Kapitel 19 | Der Fall von Pelargir - Teil 1
Die Nacht schien ruhig.
Träge schwappte der Anduin in schwarzen Wellen an das Ufer und die steinerne Hafenmauer Pelargirs.
Müde lehnten die Wachen an der Brüstung, redeten leise miteinander und warteten auf das Ende ihrer Schicht.
Keiner von ihnen war sonderlich wachsam. Warum auch?
Die Armee lagerte auf der anderen Seite der Stadt, sie zeigte keine Anzeichen eines Angriffs und Schiffe hatten sie keine.
Wieso also den Hafen bewachen?
Niemand sah auf den Anduin hinab.
Niemand bemerkte die vier Gestalten in den Fluten, die sich im Schutz der Dunkelheit der Mauer näherten.
Als sie die steinerne Wand erreicht hatten, die etwas ins Wasser ragte, hielt Asrán an und sah sich um.
Neben ihm stoppte Sarodis, der so grimmig dreinblickte wie seit Jahren nicht mehr. Er konnte es ihm nicht verdenken - das Wasser war eisig.
Wie gut schwimmt Ihr, dass ich nicht lache! Das nächste Mal kann er das selbst tun!
Andererseits musste Asrán zugeben, dass Daenor recht gehabt hatte.
Niemand achtete auf den Fluss.
Die Wachen über ihnen auf der Mauer schienen nicht einmal mit dem Gedanken zu spielen, dass es jemand auf diesen Weg versuchen könnte, in die Stadt zu gelangen.
Andererseits - wenn sich auch nur einer von ihnen umdrehte und sie ungünstig standen, wenn sie zu laut waren...es war eine Gratwanderung, die Daenor da von ihnen verlangte.
Dieser Mistkerl. Dieser verfluchte, elende, absolut geniale Mistkerl...
Es war nicht einfach nur gefährlich - es grenzte an Wahnsinn.
Asrán hatte das dem Elb auch ins Gesicht gesagt. Doch seine einzige Antwort war gewesen, dass nach der Veste von Mandos eine Menschenstadt doch ein Kinderspiel für ihn sein musste.
Aber das war etwas gänzlich anderes.
Für Valinor hatten sie Monate der Vorbereitung gehabt...
Zumindest wusste Asrán, dass er sich auf seine Truppe verlassen konnte.
Wenn irgendjemand so ein Kunststück vollbringen konnte, dann sie.
Meras, für den keine Tür wahrhaft verschlossen war.
Karíl, der beste Schütze, den sie hatten.
Sarodis, der jede verborgene Schwachstelle eines Körpers kannte.
Und Asrán selbst, der sich in der Dunkelheit bewegte, als wäre er kein Mensch sondern ein Geist.
Sie hatten noch niemals versagt, und würden es auch jetzt nicht tun.
Als Asrán sich sicher war, dass die Wachen nicht zu ihnen hinuntersehen würden, durchschwammen sie das letzte Stück des Hafenbeckens.
Nur wenige Schiffe lagen an den Pieren - doch mehr als genug, um ihnen Deckung zu geben.
Lautlos wie tödliche Schatten zogen sie sich an einem Steg aus dem Wasser und verbargen sich in der Dunkelheit eines Schiffsrumpfes.
Still standen die vier nebeneinander und lauschten auf die Wachen an der Mauer.
Kein Geklirr von Waffen.
Keine unterbrochenen Gespräche.
Sie hatten nichts bemerkt.
Auf ein Nicken Asráns hin huschten sie weiter.
Ein weiterer gefährlicher Schritt - der vollkommen ungeschützte Weg zwischen den Schiffen und den ersten Gebäuden.
Schließlich blieben sie im Schatten eines Hauseingangs stehen und hatten nun endlich Zeit, sich das Wasser aus dem Gesicht zu wischen.
Bisher war alles nach Plan gelaufen.
Doch der riskanteste Teil kam noch.
Daenor wollte, dass sie die Wachen auf den Mauern töteten und die Tore von innen öffneten - alles ohne entdeckt zu werden.
Natürlich würde es irgendjemandem auffallen, wenn sie die Tormechanismen manipulierten, doch bis dahin wäre es für die Soldaten Pelargirs bereits zu spät.
Allerdings mussten sie es davor durch die Stadt und über die Wehrgänge schaffen.
Wie schon gesagt: Es war ein Risiko, das an Wahnsinn grenzte.
Aber Daenor glaubte an sie, kam es Asrán in den Sinn.
Er war ein Stratege, er würde nicht alles auf sie setzen, wenn er sich nicht sicher war, dass sie es schaffen konnten.
Im Moment war ihre Position günstig.
Durch das große Gebäude in ihrem Rücken - vermutlich eine Lagerhalle - standen sie in einem toten Winkel zu den Wachen, was ihnen so viel Bewegungsfreiheit verschaffte, dass sie sich bewaffnen konnten.
Um den Stahl vor der Nässe zu schützen, hatten sie ihn in länglichen Lederbehältern getragen, die man vollständig dicht verschließen konnte.
Schade, dass so etwas nur dafür erfunden wurde, dachte Asrán mit einem Blick auf seine triefende Kleidung, straffte sich dann aber und konzentrierte sich wieder auf ihre Mission.
Mit der Geschwindgkeit und Lautlosigkeit jahrelanger Übung schnallte sich Asrán seine Messer um.
Neben ihm hängte sich Sarodis seine Kurzschwerter über den Rücken, während Karíl seinen Bogen vom Leder befreite - er war kurz, kurz genug, damit er weder auffiel noch ihn behinderte.
Der Schütze richtete mit einer Hand den Gurt, während er sich mit der anderen die langen schwarzen Strähnen aus dem Gesicht strich, die sich aus dem Band, das seine Haare im Nacken zusammenhielt, gelöst hatten.
Auch Meras hatte mittlerweile sowohl seine Messer als auch seine Dietriche wieder an ihren angestammten Platz gebracht.
Asràn trug ein ähnliches, wenn auch nicht annähernd so beeindruckendes Sortiment dieser Werkzeuge - nur für den Fall, dass sie sie brauchten.
Der Mensch legte den Kopf schief, die stumme Frage, ob sie bereit waren.
Sie durften sich keinen Fehler leisten.
Hintereinander ließen sie die Hafenmauer hinter sich und schlichen durch die dunklen Gassen.
Asrán fiel auf, dass die Häuser, an denen sie vorbeikamen, allesamt dunkel und still waren. Sie ragten neben ihnen auf wie stumme, graue Wächter und die schwarzen Löcher der Fenster schienen ihnen hinterher zu starren.
Asrán kannte Pelargir als lebhafte Handelsstadt, und diese Stille war beinahe gespenstisch.
Vermutlich hatte man die Leute, die in Pelargir lebten, aus der Stadt gebracht, als sie vom Nahen der Armee erfahren hatten.
Gut.
Je weniger Menschen hier waren desto geringer war die Gefahr, entdeckt zu werden.
Vorsichtig, aber zügig, bahnten sie sich ihren Weg durch die dunkle Stadt. Der ein oder anderen Gruppe von Soldaten, die noch unterwegs waren, wichen sie ohne Schwierigkeiten aus.
Die Gondoraner trugen Fackeln und Rüstungen, weshalb man sie von Weitem kommen hörte.
Asrán war dankbar dafür.
Bis jetzt lief alles absolut reibungslos.
Aber sie durften jetzt nicht unvorsichtig werden.
Das Schicksal herauszufordern war nie eine gute Idee.
Und wenn man sie entdeckte...
Ihnen würde nur die Flucht bleiben, und auch wenn Asrán wusste, dass Jähzorn sicher nicht zu Daenors Charaktereigenschaften gehörte, wollte er trotzdem nicht daran denken, wie es wäre, ihm mit leeren Händen unter die Augen zu treten...
Als sie nahe genug an den äußeren Mauern waren, teilten sie sich auf.
Sie würden die Wachen von beiden Seiten aus beseitigen.
Während Karíl und Meras innerhalb von Sekunden von der Dunkelheit der Gassen verschluckt wurden, wandten sich Asrán und Sarodis in die entgegengesetzte Richtung.
Sie arbeiteten seit Jahren miteinander und er würde Sarodis jederzeit sein Leben anvertrauen.
Sie waren absolut aufeinander eingespielt.
Als sie die Mauer erreichten, noch ein paar Wachposten von den Toren entfernt, zog Asrán seine Messer.
Sarodis ließ seine Schwerter noch stecken.
Lautlos schlichen sie die schmale Treppe zu den Wehrgängen hinauf.
Die beiden Wachen standen neben ihrem Feuer - ein Fehler. Das grelle Licht machte sie blind für alles, was außerhalb des hellen Kreises geschah. Keiner sah die beiden schwarzgewandeten Männer, die sich ihnen näherten.
Das Zeichen war ein leichtes Nicken - für jeden zu übersehen, der nicht wusste, dass es kommen würde.
In einer einzigen flüssigen Bewegung packte Asrán den rechts stehenden Gondoraner von hinten und schlitzte ihm die Kehle auf.
Im gleichen Moment legte Sarodis dem Zweiten Mann die Arme um den Hals, stieß ihn auf die Knie und brach ihm im in derselben Bewegung das Genick.
Asrán fragte sich, ob sie ihren Tod überhaupt mitbekommen hatten.
Schnell zogen sie die Leichen aus dem Lichtkreis heraus und schlichen an der Brüstung entlang weiter. Es waren noch drei Posten bis zum Tor.
Sie mussten sie alle aus dem Weg schaffen.
Sobald die Gondoraner bemerkten, dass die Tore offenstanden, würden sie kommen - und bis Daenor mit dem Rest der Armee Pelargir erreichte, mussten Asrán und seine Männer hier die Stellung halten und verhindern, dass die Tore wieder geschlossen wurden. Also mussten sie sicherstellen, dass sich in ihrer direkten Reichweite niemand mehr befand.
Doch die Dunkelheit war ihr Freund und Verbündeter.
Die Soldaten waren ihnen ausgeliefert, ohne dass sie es überhaupt bemerkten. Einer nach dem anderen fielen sie ihnen zum Opfer.
Als sie die Tore erreicht hatten, begann Asrán zu lächeln.
Den schlimmsten Teil hatten sie überstanden.
Hintereinander stiegen er und Sarodis die Treppen hinunter, wo Karíl und Meras bereits auf sie warteten.
Sie hatten das Wachfeuer oberhalb des Tores gelöscht -das Zeichen für Daenor, sich in Bewegung zu setzen.
Mit einem geflüsterten "Gut gemacht, Männer" wandten sie sich den Toren zu.
Während Karíl und Asrán Wache hielten, hievten Sarodis und Meras ächzend die Sperrbalken aus ihren Halterungen und zogen die Torflügel auf.
Asrán verpürte bodenlose Erleichterung.
Sie hatten es geschafft...
"Asrán", zischte Karíl plötzlich.
Asrán wandte den Blick vom Tor ab und sah zu seinem Entsetzen den Rand eines Lichtkreises, der sich aus einer nahen Gasse näherte.
"Was ist mit den Feuern los, seid ihr etwa...", rief der Mann, der mit einer Fackel in der Hand um die Ecke kam.
Als er die vier Gestalten vor dem offenen Toren sah, stockte er mitten im Satz, stolperte zurück.
Und dann verlor er keine Zeit mehr.
"SIE SIND IN DER STADT! SIE SIND IN DER STA-"
Asrán hatte mit dem Messer bereits ausgeholt, als Karíls Pfeil durch die Dunkelheit schoss und ihrem Ziel die Halsschlagader mit einer Präzision durchbohrte, die Seinesgleichen selten fand.
Der Mann war tot, bevor er am Boden aufkam, und die Fackel erlosch zischend, als sie neben ihm landete.
Doch es war zu spät.
Entsetzt sah Asrán, wie Bewegung in die Stadt kam, wie warnende Rufe laut wurden und überall Fackeln auflammten.
Sie hatten ihn gehört.
Sie kamen.
Sarodis und Meras traten neben sie und zogen ihre Waffen.
Sie alle wussten, dass sie zu viert nicht gegen die Garnison Pelargirs bestehen konnten, doch sie mussten dafür sorgen, dass die Tore noch offen waren, wenn Daenor kam.
Alles hing hiervon ab.
Doch Asràn betete, der Elb möge sich beeilen.
Denn selbst wenn er es tat, würde es verdammt knapp werden.
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