die Augenbrauen hoch. Ja, der Mensch hatte ab und zu seltsam gewirkt, aber...nicht gefährlich.
"Was meinst du?"

"Ich habe ihn beobachtet. Er hat Frodo angestarrt, teilweise minutenlang, mit einem Gesichtsausdruck, der...Ich glaube, es ist der Ring."
Eonwe nickte grimmig. Ihre Auseinandersetzung war fürs Erste beigelegt. "Du meinst er ist ihm verfallen."

"Ja. Oder zumindest fast. Wir müssen vorsichtig sein."
"Ich verstehe."
Das war nicht gut.
Er war dankbar für Vadrions Wachsamkeit und für seine Fähigkeit, solche Dinge sofort zu erkennen - wer wusste, was Boromir anzurichten imstande war, sollte er versuchen, sich den Ring mit Gewalt zu holen.

In stummen Einverständnis gesellten sie sich wieder zu der Gemeinschaft. Es schien Niemanden zu wundern, dass sie zusammen aus den Bäumen traten, und kurz fragte sich Eonwe, mit welcher Ausrede Vadrion die Gruppe verlassen hatte.

Er versuchte, nicht beunruhigt zu wirken, als er sich neben Legolas niederließ.
Die Gemeinschaft debattierte gerade angeregt darüber, welchen Weg sie einschlagen sollten, nachdem sie den Rauros erreicht hatten.

Anscheinend standen zwei Wege zur näheren Debatte: sich über die Emyn Muil zur Nordwestlichen Grenze Mordors durchzuschlagen oder nach Minas Tirith zu gehen, und mithilfe der Ressourcen Gondors ihre nächsten Schritte zu planen.

Während Aragorn den Weg durch die Emyn Muil zu bevorzugen schien, versteifte sich Boromir auf seine Heimatstadt. Eonwe wunderte das nicht. Boromir war - zurecht -  stolz auf seine Abstammung und die Stärke Gondors und verteidigte sie natürlicherweise auch.

Dennoch verstand Eonwe, warum Aragorn das ablehnte. Auch er schien zu fürchten, was der Ring vielleicht anrichten könnte.
Allgemein schien die Auseinandersetzung vor allem zwischen Aragorn und Boromir von Statten zu gehen. Legolas saß schweigend neben Eonwe und verfolgte die beiden Menschen mit den Augen, Gimli warf ab und zu eine Anmerkung ein, und die Hobbits schienen mit der Situation etwas überfordert.

"Ich muss Aragorn rechtgeben," mischte sich Vadrion schließlich ein, "In den Bergen und den Ödländern dahinter, ist es um einiges leichter, wachsamen Augen zu entgehen. In Minas Tirith aber könnte leichter Nachricht nach Mordor gelangen. Und das wäre gefährlich - sowohl für Gondor, als auch für den Ringträger."

"Und was ist mit Euch beiden?", fragte Boromir.

Dieses Mal war Eonwe der, der antwortete: "Für uns wäre es unvorteilhaft, durch die Berge zu gehen, aus ebenjenem Grund, weshalb sie euch helfen könnten: man erfährt nichts. Euer Ziel ist klar, doch wir wissen immer noch nicht genau, wo Daenor sich aufhält."
Er hatte schon vorher länger darüber nachgedacht, und auch Vadrion schien zu demselben Schluss gekommen zu sein.

"Also glaube ich, Vadrion und ich werden nach Minas Tirith gehen, ganz egal, welchen Weg die Gemeinschaft wählt. Wir brauchen Informationen," schloss der schwarzhaarige Maia und blickte in die Runde. Alle nickten zustimmend.

Alle außer Boromir.
Der Mensch starrte zu Frodo. Der junge Hobbit hatte sich vorgebeugt, und ein Teil des Rings blitzte im fahlen Licht.
Ein seltsamer dunkler Ausdruck huschte über sein Gesicht, nur kurz aber er war da.
Eonwe blickte unauffällig zu Vadrion hinüber, der mit einem kaum sichtbaren Nicken andeutete, dass er es ebenfalls gesehen hatte.

Der Ring spielte seine Macht bereits aus.

Eonwe straffte die Schultern.
Sie mussten wahrhaft vorsichtig sein.

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