Kapitel 18 | Neue Kriege, alte Wunden
In gewisser Weise war der Krieg ein Spiel.
Ein einziges, großes Spiel, das derjenige gewann, der am klügsten Setzte und seine Züge am berechnendsten führte.
Der Unterschied allerdings war, dass Strategen kein Geld setzten.
Ihr Einsatz war weitaus höher, ein falscher Zug konnte viel mehr anrichten.
Strategen spielten um Leben.
Auch Daenor war so ein Spieler.
Asrán hatte es an seinem Blick bemerkt, mit dem er die flache Umgebung Pelargirs gemustert hatte, die Mauern der Stadt und den trägen Anduin dahinter.
Als könnten sie ihm das Geheimnis verraten, wie sie die Stadt erobern sollten.
Ihr Heer, bestehend aus eintausenddreihundert Orks, fünfhundert Khandrim und zweihundert Männern aus dem östlichen Rhûn, lagerte weit außerhalb der Bogenreichweite der Stadt - sie hatten diese Stellung gestern bezogen und warteten nun auf die Befehle des Kriegsherrn.
Sie alle wollten wissen, welchen Plan er hatte - ob er überhaupt einen Plan hatte, um dieses Selbstmordkommando zu überstehen.
Asrán hoffte es.
Die Garnison Pelargirs hatte sich hinter ihren Mauern verbarrikadiert, und jeder Idiot würde sehen, dass ein blinder Angriff ihnen den Tod bringen würde.
Doch vielleicht war der Elb mittlerweile zu einem Entschluss gekommen.
Mit seiner üblichen Lautlosigkeit trat Asrán in das Zelt des Kriegsherrn.
Ein breiter, wenn auch etwas wackliger Kartentisch, auf dem mehrere ausgebreitete Papiere und ein paar erloschene, fast heruntergebrannte Kerzen lagen, nahm den meisten Platz ein.
An der Zeltwand dahinter stand eine kleine Truhe, in der Daenor - zumindest nach Asráns Wissen - seine Rüstung lagerte.
Daenor war nirgends zu sehen.
Obwohl es mitten in der Nacht war, war der Mensch überrascht, als er bemerkte, dass der Vorhang zu dem kleineren Bereich des Zeltes zugezogen war.
Egal, zu welcher Tageszeit Asrán während des Marsches gekommen war, der Elb war wach gewesen. Vor ein paar Tagen hatte man ihn zwei Stunden nach Mitternacht immer noch hellwach angetroffen.
Hätte Asrán ihn nicht bereits dabei gesehen, hätte er sich gefragt, ob Daenor überhaupt schlief.
Kurz spielte er mit dem Gedanken, ihn aufzuwecken - der Kriegsherr hatte schließlich gesagt, dass sie ihm zu jeder Zeit berichten konnten - verwarf die Idee allerdings wieder.
Er war selber müde und der Bericht der Späher konnte bis morgen warten.
Asrán wandte sich zum Gehen, als er plötzlich seltsame Geräusche hörte, die aus dem kleinen Zeltteil kamen.
Eine Art leises Keuchen - die Laute von jemandem, der Schmerzen litt.
Einen Moment blieb der Mensch erschrocken und unentschlossen stehen, doch dann wandte er sich um und schlug vorsichtig den Vorhang zurück.
Daenor lag auf seiner Liege, sein Schwertgurt gleich daneben.
Er schlief anscheinend noch, doch seine Hand hatte sich um den Rand der Liege gekrallt und auf seinem Gesicht und seinem nackten Oberkörper glänzte Schweiß.
Seine Gesichtszüge waren beinahe schmerzverzerrt, sein Kopf zuckte hin und her.
Er murmelte Worte, die niemand verstand außer er selbst.
Er träumt, erkannte Asrán und erschauderte. Daenor war der Mann, der mit Sauron sprach, ohne nur einen Funken von Ehrfurcht zu zeigen, der Mann, der den Valar die Stirn geboten und im Namen Morgoths gekämpft hatte.
Und dieser Mann lag nun vor ihm und wand sich in Albträumen.
"Kriegsherr?," fragte Asrán leise, vorsichtig.
Der Elb reagierte nicht.
Der Mensch versuchte es erneut, dieses mal lauter.
Keine Reaktion.
"Daenor!", rief Asrán schließlich.
Es funktionierte - besser als beabsichtigt.
Wieder einmal unterschätzte Asrán die unnatürliche Geschwindigkeit des Elben.
In einem Moment sah Asrán noch, wie er plötzlich die Augen aufriss - im anderen drückte ihn Chelhathol bereits an einen Zeltpfosten und hielt ihm sein Messer an die Kehle.
Wirre dunkelblonde Strähnen hingen ihm ins Gesicht und in seinen Augen stand ein Ausdruck, der an Wahnsinn grenzte.
Asrán wurde mit Schrecken klar, dass Daenor noch gar nicht richtig wach war und den Menschen nicht zu erkennen schien.
Würde er ihm, betäubt, wie er war, hier einfach so die Kehle aufschlitzen?
Wer wusste denn, wen er glaubte hier vor sich zu sehen?
Doch langsam änderte sich
Daenor Gesichtsausdruck, und sein Griff lockerte sich.
Verwirrt und schwer atmend stolperte er nach hinten.
"Ich..."setzte Asrán an, doch da hob Daenor bereits den Kopf.
Die Verwirrung war kaltem Zorn gewichen.
"Raus hier," knurrte er Asrán an, der bereits etwas Abstand zwischen sich und dem Elben gebracht hatte, dessen narbenübersäte Brust sich hob und senkte wie die eines wütenden Stiers.
"Verschwinde!", blaffte er, immer noch den Dolch in Händen.
Erschrocken stolperte der Mensch auf den Ausgang zu.
Doch als er sich noch einmal umdrehte, sah er, wie Daenor sich kraftlos auf den Rand der Liege fallen ließ und beinah entsetzt auf seine Hände hinabsah.
Das Messer war ihm längst aus den Fingern geglitten.
Asrán ergriff die Flucht.
~
Am nächsten Morgen rief Daenor Gorog und Asrán zu sich.
Der Ork verspätete sich, und Asrán betete, er möge endlich eintreffen.
Nach gestern Nacht wollte er nicht mehr mit Daenor allein sein, auch wenn nichts mehr an seinen Zustand erinnerte. Einzig und allein die Schatten unter seinen Augen schienen eine Spur dunkler zu sein.
Mit undeutbarem Gesichtsausdruck stand er da, die Hände auf den Tisch gestützt und betrachtete die Karte der Stadt und ihrer Umgebung.
Die Finger seiner rechten Hand trommelten in einem beunruhigend gleichmäßigen Rhythmus auf das Holz - das einzige äußere Zeichen der Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen mussten.
Da war er wieder, kam es Asrán in den Sinn. Der Kriegsherr, dessen Loyalität und Willenskraft im Angesicht des Verderbens zur Legende geworden waren.
Er war ganz der Spieler, der den nächsten Zug plante.
Dennoch konnte Asrán den Zorn und den Wahnsinn in seinen Augen nicht vergessen, der den Schmerz dahinter nur dürftig verborgen hatte...
"Asrán."
Beim Klang der rauen Stimme schreckte der Mensch aus seinen Gedanken hoch.
Hastig sah er sich um, denn er dachte, Gorog wäre eingetroffen.
Doch sie waren nachwievor allein.
Er wagte einen Blick zurück zu Daenor. Der Elb hatte von den Karten aufgesehen und betrachtete ihn beinahe nachdenklich.
"Es tut mir leid."
Die Worte kamen so unerwartet, dass Asrán sie im ersten Moment gar nicht verstand.
Daenor entschuldigte sich bei ihm.
"Ich war wirklich nicht ich selbst," fügte er hinzu, bevor der Mensch etwas sagen konnte.
Asrán machte eine wegwerfende Handbewegung, versuchte zu verdecken, wie tief ihm der Schreck in den Knochen steckte.
Daenor schnaubte. "Tut nicht so, ich hätte Euch töten können. Ich..."
In dem Moment raschelte die Zeltplane. Gorog trat herein und stellte sich neben Asrán.
Augenblicklich verschlossen sich Daenors Gesichtszüge.
"Du kommst spät," meinte er missbilligend.
"Wurde aufgehalten," war Gorogs einzige Antwort.
Asrán wartete auf eine Erwiderung seitens des Elbs, doch der hatte sich bereits wieder seinen Karten zugewandt.
"Ich habe nachgedacht," meinte er schließlich.
"Wenn ich eine größere Armee, mehr Zeit und bessere Anbindungen an Mordor hätte, dann würde ich sie mit kleinen Angriffen zermürben. Ich würde den Schraubstock nach und nach enger drehen und den letzten Schlag überraschend und mit voller Wucht kommen lassen," fuhr er fort.
Gorog und Asrán hörten seinen Ausführungen schweigend zu.
"Aber wir sind kaum mehr als sie, es ist nach Nurn weiter als nach Minas Tirith und uns laufen die Tage zwischen den Fingern davon. Ein solches Verfahren würde uns mehr schaden als nützen."
Gorog schnaubte.
"Was schlagt Ihr also vor, Eisklinge?"
Daenor nahm die Hände vom Tisch und verschänkte sie stattdessen vor der Brust. Schließlich sagte er:"Wir können sie unter keinen Umständen direkt angreifen. Wir würden zu viele Männer verlieren, um die Stadt danach halten zu können. Das heißt, wir müssen Pelargir schnell einnehmen,"meinte er wie zu sich selbst,"Mit einem Minimum an Todesopfern auf unserer Seite..."
Er stützte sich wieder auf den Tisch und starrte die Karte an.
"Wenn wir es schaffen würden, dass die Tore bereits offenstehen..."
Asrán hörte ihm ungläubig zu.
Was zur Hölle hat er vor?
Die rechte Hand des Elben fuhr die fein gezeichneten Linien der Karte entlang, wanderte über die Mauern, die Grundrisse der alten Gebäude, bis sie schließlich an den befestigten Hafenbecken der Stadt verharrte.
Ein listiges Lächeln zog sich plötzlich über sein Gesicht, als er den Kopf zu Asrán hob, den mittlerweile eine äußerst beunruhigende Vorahnung befallen hatte.
"Wie gut schwimmt Ihr?"
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