Valinor, Veste von Mandos
3018, d. Z.
Es war alles gleich.
Jede Stunde, jeder Tag, jedes Jahr.
Zeit hatte keine Bedeutung mehr.
Jeder Herzschlag war so lang wie eine Ewigkeit; er glich dem Vorangegangen und würde auch dem Kommenden gleichen.
Allein die allabendlichen Wachwechsel sagten Daenor, dass ein weiterer Tag vergangen war.
Doch er hatte schon lange aufgehört, sie zu zählen. Sich die Jahre auszurechnen.
Warum auch?
Er war hier, er würde hier bleiben. Und wenn noch einmal so viele Jahre vergingen.
Eine so lange Zeit...
Die Valar hatten ihn hierzu verdammt.
Zu dieser ewigen Gefangenschaft in der Veste von Mandos.
Es war ihr Urteil gewesen, als sie ihn nach dem Krieg des Zorns in Ketten nach Valinor gebracht hatten.
Anfangs hatte er noch an der irrwitzigen Hoffnung festgehalten, dass ein Überlebender aus Morgoths Reihen versuchen würde, ihn zu befreien.
Er war der Kriegsherr von Morgoth.
Daenor hatte sich an diesen Titel geklammert, er war sein Halt gewesen.
Alles, was ihn dazu gebracht hatte, einen weiteren Tag zu überstehen.
Doch die Jahre waren vergangen.
Ohne, dass irgendetwas geschehen war.
Seine Hoffnung war zu Staub zerfallen und schien ihm nun kindisch und wahnsinnig.
Wer sollte so etwas versuchen?
Doch diese Gefangenschaft, er ertrug sie nicht mehr.
Er hätte zwanzig Jahre lächelnd durchgehalten.
Oder Hundert.
Oder Tausend.
Aber es waren schon längst mehr gewesen. Als Daenor aufgehört hatte, die Jahre an den Wachwechseln zu zählen, war er bei dreitausendvierhundertsiebenundneunzig gewesen.
Er verfluchte seine elbische Unsterblichkeit, die sein Leben nicht einfach irgendwann beendete.
Und es trieb ihn in den Wahnsinn.
Denn Daenor spürte, dass er langsam den Verstand verlor. Er hatte einen stählernen Willen, doch der hatte schon lange zu bröckeln begonnen.
Alles, was ihm geblieben war, war ein Rest seines Stolzes, ein Schatten des Kämpfers, der er vor so vielen Jahren gewesen war.
Sie mochten seine Hoffnung gebrochen haben, seine Stärke, seinen Willen.
Aber sie konnten ihm den Stolz nicht nehmen, den er empfunden hatte, als er Morgoths Kriegsherr gewesen war.
Den Stolz, der ihn seither immer begleitet hatte.
Und der ihn nun davon abhielt, die Valar um den Tod zu bitten.
Eher würden sie ihn von sich aus töten, wenn sie sahen, dass er verrückt geworden war. Aber er würde nicht betteln. Das hatte er sich geschworen, als er nach der Schlacht in Ketten wieder aufgewacht war.
Und Daenor hielt die Versprechen, die er gab. Auch sich selbst gegenüber.
Die schwarzen Ketten, mit denen er gefesselt war, rasselten laut, als er sich flach auf den Rücken legte. Kaum war das Geräusch erklungen, hatten sich die beiden Wachen bereits zu ihm umgedreht und starrten ihn durch die verschlossene, aus schwarzem Eisen geschmiedete Gittertür an.
Daenor warf ihnen einen giftigen Blick zu und sie wandten sich wieder ab.
Als ob von ihm noch irgendeine Gefahr ausginge.
Daenor fragte sich langsam, warum sie sich überhaupt noch die Mühe machten, ihn zu bewachen.
Früher war das anders gewesen. Als er noch in den vordersten Reihen von Angbands Armee gestanden hatte, war kaum ein Name gefürchteter gewesen als seiner. Aber diese Zeit war lange vorbei.
Plötzlich erklangen Schritte.
Daenor hob erstaunt den Kopf.
War es Eonwe?
Vor der Verbannung der Noldor war der Maia sein bester Freund gewesen.
Ab und zu besuchte der Herold Manwes ihn hier.
Und auch wenn die Freundschaft zwischen ihnen schon lange erloschen war, allein mit irgendjemandem zu reden war eine Gnade. Aber Eonwe war schon lange nicht mehr gekommen.
Daenor lauschte auf die Schritte und stutzte. Er kannte Eonwes Gang.
Das war nicht er.
Irritiert richtete der Elb sich auf, den Blick auf die Gittertür gerichtet. Es kam sonst nie jemand.
Die Maiar hatten sich ebenfalls den Geräuschen zugewandt.
"Halt! Wer seid Ihr?"
Die Stimme der Wache war laut und herrisch. Aber es kam keine Antwort.
"Habt Ihr nicht gehört?"
Rief der andere.
"Sagt uns, wer Ihr sei-"
Er kam nicht mehr weiter.
Daenor hatte dieses Geräusch seit Jahrtausenden nicht mehr gehört und doch erkannte er es auf Anhieb.
Das Geräusch einer Klinge, die sich in Fleisch bohrte.
Der linke Maia kam mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden auf und Daenor sah seinen Mörder, als dieser auf die andere, völlig überrumpelte Wache zusprang und ihn ebenfalls niederstach.
Er war nicht besonders groß und in schwarz gekleidet, bis auf eine Schärpe um seine Hüfte und das Tuch, das sein Gesicht verdeckte. Sie waren scharlachrot.
Jetzt wandte er sich Daenor zu.
"Seid Ihr Daenor Chelhathol? Der Schwarze Kriegsherr?"
Der Schwarze Kriegsherr.
Daenor brauchte einen Moment um zu begreifen. Dieser Mann war wegen ihm hier.
Der Elb nickte.
"Ja. Der bin ich."
Seine Stimme war immer rau gewesen, denn das jahrelangen Überschreien des Schlachtlärms hatte seine Stimmbänder angegriffen.
Doch jetzt, da er sicherlich wochenlang nicht mehr gesprochen hatte, war sie höchstens ein heiseres Krächzen.
Und dennoch war sie fest und furchtlos.
Der Mann nickte, dann bückte er sich, um die Leichen zu durchsuchen.
Daenor ahnte schon, was er suchte.
"Die Schlüssel hat der Rechte in der Tasche."
Der Mann blickte zu ihm auf und Daenor sah, wie er die drei Schlüssel- einer für die Tür, einer für die Fußfesseln und einer für die Handschellen- herauszog und die Tür aufschloss.
Sie schwang lautlos auf.
Der Mann trat ein und hockte sich vor ihn hin, seine Bewegungen waren plötzlich so leise, als hätte er sich auf einen Schlag in einen Fleisch gewordenen Schatten verwandelt.
Daenor entdeckte an ihm eine beeindruckendes Arsenal an Messern und verschiedensten Einbruchswerkzeugen.
Sein schmaler Körperbau war wie geschaffen für einen Spion oder Assassinen - was auch immer er war - obwohl er sich mit einer Sicherheit bewegte, die besagte, dass er seine Messer durchaus zu gebrauchen wusste.
Daenor blickte seinem Gegenüber in die schmalen, goldbraunen Augen.
"Darf zumindest ich erfahren, wer Ihr seid?"
Der Mann- er war erstaunlicherweise ein Mensch- hob den Kopf. "Später."
Eine klare Ansage. Daenor brummte etwas Unverständliches.
Aber...das ganze verlief so reibungslos. Plötzlich war dieser Mensch hier aufgetaucht, hatte die Wachen getötet und schloss ihn gerade von den Ketten los, die er nun schon seit Jahrtausenden trug.
Das alles kam ihm so unwirklich vor.
Aber das Gefühl des Eisens, als es zuerst von seinen Handgelenken, dann von seinen Füßen glitt- das war echt.
Und dann...war er frei.
Das erste mal seit so langer Zeit.
Er konnte nicht anders, als sich ungläubig mit der Hand über den bleichen Ring zu streichen, den das Eisen hinterlassen hatte.
"Los, steht auf. Wir haben nicht viel Zeit!"
Die Stimme des Mannes klang drängend. Daenor nickte und erhob sich. Die Ketten hatten ihm zumindest genug Freiraum gegeben, um in seiner Zelle auf und ab zu laufen, was er oft genug getan hatte.
Als der Mann sah, dass Daenor sicher auf den Beinen stand, bedeutete er dem Elb, ihm zu folgen. Der Mensch machte Anstalten, die Leichen in die Zelle zu ziehen, doch Daenor hielt ihn auf. "Lasst sie liegen, " sagte er und deutete auf den roten See, der sich um die Leichen bildete, "Sie werden auch Alarm schlagen, wenn sie nur das Blut sehen"
Der Mensch sah ihn an und nickte.
"Folgt mir."
Der Elb folgte seinem unvorhergesehenen Retter den langen Gang entlang, der sich hinter der Zelle erstreckte, immer noch ungläubig über das, was gerade geschah.
Es gefiel ihm überhaupt nicht, dermaßen abhängig von diesem Menschen zu sein, aber was blieb ihm denn anderes übrig?
Und, einmal abgesehen davon, was hatte er denn zu verlieren?
Früher hätte er ihm vielleicht misstraut, doch er war schon lange darüber hinaus. Im besten Fall holte er ihn hier raus. Im schlimmsten Fall- er hatte keine Ahnung was dann geschah, aber es konnte für ihn nicht schlimmer sein als das, was er gerade hinter sich ließ.
Der Mensch führte ihn vorsichtig und zielsicher weiter. Die Gänge von Mandos' Festung waren alle aus schmucklosen, hellen Stein erbaut und sahen absolut gleich aus. Doch der Mann schien sich auszukennen. So, als ob das alles von langer Hand geplant wäre
Daenor hielt seine Fragen zurück. Er konnte sie später noch stellen, doch jetzt galt es erst, leise zu sein.
Der Elb merkte, dass er immer tiefer geführt wurde. Nicht an der Qualität der Gänge, sondern daran, dass die Luft immer kälter wurde.
Schließlich erreichten sie eine unscheinbare Tür, die der Mensch leise öffnete und in den Gang dahinter spähte. Er winkte Daenor zu, dann trat er durch die Tür und wartete, bis Daenor ihm gefolgt war.
Der Gang, in dem sie jetzt standen, war aus rohem Fels. Anscheinend gehörte er nicht mehr wirklich zur Festung. Daenor bezweifelte, dass der Großteil von Mandos' Leuten darüber überhaupt in Kenntnis gesetzt war.
Der Mensch schloss die Tür hinter Ihnen, dann übernahm er wieder die Führung. Je weiter sie gingen, desto dunkler und feuchter wurde es.
Bis plötzlich...
Daenor hätte niemals geglaubt, das Geräusch des Meeres erneut zu hören, das Krachen von Wellen, die auf die Küste trafen. Der letzte Rest in ihm, der immer noch an eine Einbildung glaubte, zerfiel zu Staub.
Der Mensch führte ihn um eine Biegung, die Brandung wurde ohrenbetäubend laut.
Sie standen in einer riesigen Höhle, an dem schmalen Streifen Strand war ein Schiff festgemacht.
Und dort, am anderen Ende- Tageslicht.
Es spiegelte sich in den leichten Wellen und warf tanzende Reflektionen an die hohe Decke.
Es war nicht so, dass seine Zelle dunkel gewesen wäre, aber natürliches Licht war etwas ganz anderes. Etwas viel Schöneres.
"Kommt!"
Die Stimme des Menschen riss ihn aus seinen Gedanken.
Daenor sah, dass der Mensch auf das Schiff zurannte und sprintete hinterher.
Es fühlte sich so gut an, zu rennen.
Die Kraft zu verwenden, die er immer noch hatte. Er hatte trotz seiner Verzweiflung nicht zulassen wollen, dass die Gefangenschaft ihn dahinraffte; hatte Wahnsinn und Muskelschwund mit allen Mitteln entgegengewirkt.
Vier weitere Personen waren auf dem Schiff, die seinen Retter nun an den Armen packten und nach oben über die Reling zogen.
Daenor legte noch einmal an Geschwindigkeit zu und sprang nach oben.
Er erwischte die Reling mit den Händen und zog sich hoch.
Der Elb genoss das Brennen in seinen Armen, auch, als die beiden anderen ihm ebenfalls an Bord halfen.
Oben angekommen, riss sich der Mensch das rote Tuch herunter und offenbarte ein schmales Gesicht mit dunkler Haut und beinahe schwarzem Haar.
Auch alle anderen an Bord hatten diese Hautfarbe.
"Ablegen!", rief einer der Männer.
Der Befehl wurde schnell ausgeführt und nach einer kurzen Weile glitt das Schiff bereits auf den Höhleneingang zu.
Daenor hatte noch nie viel Ahnung von Schiffen gehabt, doch dieses hier war klein und schien darauf ausgelegt zu sein, schnell und unscheinbar zu sein.
Dann plötzlich kam ihm ein Gedanke, der ihn zu Eis erstarren ließ.
"Wir sind immer noch direkt unter Mandos' Festung, sie werden uns sehen!"
"Nein, das werden sie nicht."
Daenor drehte sich zu dem Menschen um, gerade als er weitersprach.
"Dieses Schiff ist mit einer Reihe von Tarnzaubern umgeben, die uns vor den Augen der Valar schützen. Darüber braucht Ihr Euch keine Gedanken zu machen."
Er ging an Daenor vorbei, der das Gehörte gerade verarbeitete.
"Wer seid Ihr?", stieß er hervor.
Der Mensch drehte sich zu ihm um. "Mein Name ist Asrán."
Sagte er.
Asrán.
Zumindest etwas. Aber dieses Schiff, diese Menschen. Keiner von ihnen wäre in der Lage, solche Banne zu weben, dass sie die Valar zu täuschen, die Schutzbanne Valinors zu überwinden vermochten. Sie waren auf Jemandes Befehl hier.
"Wem dient Ihr?"
"Später,"
War Asráns einzige Antwort.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top