Kapitel 13 | Der Kriegsherr

Natürlich hätte Asrán später sagen können, er hatte nicht eingegriffen, weil der Angriff zu schnell kam.
Doch das wäre nicht die ganze Wahrheit.
Ja, alles geschah innerhalb von Sekunden, aber Asrán reagierte nicht, weil er Daenor kämpfen sehen wollte.

Nur - es gab keinen richtigen Kampf.

Chelhathol verharrte regungslos, als der Ork auf ihn zusprang, das Gesicht verzerrt vor Wut, die schwarzen Augen blitzend.
Glaubend, den Elben ohne Gegenwehr aufschlitzen zu können.

Asrán fragte sich mit plötzlichem Ärger, ob er den Elb nur gerettet hatte, damit er bei der ersten Gelegenheit starb.
Doch er kam nicht mehr dazu, den Gedanken zu beenden.
Denn dann geschah es.

Die Eisklinge bewegte sich.

Es war ein einzige fließende Drehung, schneller, als dass menschliche Augen ihr folgen könnten.
Ein Schrei hallte durch die Festung von Nurn. Doch auch er übertönte das laute Knacken nicht, das den Kampf beendete, bevor er begonnen hatte.

Als sie sich nicht mehr bewegten, stand der Ork mit schmerzverzerrtem Gesicht vornübergebeugt da, Daenor stand hinter ihm und hatte ihm den rechten Arm auf den Rücken gedreht.
Seine Hand, die in einem unnatürlichen Winkel vom Arm abstand, konnte das Messer nicht mehr halten, das kurz darauf mit einem dumpfen Klirren zu Boden ging - Daenor hatte ihm das Handgelenk gebrochen.

"Hast du wirklich gedacht, das würde funktionieren?," fragte der Elb leise.
Der Ork knurrte nur in seiner eigenen Sprache.
Asrán hatte lange gebraucht, bis sich die unzähligen kehligen Dialekte der Orks langsam zu Wörtern und schließlich zu Sätzen formten, doch mittlerweile konnte er sie verstehen - gut genug zumindest, um zu erkennen, dass der Ork Daenor gerade überraschend einfallsreiche Bezeichnungen an den Kopf warf.

Das Gesicht des Kriegsherrn blieb ausdruckslos, als er den gebrochenen Arm weiter nach oben drehte.
Der Ork stöhnte auf.
"Ich an deiner Stelle würde es nicht übertreiben," sagte Daenor kalt.
Und in diesem Moment verstummte der gesamte Platz.

Denn der Elb hatte nicht die Gemeinsprache verwendet, sondern die Sprache der Orks.
Fehler- und akzentfrei.
"Ich mag vielleicht wie ein ahnungsloses Spitzohr aussehen, doch glaub mir, ich bin nicht so dumm," fuhr er fort, laut genug, damit alle es hörten. Dann wechselte er zurück in die Gemeine Zunge: "Und ich zögere auch nicht, ein Exempel zu statuieren."

Neben Asrán war Gorog angespannt wie eine Bogensehne. Seine Hand wanderte langsam nach hinten, bereit, jederzeit die Gleve von seinem Rücken zu reißen und einzugreifen.
Doch dann ließ Daenor den Ork so unvermittelt los, dass er auf die Knie fiel.

"Wie ist dein Name?," fragte Daenor den knienden Ork.
Asrán blinzelte überrascht. Diese Frage war das letzte, was er in dieser Situation erwartete hätte.
"Krín," gab der Ork zur Antwort, nicht minder erstaunt als alle anderen.

Der Elb nickte, lächelte sein beunruhigendes dünnes Lächeln.
Und dann trat er, zum Erstaunen aller Anwesenden, auf den Ork zu, ergriff seinen Arm und zog ihn zurück auf die Beine.
"Du hast eine zweite Chance, Krín," sagte er langsam und deutlich, betonte dabei den Namen.
Doch dann verhärtete sich sein Gesichtsausdruck . "Aber greif mich noch einmal an," fuhr er eisig fort," Und ich breche dir mehr als nur die Hand. Verstanden?"

Der Ork hielt Daenors Blick nicht stand und er senkte den Kopf.
Ein von Keuchen untermaltes Nicken, dann stolperte Krín ein paar Schritte von Daenor weg, den rechten Arm an den Leib gepresst.
In seinen schwarzen Augen konnte Asrán deutlich alles mögliche ablesen:
Die Überraschung und Erleichterung, weil sein Leben verschont worden war, die unterschwellige Furcht, mit der er Daenor betrachtete und da war noch - war das etwa Respekt?

Asrán war sich fast sicher. Daenor hatte durch Kríns Angriff anscheinend genau das erreicht, was er erreichen wollte.
Hatte er das etwa geplant?
Dann sah er zu Daenor, der reglos dastand.
Der Elb war ein Stratege bis ins Mark. Natürlich hatte er das geplant.
Der Mensch entspannte sich etwas, weil er sich nun sicher war, dass Daenor niemanden grundlos töten würde. Er kam Asrán nicht annähernd so grausam vor, wie er in so mancher Legende beschrieben wurde. Doch er bezweifelte nicht, dass Chelhathol seine Drohung wahrmachen würde, sollte sich ihm irgendjemand erneut in den Weg stellen.

Asrán schauderte.

Hoffentlich kam keiner der Soldaten auf dumme Gedanken.
Doch das schien niemand vorzuhaben.
Denn es gab kein Gemurmel mehr, weder von Orks noch von Menschen.
In beinahe entsetztem Schweigen betrachteten sie den Mann, der nun ihr Anführer sein sollte.
Hatte sie die Mühelosigkeit nicht erschreckt, mit der er Kríns Angriff abgewehrt hatte, dann hatte es die orkische Sprache aus seinem Mund getan.
Doch es war nicht nur Schrecken - wie bei Krín lag so etwas wie Achtung in ihrem Blick.

Nun hob Chelhathol den Kopf und richtete seine Aufmerksamkeit auf die versammelte Garnison.
"Was ich gesagt habe, gilt für euch alle. Ausnahmslos." 
Sie sahen ihn weiterhin nur an, keiner schien zu wissen, wie sie reagieren sollten.
Langsam ließ der Elb seine schwarz-silbernen Augen über sie schweifen, bevor er schließlich nickte.

"Zurück auf eure Posten."

Gorog und Asrán waren die einzigen, die auf dem Platz zurückblieben.
Daenor hatte stumm und regungslos zugesehen, wie sich die Männer zerstreut hatten. Die ganze Zeit über hatte der Elb mit dem Rücken zu ihnen gestanden, den Blick auf den Platz gerichtet. Nun drehte er sich zu ihnen um und nickte Gorog zu.

"Das sind gute Männer," sagte er, ohne auch nur die leiseste Spur von Spott.
Gorog schien nicht zu wissen, was er darauf erwidern sollte und kurz herrschte eine unangenehme Stille.
Schließlich brach Daenor das Schweigen, indem er den Ork anwies, ihm den Zustand der Festung zu zeigen.

Asrán schloss sich ihnen kurzerhand an, und als Gorog sie über den Platz führte und die Stufen zu den Wehrgängen hinaufstieg, fand er sich neben dem Elben wieder.
Seine Augen schweiften umher, sie schienen selbst den kleinsten Riss im Mauerwerk und die dünnste morsche Holzbohle zu bemerken.

Daenor bewegte sich überraschend entspannt.
In dem Wissen, dass dies vermutlich der bestmögliche Zeitpunkt war, nahm Asrán seinen Mut zusammen und stellte die Frage, die ihm schon die ganze Zeit auf der Zunge lag:

"Wieso habt Ihr den Ork nicht getötet? Vermutlich hätte danach niemand mehr gewagt, die Hand gegen Euch zu erheben."

"Heute nicht, nein," erwiderte Daenor, ohne ihn anzusehen. Sein Blick war auf die Mauer gerichtet, die bereits deutliche Spuren von Verwitterung aufwies.
"Aber was ist morgen? Ich kann mich nicht auf jemanden verlassen, der mir nur folgt, weil er mich fürchtet. Wenn man mich fürchtet, werden sie warten, jeden Tag, bis ich Schwäche zeige. Und die werden sie ausnutzen.
Wenn ich verletzt auf einem Schlachtfeld liege, will ich nicht, dass mir meine eigenen Männer den Rest geben. Nein. Es ist besser, geachtet zu werden als gefürchtet. Vor allem in einer Armee, die so klein ist."

Es war seltsam, solche Worte von einer Person wie Daenor zu hören, einem Diener Morgoths.
Doch Asrán musste zugeben, dass er recht hatte. Und er war froh über diese Einstellung.
"Deshalb sprecht Ihr auch die orkische Sprache, oder?", hakte er nach, ermutigt von Daenors gelassener Reaktion. Vor ihnen war Gorog langsamer geworden, als wolle er alles hören, was sie besprachen.

Daenor nickte. "Ja, es war hilfreich. Ist es immer noch, wie Ihr gesehen habt. Und es hat den Vorteil, dass uns kein Feind verstehen kann," fügte er mit einem leichten Lächeln an.
Die Fragen machten ihn nicht wütend, erkannte Asrán.
Noch nicht.
"Beherrscht Ihr auch meine Sprache?"

Das Lächeln wurde breiter.
"Gut genug, um zu verstehen," erwiderte der Elb in gebrochenem Khandrisch, "Eure Sprache hat sich sehr verändert."
Das erklärte, warum Daenors Akzent kaum zu hören war: er war an den Klang der Sprache gewohnt, lediglich manche Wörter und ein Teil der Grammatik waren ihm neu. Aber er verstand genug.

Als sie weitergingen, dachte Asrán über die Fähigkeiten nach, die Chelhathol nach und nach an den Tag legte und die teilweise vollkommen überraschend kamen.
Jede Geschichte erzählte von seinem Sinn für Strategie, aber keine erwähnte, dass er ein Talent für Sprachen hatte.
Andererseits hatte er auch über fünfhundert Jahre Zeit gehabt, um zu lernen, bevor Morgoths Reich gefallen war.
Asrán hatte Sauron nicht verstanden, als er ihn und seine Männer auf eine so gefährliche Mission schickte, nur um einen Elben zu retten.

Langsam tat er es.

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