Kapitel 10 | Die Diener Morgoths
Gorgoroth war genau das, was Asrán gesagt hatte: staubiges Ödland. Oder zumindest wäre es das gewesen, hätte die Ebene nicht vor zahlreichen Orks gewimmelt. Daenor schätzte ihre Anzahl auf etwa fünftausend, doch er bezweifelte stark, dass dies das ganze Ausmaß von Saurons Streitkräften war.
Sauron zog seine Armeen vermutlich erst zusammen.
Und seine Anwesenheit war überall zu spüren.
In der Gestalt eines riesigen Auges ließ er seinen Blick von der Spitze seines Turms aus über die Ebenen gleiten.
Nicht selten strich der Lichtstrahl des Auges über sie hinweg und richtete seinen Willen auf sie.
So sieht man sich wieder, dachte Daenor grimmig, als er Saurons Präsenz ein weiteres Mal wahrnahm.
Er wusste nicht, ob Sauron ihn hören, oder ob er antworten konnte. Falls ja, tat er es jedenfalls nicht.
Daenor hatte sich auf Asráns Bitte hin eine Kapuze über den Kopf gezogen, die sein elbisches Blut verschleiern sollte - solange er als Mensch durchging, schenkte ihm keiner der Orks Beachtung.
Barad-dûr wurde vor ihnen immer größer, es reckte sich in den bedeckten Himmel wie eine schwarze Klinge. Daenor straffte die Schultern, als sie durch das hohe Tor ritten, das sich krachend hinter ihnen wieder schloss.
Obwohl er keine Furcht empfand, konnte sich Daenor einer gewissen Unruhe nicht erwehren.
Er war dieses Gespräch hunderte Male in seinem Kopf durchgegangen, hatte sich Antworten und Anklagen zurechtgelegt.
Er hielt sie sich vor Augen, als er einem sichtlich angespannten Asrán die unzähligen Stufen zur Spitze des Turms hinauffolgte.
Er schien ohne Struktur angelegt worden zu sein und Daenor verlor spätestens auf halber Höhe gänzlich die Orientierung.
Schließlich erreichten sie eine hohe, aber schmucklose Tür, die von zwei riesigen Orks bewacht wurde.
Asrán nickte ihnen zu und einer von ihnen stieß ohne zu zögern die Tür auf - sie wurden also bereits erwartet.
Doch der Mensch trat zu Seite und winkte Daenor hinein.
"Er will mit Euch allein sprechen."
Der Elb nickte und ging an ihm vorbei in den kreisrunden Raum.
Das Geräusch der zuschnappenden Tür klang wie ein herabsausendes Fallbeil.
Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er allein war. Der Raum war leer.
"Zeig dich, Sauron," knurrte Daenor, "Spar dir deine Spielchen."
Ein tiefes Lachen schwebte durch den Raum, bevor sich ein paar Schritte vor Daenor eine Gestalt manifestierte.
Hätten die Orks auf den Ebenen von Gorgoroth nun zu Barad-dûr aufgeschaut, so wäre ihnen aufgefallen, dass das große Auge matter und dunkler zu brennen schien.
Denn es richtete all seinen Willen nach innen.
Auf den einzelnen Elb, der stoisch die Arme vor der Brust verschränkte.
"Sei mir gegrüßt, alter Freund," sagte Sauron nun, den typischen Ansatz eines listigen Lächelns auf den schmalen Lippen. Denn er trug seine schöne Gestalt, die Gestalt eines Elben von edler Geburt.
Langsam ließ er den Blick über Daenor wandern, der unverändert dastand und seine Ungeduld im Zaum hielt. "Du bist in erstaunlich guter Verfassung," stellte er schließlich fest. Seine Stimme war leise, passend zu seiner Äußeren Form, und sie wand sich wie eine Schlange in Daenors Kopf.
"Im Gegensatz zu dir," gab der Elb nun zurück, der Saurons Tricks kannte und sich nicht davon beeinflussen ließ.
Tatsächlich sah der Maia nicht so aus, als wäre er auf dem Höhepunkt seiner Macht. Seine gesamte Gestalt war durchscheinend, Daenor konnte die Fackel hinter Saurons Rücken flackern sehen.
Das Gesicht des Maia verfinsterte sich.
"Ein Problem, das bald behoben werden wird," sagte er düster.
Man sah deutlich, dass seine Schwäche aufgrund des Verlusts seines Ringes ein wunder Punkt war.
"Das war keine kluge Entscheidung," fuhr Daenor fort, "Deine ganze Macht von einem einzigen Gegenstand abhängig zu machen. Hättest du das bedacht, hättest du dieses Problem jetzt nicht."
Stück für Stück kam das volle Maß der Verachtung hoch, die Daenor für den Maia empfand. Er würde sich ihm nicht unterwerfen. Und auch wenn es höchst unklug war, ihn zu provozieren, ließ Daenor es sich nicht nehmen ihn das spüren zu lassen.
Er kniete vor niemanden außer Morgoth.
Die Fackeln loderten auf, als würde ein Sturm in dem Raum wüten.
Daenor konnte Saurons Willen spüren, der sich wutentbrannt gegen ihn wandte. Selbst jetzt, in dieser geschwächten Form, war er um so vieles stärker als der Elb.
"Red nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst!", fuhr Sauron ihn zornig an.
Dünnes Eis.
Er wusste, er bewegte sich nun auf sehr dünnem Eis, doch er hatte nicht vor, nachzugeben. Denn Daenor hatte einen entscheidenden Vorteil. Seine Befreiung lag erst so kurz zurück, dass er sich noch nicht wirklich wieder für sein Leben interessierte. Er hatte nichts zu verlieren, und das machte ihn furchtloser, als es selbst die abgebrühtesten Veteranen selten waren.
Daenor wusste durchaus, dass sein Gegenüber ihm weit überlegen war. Er wusste, dass er ihn jederzeit töten, oder ihm Schmerzen jenseits seiner Vorstellung zufügen konnte. Doch er tat es nicht. Er hatte den Elb befreit, weil er ihn brauchte, und tötete er ihn jetzt, schnitt er sich nur ins eigene Fleisch.
Stück für Stück wurden die Flammen der Fackeln wieder ruhiger, als Sauron seinen Zorn niederrang.
"Du bist nicht hier, um meine Entscheidungen infrage zu stellen," Knurrte er.
"Dann lass uns zur Sache kommen und sag mir, warum ich hier bin,"erwiderte Daenor.
"Wie Asrán dir vermutlich erzählt hat," antwortete Sauron, nunmehr wieder ruhig und gefasst, "Gab es einige Pläne, die während meines ersten Krieges zum Ende des zweiten Zeitalters vereitelt wurden. Und die schlussendlich hierzu führten."
Er machte eine kleine, aber allumfassende Bewegung mit der Hand. "Da erkannte ich," fuhr er fort, "Dass ich diesen Krieg anders führen muss. Dass ich vertrauenswürdige Anführer brauche. Und dann dachte ich an dich."
Zorn kochte in Daenor hoch, und der stoische, neutrale Gesichtsausdruck, den er bis jetzt aufrechterhalten hatte, bröckelte unter seiner Wut.
"Dann dachtest du an mich?", zischte er gefährlich leise, "Nach sechseinhalbtausend Jahren?"
All die Jahre war Sauron da draußen gewesen, hattr Kriege geführt und seine Macht gemehrt. Und er hatte keinem von ihnen geholfen. Nicht Daenor, nicht Morgoth...Niemandem.
"Es gab keine Möglichkeit, dich früher zu befreien, Daenor," erwiderte Sauron, und seine Stimme hatte einen beschwichtigenden Unterton angenommen. "Weder nach dem Fall von Angband noch während meiner Zeit in Numenor hätte ich mir es leisten können, in dieser Hinsicht so viel Aufmerksamkeit zu erregen."
"Andererseits," fuhr er fort, und sein Tonfall wurde kälter, "Bin ich dir in keinster Weise verpflichtet. Ich hätte dich niemals retten müssen und doch habe ich es getan. Du schuldest mir dein-"
"Ich schulde dir gar nichts," unterbrach ihn Daenor mit nicht minder eisiger Stimme.
Das war er.
Der Trumpf, den er geheim gehalten hatte, um ihn im perfekten Moment ausspielen zu können.
"Die Valar hatten mir eine zweite Begnadigung angeboten, wusstest du das? Der Preis dafür warst du. Sie wollten wissen, wo sie dich suchen müssen. Und glaub mir, ich hätte es ihnen sagen können. Ich bin dir schließlich nicht verpflichtet. Aber das habe ich nicht. Du bist derjenige, der seine Schuld beglichen hat. Denn ich bin der einzige Grund, warum du nicht in Mandos' Veste vor dich hinrottest, wie ich es getan habe."
Es war das erste Mal, seit er ihn kannte, dass Daenor Sauron kurzzeitig sprachlos sah.
Doch er fing sich sofort und verbarg seine Überraschung.
"Nun," sagte er schließlich, "Das wusste ich tatsächlich nicht. Meinen Dank."
"Doch es ändert nichts an dem, was ich gesagt habe,"fuhr Sauron fort, "Ich habe ein treues Heer, doch außer den Nazgûl niemanden, der es anführt."
"Ein treues Heer?," warf Daenor ein. Er dachte an die Gesichter von Saurons persönlichen Wachen, ihren gehetzten, beinahe angsterfüllten Blick. "Mach nicht den Fehler und verwechsle ihre Furcht mit Treue. Und deine Grausamkeit mit Stärke."
Überraschenderweise nahm Sauron diesen Kommentar gelassen auf. Er lächelte. "Möglicherweise ein weiterer Grund, warum ich dich brauche."
"Nein."
"Nein?"
"Nein. Das ist nicht mein Krieg, Sauron. Das geht mich nichts an. Erobere die Welt, wenn du willst, aber lass mich aus dem Spiel. Erwarte nicht, dass ich deine Machtspiele unterstütze. Du hattest genug Möglichkeiten, uns zu helfen. Du hast es nicht getan," sagte Daenor leise, aber bestimmt.
Er wusste nicht einmal genau, wen er mit uns meinte. Aber es hatte sich richtig angefühlt, es zu benutzen.
Daenor sah Sauron fest in die geisterhaften Augen.
Tatsächlich schien er dem Dunklen Herrscher in diesem Moment ebenbürtig zu sein. Er hatte keine Ehrfurcht vor Sauron, er sah ihn als Gleichgestellten.
Und er konnte sein Angebot jederzeit ablehnen.
"Glaubst du etwa, ich tue das für mich?," sagte Sauron gefährlich leise.
Daenor stieß ein kurzes, freudloses Lachen aus, das beinahe vor Spott troff. "Für wen denn sonst?"
"Für Morgoth."
Stille.
Daenor wich einen Schritt zurück.
Und dann schnaubte er.
"Was ist mit dem zweiten Zeitalter? Dem Krieg, den du dort geführt hast? Warum hast du es damals nicht getan?"
Sauron trat auf ihn zu, eine Gestalt aus transparenten, tödlichen Schatten.
"Ich hatte es vor," knurrte er, "Mein Sieg war nah, so nah. Diese Niederlage kam überraschend. Aber ich habe überlebt. Und ich bin wieder stärker geworden, bereit, zu Ende zu bringen, was ich begonnen habe.
Der Ring gibt mir mehr Macht, als ich sie in Angband jemals besessen habe, Daenor. Mit ihm kann ich die Leere durchbrechen und unseren Meister zurückholen. Früher konnte ich es nicht, doch mein Wissen hat sich erweitert.
Und bis ich den Ring wieder an meiner Hand weiß, können wir das Reich Morgoths wieder auferstehen lassen. Wir, seine Heerführer, können all seine Feinde vernichten. Denn wir sind beide Diener Morgoths. "
Daenor erinnerte sich daran, was Asrán ihm erzählt hatte. An all das, das Sauron in Numenor getan hatte.
Er hatte die Menschen unter seine Kontrolle gebracht, hatte sie Morgoth huldigen lassen. Er hatte in Morgoths Namen einen Krieg gegen Valinor selbst begonnen.
"Wir sind beide Diener Morgoths," wiederholte Sauron eindringlich.
Daenor ließ die Arme sinken.
Sauron rührte seine tiefsten Hoffnungen, seinen Glauben an die Loyalität, die in ihren Reihen geherrscht hatte.
Was er sagte klang plausibel.
"Als ich dich damals gedeckt habe," murmelte Daenor schließlich, "Habe ich genau darauf gehofft."
Doch die Schatten der Vergangenheit waren immer noch hier, krallten sich immer noch in Daenors Erinnerung.
Er sah Sauron in die Augen, der mit einem beinah triumphierenden Lächeln dastand. Und als er sprach klang seine Stimme eisig:
"Lass mich das hier nicht bereuen."
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