Kapitel 20 | Der Fall von Pelargir - Teil 2
Der Kinnriemen war locker.
Wieder griff Daenor an seinen Helm und prüfte die Verankerung des Leders. Irgendetwas war lose.
Wenn er einen Schlag gegen den Helm einsteckte, würde der Riemen ganz reißen.
Es war nur ein kleiner Makel, aber er steigerte seine Nervosität über alle Maße - Perfektionismus hatte auch seine Nachteile.
Diese Nervosität hasste Daenor am meisten.
Nicht das Planen, nicht das Kämpfen, nein. Sondern dieses Warten, bevor eine sorgfältige Falle zuschnappte - dieser wie eine Ewigkeit erscheinende Moment, in dem alles auf Messers Schneide stand.
Es war zum aus der Haut fahren.
Doch es war nicht nur das.
Dies war die erste Schlacht, die er nach seiner Befreiung anführte, die erste Schlacht nach dem Fall von Angband.
Und seine erste Schlacht ohne Dargash.
Sein Tod war schon so lange her.
Und doch war Daenor sich sicher, dass er Dargash sehen würde, wenn er den Kopf drehte. Der Ork würde grinsen und einen seiner dreckigen Witze reißen. Er hatte nie eine Schlacht gefürchtet.
Doch Daenor wusste, dass so etwas nie wieder geschehen würde. Dargash war tot und der Ork neben ihm war Gorog.
Es fühlte sich unwirklich an.
Nicht richtig.
Und doch stand er jetzt hier.
Umringt von Männern, denen er nicht vertraute, und wartete den Erfolg eines Plans ab, der jederzeit fehlschlagen konnte.
Kein Wunder, dass seine Albträume beinah an die heranreichten, die ihn in den ersten Jahren seiner Gefangenschaft gepeinigt hatten.
Während alle anderen den Tag damit verbracht hatten, sich auszuruhen, um in dieser Nacht bereit zu sein, war Daenor kläglich gescheitert.
Er hatte kaum zwei Stunden geschlafen, bevor er schweißgebadet wieder aufgefahren war.
Nachdem er eine geschlagene Stunde in seinem Zelt auf und ab gelaufen war, hatte er sich irgendwann hingesetzt und angefangen, seine Klingen zu schärfen.
Er hatte Asráns Dolch und das schmale Langmesser, das er sich besorgt hatte, geschliffen, und war mit jedem Zug des Wetzsteins ruhiger geworden.
Das Gefühl des Stahls in seinen Händen hatte geholfen, die Stimmen in seinem Kopf endlich zum Schweigen zu bringen.
Daenor schüttelte sich und wandte den Blick zu der schlafenden Stadt, auf den Scharlachroten Tod, der zusammen mit seinen Männern hinter den Mauern sein Unwesen trieb.
Doch die Wachfeuer über den Toren brannten noch.
Daenor begann langsam, sich Sorgen zu machen. Irgendetwas mochte ihn abhalten, Asrán zu vertrauen, trotzdem hatte er nicht den geringsten Zweifel daran, dass der Mensch alles für das hier geben würde.
"Asrán braucht länger als erwartet ," murmelte Daenor und verschränkte die von stählernen Schienen geschützten Arme vor dem Schuppenpanzer. Leichter als eine Brustplatte, schränkte der Stahl seinen größten Vorteil - seine Geschwindigkeit - nicht zu schwerwiegend ein.
Ein steifer lederner Kragen schützte seinen Hals, seine Hände steckten in Handschuhen, die mit hauchdünnen Metallplatten beschlagen waren.
Es war seltsam für ihn, wieder eine Rüstung zu tragen.
Das alles war seltsam.
Neben ihm ertönte ein Schnauben und riss ihn aus seinen Gedanken.
"Denen geht's gut," kam es unter Gorogs Helm hervor, "Wenn sie Alarm geschlagen hätten, hätten wir das mitbekommen."
Vollkommen entspannt nahm der Ork die Gleve von seinem Rücken und hakte den Gurt aus dem Schaft.
"Das ist das erste mal, dass wir Euch kämpfen sehen," meinte der Ork plötzlich, "Das mit Krín gilt nicht. Wird auch langsam Zeit. Ich dachte schon, ich müsste Euch mal herausfordern." Daenor schnaubte.
"Wenn wir die Stadt erobert haben," erwiderte er,"Kannst du das gerne tun."
Sie warteten nun schon seit einer guten Stunde - in absoluter Stille.
Wenn die Gondoraner Asrán nicht bemerken durften, durften sie auch nicht bemerken, dass sich ein Heer ihren Toren näherte - ein weiterer Grund, warum ein essentieller Teil des Plans darin bestand, die Wachen auf der Mauer zu töten.
Doch auch wenn Gorog recht hatte, zehrte jede vergangene Sekunde weiter an seinen Nerven.
Bis plötzlich...
"Da!,"zischte Gorog und deutete mit einem seiner langen Arme zu den Toren.
Das Feuer war erloschen.
Endlich.
Daenor drehte sich zu den wartenden Männern um.
"Los."
Der Befehl wanderte flüsternd durch die Reihen der Menschen und Orks, die angespannt Haltung annahmen.
Vorsichtig setzten sie sich in Bewegung.
Der Elb atmete tief durch.
Ganz ruhig.
So leise, wie es zweitausend gerüsteten Soldaten möglich war, näherten sie sich der dunklen Stadt.
Sie hatten Lumpen um ihre Rüstungen und Waffen gewickelt, um so viel Lärm zu vermeiden, wie sie nur konnten.
Daenor beruhigte sich etwas.
Alles verlief nach Plan - zumindest dachte er das.
Er hörte die Schreie, noch bevor die Fackeln in der Stadt auflammten.
Sie hatten Asrán entdeckt.
Sie schlugen Alarm.
Er fluchte.
"Schnell!",rief er.
Sie mussten es nach Pelargir schaffen, bevor man ihnen die Tür im wahrsten Sinne des Wortes vor der Nase zuschlug.
Und Asráns Truppe von den Gondoranern abgeschlachtet wurde.
Sie begannen zu rennen.
Als Daenor die Tore in der Dunkelheit ausmachen konnte, sah er zu seiner Erleichterung, dass sie offenstanden.
Doch ebenso sah er die Dutzenden Soldaten.
Und mitten unter ihnen die vier schwarzgewandeten Gestalten, die sich vor den Toren postiert hatten und um ihr Leben kämpften.
Aus den Schreien der Kämpfenden kristallisierten sich Warnrufe heraus, als die ersten die nahende Armee bemerkten.
Doch es war bereits zu spät.
Daenor spürte, wie ihn Zorn überkam.
Mit einem lauten Schrei riss er Nauring aus der Scheide und brüllte den Befehl zum Angriff.
Noch während sie vorwärts stürmten, sah er, wie Asrán und seine Männer zur Seite sprangen, um nicht zwischen die Fronten zu geraten.
Erst als der Elb, gefolgt von Gorog und dem Heer, die Mauer durchschritt, reihten sie sich neben ihm wieder ein.
"Wir hatten alles unter Kontrolle!", rief Karíl, als die Armeen aufeinander prallten. Er hatte vom Bogen zum Krummschwert gewechselt, an denen Blut in dunklen Bahnen gerann.
"Wart ihr deswegen kurz davor, getötet zu werden?",brüllte Daenor lachend über den einsetzenden Schlachtlärm zurück, während er dem ersten Gondoraner auswich und ihm mit einer schnellen Halbdrehung den Hals aufschlitzte.
"Das war Eure Idee!", kam es von Asrán. Er hatte einen Schlag im Gesicht eingesteckt, Daenor sah den Bluterguss, der sich unter seinem rechten Auge bildete, selbst in der Dunkelheit.
"Aber du Idiot hast zugestimmt!",
Mischte sich Sarodis ein.
Seine Kurzschwerter waren blutüberzogen.
Sie waren gerade noch rechtzeitig gekommen.
Dann explodierte der Schlachtenlärm um sie herum, der scharfe, metallische Geruch des Blutes erfüllte die Luft.
Daenors Plan ging auf.
Dadurch, dass sie sich ihren Weg in die Stadt nicht hatten erkämpfen müssen, waren sie noch im Vollbesitz ihrer Kräfte, wohingegen die Gondoraner überrascht und völlig desorientiert waren.
Nun ging es nur noch darum, den Kampf schnell zu beenden.
Und das tat man am Besten, indem man die Kommandanten ausschaltete.
Als sie den Torplatz unter ihrer Kontrolle hatten, teilte sich das Heer, einem zuvor besprochenen Befehl folgend, in vier Gruppen zu je fünfhundert Mann auf.
Unter der Führung von Daenor selbst, Asrán, Gorog und einem Rhûn namens Ranik, durchkämmten sie die Stadt und scheuchten die Hauptleute auf.
Außerdem konnten sie sich so gegenseitig den Rücken freihalten.
Daenor hasste es, in Städten zu kämpfen.
All die kleinen Gassen boten hunderte Möglichkeiten für einen Hinterhalt, und es war zu eng, um einen Vorteil aus Formationen ziehen zu können.
Er teilte seine Leute in kleinere Truppen, schickte sie in Nebengassen oder die Straße voraus.
Sie waren zu weit gekommen, um jetzt noch ein Risiko einzugehen.
So drangen sie ohne größere Schwierigkeiten bis in die Mitte der Stadt vor. Die vollkommen orientierungslosen Soldatengruppen Pelargirs hatten sich in der Stadt verstreut und waren leichte Beute.
Doch noch immer kein Zeichen von den Befehlshabern.
Sie mussten sie finden, bevor sie sich in unzähligen kleinen Straßenkämpfen verloren. Sie mussten die Gunst der Stunde nutzen, solange das Glück noch unter ihrem Banner focht.
Als Daenor gerade, gefolgt von etwa hundert Mann, durch eine breite Gasse schlich, hörte er plötzlich, dass sich ihnen Jemand näherte. Lautlos bedeutete er seinen Männern zu warten und lauschte.
Sie kamen von rechts, wo sich, wenn Daenor die Karten noch richtig im Kopf hatte, ein kleiner Platz befand.
Sie konnten nicht mehr sein als anderthalb Dutzend.
Er wandte sich seinen Leuten zu.
"Da sind welche. Ich übernehme das selbst. Dreißig Mann mit mir! Garos," er sah zu einen Khandrim, der ungefähr so alt war wie Sarodis, "Du hast das Kommando über den Rest."
Der Mann nickte und Daenor spaltete sich mit seiner Gruppe ab.
Sie überraschten die Gondoraner mitten auf dem Platz.
Doch der Elb sah sofort, dass es keine gewöhnliche Einheit war.
Sie alle schienen kampfgestählt, erfahren, und mitten unter ihnen erblickte Daenor einen Mann mit verziertem Helm und aufwändig gefertigten Waffenrock.
Der Kommandant!
Daenor nutzte das Überraschungsmoment aus und sprang auf den Menschen zu. Ein weiterer Soldat stellte sich ihm in den Weg. Ein Fehler.
Niemand stellte sich zwischen die Eisklinge und seine Ziele.
Mit einer Geschwindigkeit, die jede Schlange beneidet hätte, duckte sich Daenor unter dem horizontalen Schlag hindurch und stieß dem Mann noch im Hochschnellen Nauring unter den Rippen hindurch nach oben ins Herz.
Röchelnd glitt der Soldat von seiner Klinge.
Doch der Kommandant war nicht dumm.
Abgelenkt durch den Soldaten, konnte Daenor ihm nicht mehr ausweichen, als er zum Schlag ausholte.
Er versuchte noch, sich zu ducken, und entging seiner Enthauptung um Haaresbreite.
Statt ihm das Schwert durch den Hals zu treiben, streifte der Streich seinen Helm.
Und dann geschah genau das, was er befürchtet hatte: Der Kinnriemen riss aus der Verankerung und er verlor den Helm.
Mit einem dumpfen Klirren kam das Rüstungsteil auf dem Boden auf.
Benommen von der Wucht stolperte Daenor ein paar Schritte nach hinten und prallte mit dem Rücken gegen eine Hauswand, Nauring glitt ihm aus der Hand.
Sein Kopf dröhnte wie ein Amboss, auf den tausend Hämmer einschlugen; schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen.
Der Kommandant zögerte nicht.
Daenor hörte den Streich mehr, als dass er ihn sah.
Instinktiv riss er den Arm nach oben; Stahl schabte kreischend über Stahl, als das Schwert des Gondoraners an seiner Armschiene abglitt und Daenor das Kinn aufschlitzte.
Der Schnitt war tief, er zog sich von seinem Kiefer bis zum Mundwinkel, doch besser sein Gesicht als eine Arterie.
Der brennende Schmerz holte ihn endlich aus seiner Benommenheit, und bevor der Kommandant einen weiteren Streich führen konnte, rollte Daenor sich nach vorn und schoss mit Nauring in der Hand wieder nach oben.
Er spürte, wie ihm Blut vom Gesicht tropfte, doch er ignorierte es. Stattdessen zog er sein Langmesser und ging mit beiden Klingen auf den Menschen los.
Um sie herum kämpften Orks und Menschen gegen- und miteinander, doch für Daenor existierte nur der Kommandant.
Fiel er, fiel Perlargir.
Der Mensch wehrte sich tapfer und gut, doch nun hatte er keinen Vorteil mehr, den er ausnutzen konnte.
Niemanden, der nicht selbst um sein Leben kämpfte und ihm hätte helfen können.
Zornig ging Daenor auf ihn los.
Der Mensch stieß nach ihm, doch diesmal war Daenor vorbereitet.
Er drehte Nauring in der Hand, das gondoranische Schwert verfing sich in der gebogenen Parierstange und machte die Waffe für einen Moment untauglich.
Und dieser Moment reichte Daenor.
Er nutzte das Langmesser, um dem Kommandanten sein Schwert gänzlich aus den Händen zu winden, bevor er ihm in der gleichen Bewegung die Beine wegzog.
Stöhnend kam der Mann auf dem Boden auf, und bevor er sich wieder aufrichten konnte, stellte Daenor ihm seinen Stiefel auf die Brust und drückte ihn zurück nach unten.
Daenors Männer, die sich bereits um den Rest gekümmert hatten, brachen in Jubel aus, Jubel darüber, dass sie nun den Höchsten dieser Stadt in ihrer Gewalt hatten. Sobald sich die Nachricht verbreitete, hatten sie Leichtes Spiel.
Der Elb wandte sich dem Menschen unter ihm zu, der in einer Mischung aus Wut und Angst zu ihm hochstarrte.
Daenor wusste, wie er aussehen musste.
Das schwache Licht hatte seine Pupillen geweitet; es schien das Silber verschlungen zu haben, bis nichts als bodenloses Schwarz zurückblieb.
Blut tropfte von der Wunde in seinem Gesicht, es bedeckte Naurings gleißende Klinge.
Ein Dämon aus der alten Welt.
Mit einem eisigen Grinsen beugte sich Daenor zu dem Gondoraner hinab, dessen Atmung mittleweile stoßweise ging.
"Du hast versagt," flüsterte er ihm zu,
"Pelargir ist mein."
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