Kapitel 11 | Bruchtal

Geleitet von zwei mit Lampen bestückten Elben, betraten die Maia nun das Tal von Imladris.
Elrond stand am Fuß einer Treppe und erwartete sie, nur ein dunkler Umriss, bis der Lichtschein sein Gesicht erreichte.
Als der Halbelb sie begrüßte, verlor er kein Wort über den Grund ihres Kommens, wenngleich seine Stimme kühl und seine Miene grimmig war.

Nein - in dieser Nacht wurden keine Dinge mehr besprochen.

Erst am nächsten Morgen trafen sie sich mit Elrond in dessen Bibliothek. Sie war groß und hell erleuchtet, die holzgetäfelten Wände, nur teilweise hinter hohen Regalen zu sehen, waren hell und einladend.

Der Halbelb stand an einem kleinen Balkon und sah auf den darunterliegenden Garten hinab. Dort standen zwei Elben, die sich sowohl untereinander als auch Elrond selbst so ähnlich sahen, dass sie vermutlich seine Söhne waren.
Sie unterhielten sich mit keinem anderen als Craban, der ausnahmsweise keine griesgrämige Miene zur Schau stellte.

Beiläufig fragte sich Eonwe, wie gut sie sich kennen mochten, kam aber dann zu dem Schluss, dass es ihn schlichtweg nichts anging.
Außerdem gab es wichtigeres zu besprechen.

"Ihr wisst bereits, warum wir hier sind, " begann der Herold Manwes ruhig, "Und was wir vorhaben."
Elrond nickte.
"Ja. Und meines Erachtens ist es gut, wenn Ihr versucht, die Gemeinschaft und damit Gandalf einzuholen.
Sie werden den heimlichsten Weg wählen, den sichersten. Und Ihr habt recht - wenn er Euch erwartet, habt Ihr keine Chance."

Die Neun Gefährten einzuholen war der Grundgedanke des Plans, den sich Eonwe und Vadrion an den Grauen Anfurten zurechtgelegt hatten.
Nicht nur, weil Gandalf den besten Weg wählen würde, und sie seinen Rat brauchten - indem Círdan Gandalf vor Daenor gewarnt hatte, hatte er ihre Anwesenheit preisgegeben. Sie wussten nun voneinander.

Und im Falle einer Gefangennahme hätte dies fatale Folgen.

So gesehen war es beinahe eine Schutzmaßnahme, zusammen zu reisen.

"Ich hätte nicht gedacht, dass Sauron zu solchen Mitteln greifen würde," fuhr Elrond plötzlich fort.
"Aber im Nachhinein betrachet ist man immer klüger. Im Nachhinein betrachtet hätte ich es wissen müssen..."
Er hatte den Kopf abgewandt, und als Eonwe seinem Blick folgte, entdeckte er dort, versteckt zwischen mehreren Regalen, einen schlichten Schild - solche, wie sie verwendet wurden, um Schwerter aufzuhängen.

Das Holz war vom Alter verfärbt, bis auf einen Streifen oberhalb der Haken. Hier hatte lange eine Waffe gehangen.
In Eonwe keimte ein unangenehmer Verdacht auf.
"Was ist geschehen?", kam Vadrion seinem Gefährten zuvor.

Elrond verschränkte die Arme hinter dem Rücken und ging einige Schritte auf den leeren Schild zu.
"Vor sechzig Jahren," begann der Herr von Bruchtal, "Brach Gandalf mit einer Gruppe von Zwergen und einem Hobbit zu einer Mission auf, um den Erebor, den einsamen Berg, von dem Drachen Smaug zu befreien."

Die beiden Maiar nickten bestätigend.
Sie erfuhren trotz ihrer Abwesenheit in Mittelerde doch immer, was sich dort zutrug, und so war ihnen auch das Schicksal des letzten Feuerdrachen und Gandalfs Rolle darin nicht fremd.

"Auf dem Weg hierher, "fuhr Elrond fort, "stießen sie in einer Trollhöhle nicht weit von hier auf Klingen aus gondolinischem Stahl. Eines der Schwerter - durch welchen Zufall sie auch immer ihren Weg in dieses Loch gefunden haben mögen - war kein geringeres als Nauring."

Das bestätigte seinen Verdacht.
Eonwe zwang sich zu einem ausdruckslosen Gesichtsausdruck, als er weitere beunruhigende Schlüsse zog.
Er deutete mit dem Kinn auf den leeren Schild .
"Und es ist gestohlen worden?"

Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Elrond nickte, und ein bitterer Unterton mischte sich in seine Stimme:
"Das ist nun fast ein halbes Jahr her. Aber ehrlich gesagt maßen wir diesem Vorfall nicht die Bedeutung zu, die er eigentlich verdient. Wir waren nicht so besorgt, wie wir es hätten sein sollen."

"Gab es Tote?," fragte Vadrion, der den hellen Streifen Holz betrachtete, als könne er den verhassten Stahl immer noch dort hängen sehen.
"Kein einziger, den Valar sei Dank," gab Elrond zur Antwort.
Eonwe blinzelte überrascht. Das hätte er nicht erwartet.

"Unserer Vermutung nach sind sie im Schutz der Nacht die Schlucht hinabgeklettert und haben alle Wachen umgangen. Schnell und leise, sie wurden nicht bemerkt. Von Niemandem."
Eonwe nickte. Er erkannte Parallelen zu Daenors Befreiung und diesem Diebstahl. Beide waren vollkommen unbemerkt vonstatten gegangen und es hatte nur die absolut notwendigen Toten gegeben - vermutlich, weil eine Leiche, selbst eine versteckte, das Risiko erhöhte, entdeckt zu werden.

Wer hier zu Werke gegangen ist, hatte genau gewusst, was er tat.
Saurons persönlicher Assassine vielleicht, dachte Eonwe mit einer Art grimmiger Belustigung.

"Ich nehme an," warf er nun ein,"dass es ihnen tatsächlich nur um Nauring ging."
Elrond nickte.
"Ich habe mich damals wirklich gefragt, was unser Feind damit vorhaben mag. So dunkel seine Vergangenheit auch ist, dieses Schwert ist nur ein Symbol. Ein Symbol, das keine Bedeutung hat, wenn nichts - besser gesagt niemand - dahinter steht."
Seine Miene verfinsterte sich.
"Nun, jetzt weiß ich die Antwort."

Vadrion verschränkte die Arme vor der Brust. "Das bedeutet nur umso mehr, dass wir uns beeilen sollten."

Trotz dieser Feststellung blieben sie noch zwei weitere Tage in Bruchtal, denn was sie vorhatten, bedurfte einiger Vorbereitung.
Sie verschafften sich einen Überblick über die Strecke, die sie zu bewältigen hatten und den Weg, den die Gemeinschaft höchstwahrscheinlich eingeschlagen hatte.

Einen Großteil der Zeit verbrachten sie unter anderem im Gespräch mit Elrond. Es gab viele Dinge, von denen sie nichts wussten, Dinge, die ihnen zum Verhängnis werden konnten.
Und auch wenn Elrond vielleicht nicht vollständig über Saurons Waffenstärke und Organisation Bescheid wusste, war sein Wissen über ihn und seinen Ring doch überaus nützlich.

Und als sie sich schließlich zum Aufbruch bereitmachten, bot sich ihnen eine angenehme Überraschung:
Elrohir und Elladan, die beiden Elben, die sie von dem Balkon aus gesehen hatten - und sich tatsächlich als Elronds Söhne herausstellten - boten an, sie zu begleiten.
Sie waren Zwillinge, und schienen beide äußerst entschlossen.
Eonwe glaubte, dass sie verlässliche Gefährten sein würden.

Doch die eigentliche Überraschung war, dass sich auch Craban bereiterklärt hatte, sie weiter zu führen.
Bei dem Blick allerdings, den der Elb den Zwillingen zuwarf, als er am Morgen des Aufbruchs zu ihnen stieß, war Eonwe sich beinah sicher, dass das nicht seine eigene Entscheidung war.
Der Maia hatte den Verdacht, dass die beiden solange auf ihn eingeredet hatten, bis er zugestimmt hatte.

Während er belustigt ihren stummen Schlagabtausch beobachtete, fragte sich Eonwe erneut, wie gut sich die drei kennen mochten.
Gut genug, um sich vertrauen zu können, stellte Eonwe mit einer seltsamen Erleichterung fest.

Er war sich sicher, dass sie so etwas wie Vertrauen noch brauchen würden.

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