Kapitel 21 | Siege orkischer Art

Langsam stieg Asrán, gefolgt von Gorog, die Stufen der Festung von Pelargir hinab.
Blutrot schienen die Strahlen der Sonne durch die Mauerdurchbrüche.
Rauch stieg an einigen Stellen der gefallenen Stadt auf, doch größtenteils war sie unversehrt.
So, wie es geplant war.

Pelargir sollte ein Stützpunkt sein, und kein schwelender Trümmerhaufen.
Auf Daenors Befehl hatten sie eine Menge Gefangene genommen. Asrán wusste nicht, warum, doch der Elb würde seine Pläne sicher noch erklären.

Er ließ sich gerade von Sarodis seine Wunden versorgen, nachdem der Khandrim die schwerer verletzten Hauptleute behandelt hatte.
Gorog war einer der wenigen, die er noch nicht versorgt hatte, doch das war, wie Asrán mit einem Blick auf den linken Arm des Orks, der unterhalb des Kettenhemdes nur mit einem dreckigen Tuch verbunden war, bitter nötig.

Schließlich hatten sie den Raum erreicht, in dem sich Sarodis einquartiert hatte und traten ein.
Er lag neben den Soldatenquartieren der Festung und hatte anscheinend schon vorher dazu gedient, Verletzte zu behandeln.

Zwei Tische - einer kurz und schmal, vollgestellt mit allerlei Flaschen und Werkzeugen, der andere niedrig, breit und leer, aber bedeckt mit getrocknetem Blut - nahmen den meisten Platz ein.
Dazwischen standen ein paar einfache Hocker und ein Eimer, über dessen Rand mehrere - teils rot und schwarz befleckte - Lappen hingen.
Über allem lag der scharfe Geruch von medizinischem Alkohol und Blut.

Daenor saß auf einem der Hocker und hatte den Kopf zurückgelehnt, während Sarodis, die dunklen Ärmel bis über die Ellbogen hochgekrempelt, mit schnellen und fachmännischen Bewegungen die Schnittwunde an seinem Kinn vernähte.
So gut es ihm möglich war, ohne sich zu bewegen, folgte der Elb der blitzenden Nadel mit den Augen.
Der Anblick sah beinahe komisch aus.

Schließlich trennte Sarodis den Faden ab und trat einen Schritt zurück.
Daenor nickte dankbar und wollte aufstehen, griff sich dann aber stöhnend an die Schläfe und sank auf den Hocker zurück.
"Ihr müsst einen ziemlichen Schlag auf den Kopf abbekommen haben," merkte Gorog an, der sich den Kommentar offensichtlich nicht verkneifen konnte.

Daenor brummte etwas Unverständliches, erwiderte aber nichts.
Schließlich kam Sarodis von dem Tisch zurück, auf dem er seine Hilfsmittel lagerte, und reichte dem Elb einen Becher.
"Nicht darüber nachdenken, nicht daran riechen, einfach trinken."
Daenor sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, kippte das Mittel aber dann auf einmal hinunter.

Kurz verzog er das Gesicht, doch dann nickte er und gab Sarodis den Becher zurück. "Es war knapp," sagte der Mensch plötzlich, "Dieser Schlag hätte Euch den Kopf kosten können."
Krín, der bei Daenor gewesen war, hatte Asrán und Gorog von dem Kampf zwischen dem Elben und dem Kommandanten erzählt, und wenn er nicht übertrieben hatte, hatte Sarodis recht.
Es war tatsächlich knapp gewesen.

Doch Daenor schnaubte nur.
"Glaubt Ihr wirklich ich lasse zu, dass sich so etwas Banales wie der Tod zwischen mich und meine Ziele stellt?" Er schüttelte den Kopf und erhob sich vorsichtig.
"Der Tod hat mich sechstausend Jahre lang verschmäht, und jetzt kann er ruhig warten, bis ich hier fertig bin."

Er sagte es wie einen Witz, doch Asrán sah ihm an, dass er es absolut ernst meinte.
Dann wandte Daenor ihnen den Kopf zu. "Ich nehme an, Ihr wolltet mir etwas sagen?"
Gorog trat einen Schritt nach vorne. "Wir haben die Toten gezählt."
"Und?"
"Hundertsechundvierzig. Es lief wirklich alles nach Plan."

"Nein," erwiderte Daenor, der zu ihnen getreten war,"Aber es liegt noch alles im Rahmen."
Kurz herrschte Stille, bevor Asrán die Frage stellte, die ihm schon die ganze Zeit im Magen lag:
"Was hat es mit den Gefangenen auf sìch?"
Der Elb lächelte geheimnisvoll. "Später."

Hinter Daenors Rücken verkniff sich Sarodis ein Lächeln, während Asrán seuzte und sich geschlagen gab.
Der Mensch und Gorog wechselten einen Blick und wandten sich dann zum Gehen.
Sie hatten alles gesagt, was es zu sagen gab.

"Gorog."
Der Ork drehte sich zu Daenor um und sah ihn fragend an.
"Sarodis, sieh dir seinen Arm an,"
Sagte er an den Heiler gewandt.
Gorog sah empört von Sarodis zu Daenor und dann zu dem dreckigen Verband um seinen Arm, durch den bereits schwarzes Blut sickerte.

"Mir geht's gut", knurrte er verärgert.
"Tatsächlich?," erwiderte Daenor, mit einem scharfen Funkeln in den Augen - so, als hätte er dieses Spiel schon oft gespielt. "Wenn du in einer Woche wegen einer Blutvergiftung umkippst, sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Und jetzt setz dich hin."

Es war ein Befehl.
Grimmig ließ sich der riesige Ork nieder und funkelte Sarodis an, der das durchgeblutete Tuch von seinem Arm entfernte.
Die Wunde darunter war wahrhaft gefährlich. Sie war lang, gezackt und so tief, dass sie den Muskel aufgerissen hatte. Hautfetzen hingen von den Wundrändern.

Mit einem Anflug von Sorge sah Asrán zu, wie Sarodis sich ans Werk machte. Zu seinem Erstaunen entdeckte er den gleichen Ausdruck in Daenors Augen. Obwohl sein Einwurf zuvor wirklich nicht sehr einfühlsam gewesen war, schien er sich wirklich um seine Männer zu sorgen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Sarodis Gorog zusammengeflickt hatte, viel länger als bei Daenor.
Aber es war notwendig gewesen.

Mit einem tiefen Atemzug stand der Ork auf. "Ich hoffe, die Jungs haben etwas Anständiges gefunden," murmelte er. Asrán warf einen Seitenblick zu Daenor.
Die Männer wollten ihren Triumph feiern, und Asrán wusste nicht, ob der
Elb das guthieß.

Doch der Kriegsherr begann zu Lächeln.
"Allein das Wissen, dass eine Strategie funktioniert hat, ist unbeschreiblich." Das Grinsen wurde breiter, und er wandte den Kopf zu Gorog.
"Aber nichts geht über einen Sieg nach Art der Orks."

~

Das, was Asrán verwunderte, war nicht, dass Daenor das Gelage erlaubte, sondern dass er selbst daran teilnahm.
Er zog sich nicht zurück, sondern mischte sich sofort unter die Soldaten.
Deren anfängliche Hemmungen verschwanden mit der Menge an Grog - oder wie die Orks dieses Gebräu, das sie mitgebracht hatten, auch immer nannten - zunehmend, bald redeten oder besser gesagt schrien sie mit ihm genauso wie mit allen anderen.

Die Menge an Alkohol, die Daenor vertrug, war unglaublich.
Die Orks hatten schnell geglaubt, sie könnten ihren Befehlshaber zur
Besinnungslosigkeit bringen, doch es verhielt sich umgekehrt.

Asrán hatte noch nie jemanden gesehen, der mehr Grog verkraften konnte als ein Ork, doch Chelhathol war seinen Männern mindestens ebenbürtig.
Asrán beobachtete den Kriegsherrn durchgängig. Er war ausgelassen wie noch nie - oder er war einfach dermaßen betrunken.
Asrán wusste nicht genau, was er für wahrscheinlicher halten sollte.

Und doch überraschte ihn die Unbeschwertheit dieses kalten, berechnenden Strategen, den er kennengelernt hatte.
Asrán betrachtete die volle, laute Halle, in der ein Teil der Männer feierte, und konnte zweifellos von sich behaupten, dass er von allen ziemlich der Nüchternste war.
Er hatte noch nie viel vetragen - er schrieb es seiner Statur zu - und trank deshalb beinahe gar nichts.

Allein Sarodis, der neben ihm stand und den Becher in seiner Hand noch kaum angerührt hatte, war ebenfalls noch sicher auf seinen Beinen.
Asrán wollte etwas sagen, als von der gegenüberliegenden Tischseite ein Gebrüll laut wurde, das selbst den allgemeinen Geräuschpegel überstieg.
Im nächsten Moment sprang Gorog auf den Tisch, seine Gleve in der Hand.
Warum er nicht sofort wieder hintenüber kippte, war Asrán bis heute ein Rätsel, denn der riesige Ork wankte wie ein Baum im Sturm.

Dann hob er seine Stangenwaffe und deutete damit auf Daenor, der am anderen Ende des langen Tisches saß.
"Ihr habt gesagt!," brüllte er quer durch die Halle, "Dass ich Euch herausfordern kann, wenn die Stadt uns gehört! Sie gehört uns! Kommt und kämpft!"

Der Lärm flachte etwas ab und alle Augen wandten sich Daenor zu.
Langsam aber sicher glitt das Lächeln eines Raubtiers über sein Gesicht.
Er leerte seinen Becher mit einem Zug, zog Nauring und sprang unter lautem Gegröle seitens der Orks auf den Tisch.
Er hob seine leuchtende Klinge.
"Wie du willst!"

Sarodis schnaubte.
"Jetzt hacken sie sich auch noch gegenseitig in Stücke. Als ob ich nicht genug zu tun habe.
Wozu habe ich ihm dieses Mittel eigentlich gegeben? "
Asrán grinste.
Erst langsam, dann immer schneller, kamen die beiden Kontrahenten aufeinander zu. Keiner der beiden lief ohne Wanken, und die Tatsache, dass die Tischplatte aus einem guten Dutzend unterschiedlich hoher Einzeltische bestand, war ebenfalls nicht gerade hilfreich.

Sie trafen sich in der Mitte des Tisches und Gorog führte einen brusthohen, horizontalen Schlag gegen Daenor, der sich mit einem ungelenken Sprung nach hinten in Sicherheit brachte.
Die Orks und Menschen grölten - für diejenigen, die noch einigermaßen klar denken konnten, war es unglaublich lustig.

Während sie, angefeuert von ihren Männern, unbeholfene Schläge tauschten - und dabei mehr als einmal fast vom Tisch fielen - kam es Asrán in den Sinn, dass ein Duell zwischen den beiden tatsächlich sehr interessant gewesen wäre.
Zumindest, wenn sie in einigermaßen passablen Zustand gewesen wären.
Denn im Moment konnte Asrán unmöglich sagen, wer von den beiden betrunkener war.

Die Farce wurde beendet, als Gorog nach vorn rannte und Daenor es irgendwie schaffte, ihm zur Seite auszuweichen. Der Ork verfehlte ihn und stürmte an ihm vorbei, verfing sich in der Tischkante, und stürzte unter allgemeinem Gelächter auf Hände und Knie.
Die Gleve rutschte ihm aus der Hand, als sein verletzter linker Arm unter ihm nachgab, und hinterließ eine fast armlange Kerbe in dem ramponierten Holz.
Schwerfällig und ohne sich aufzurichten, drehte er sich um.

Daenor kam auf ihn zu und hielt ihm Nauring an den Hals, doch im letzten Moment riss Gorog dem ihm nächststehenden Ork das Schwert vom Gürtel.
Die Klinge zeigte auf Daenors Brust, Nauring auf Gorogs Kehle, und im Bruchteil einer Sekunde könnten sie sich gegenseitig töten.

Doch dann senkten sie unter grölendem Jubel ihre Waffen, irgendjemand reichte ihnen zwei Becher nach oben, damit sie auf ihr Unentschieden tranken.
Für Gorog war der Becher anscheinend einer zu viel, denn kaum hatte er den Arm gesenkt, ließ er sich nach hinten fallen und blieb mitten auf dem Tisch liegen, seine langen Gliedmaßen von sich gestreckt.

Asrán begann zu lachen.
Der Ork ähnelte im Moment mehr einer zertretenen Spinne als einem mordorischen Hauptmann.
Ebenfalls lachend steckte Daenor sein Schwert in dies Scheide und sprang vom Tisch, wo er noch ein paar Schritte weiterstolperte, bevor er zum Stehen kam.

Die Männer klopften ihm grölend auf die Schultern.
Doch Asrán fiel auf, dass Daenor sich währenddessen immer weiter der Tür der Halle näherte.
Als er sie schließlich erreichte und verschwand, beschloss Asrán, ihm zu folgen.

Er tippte Sarodis gegen den Arm.
Als sich der Heiler ihm zuwandte, deutete er auf den - offensichtlich- bewusstlosen Gorog.
"Sieh von Zeit zu Zeit nach, ob sein Herz noch schlägt, ja?"
Sarodis runzelte die Stirn.
"Wo willst du hin?"
"Ihm nach."

Er fand den Elben an der Mauer.
Daenor lehnte sich an die Brüstung und blickte auf den Anduin hinab.
"Ich hatte fast vergessen, wie das ist," meinte er leise,"Einen Sieg zu feiern, so lange, bis niemand mehr steht."
Seine Aussprache war kaum mehr verständlich und Asrán kam der Verdacht, dass er allgemein nicht mehr wusste, was er sagte.

"Es ist lange her, dass ich so etwas miterlebt habe," stimmte ihm Asrán vorsichtig zu, "In Khand hätte ich mir das nie vorstellen können."
"Warum tut Ihr das eigentlich Asrán? Ihr, und Eure Männer?," fragte er plötzlich, "Was hat Sauron euch angeboten, dass ihr an seiner Seite steht? An meiner?"

Asrán seufzte.
"Wir waren vor den Westmenschen hier. Sie sind gekommen, und haben dieses Land als das ihre gesehen, haben es sich genommen und uns in den Osten gedrängt. Wir wollen nur, was uns rechtmäßig gehört."

"Ich verstehe," erwiderte Daenor, "Aber macht Euch keine Sorgen. Wenn Sauron seinen Ring wieder hat und Morgoth zurückgekehrt ist, wird er seine Diener reich belohnen. Glaubt mir. Unter seiner Herrschaft hatten Eure Vorfahren die Kontrolle über den Großteil der alten westlichen Reiche. So wird es wieder sein."

Kurz herrschte Stille.
Doch dann wandte Daenor ihm den Kopf zu und sagte: "Dieser Sieg heute war vor allem Euer Verdienst, Asrán. Ihr seid ein guter Mann."
Der Mensch schluckte.
"Und...Ihr seid ein guter Anführer," stieß er hervor.
Die Worte schienen ihm im Hals steckenzubleiben.

Daenor lächelte, auf eine beinahe warme Art und Weise. Dann wandte er sich ab, taumelte mit leicht unsicherem Gang davon.
Mit einem Stich von Traurigkeit sah Asrán ihm nach, diesem Mann, der solche Willenskraft, solche Loyalität und solch unerschütterlichen Glauben in sich vereinte.

Wenn er wüsste...
Der Scharlachrote Tod schüttelte energisch den Kopf und blickte zurück auf den trägen Anduin.
Es gab kein Zurück.
Und es gab keinen Platz für Bedauern.

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