Holunderstrauch

Schon beim Frühstück bemerkt Jörn Evas flehentliche Blicke, die ihn unablässig zu überzuckern versuchen. Beim Kaffeeaufgießen, beim Brötchenaufschneiden, beim Marmeladenglasöffnen. Jörn kennt das. Nichtbeachtung hat ihm in solchen Fällen noch nie geholfen.

Evas Augen weiten sich immer mehr, scheinen größer und größer zu werden, wie bei diesen japanischen Comicfiguren, die Jasmin früher den ganzen Tag gezeichnet hat. Seine kleine Jasmin. Über einen Monat hat sie schon nichts von sich hören lassen.
Er faltet die Zeitung auf und hält sie so hoch, dass er Evas tränenvollen Blick nicht sehen muss. Nur ihr leises Schmatzen und das Nippen an der Kaffeetasse bleiben. Schon meint er zu sehen wie das billige Papier feucht wird, Holzfasern quellen, die Textspalten sich zu wellen beginnen und sich schließlich in wunderschönes Nichts auflösen.
Jörn lässt die Zeitung knisternd in den Schoß fallen. Es klingt wie ein Knall. Eva verschluckt sich. Ihre Tasse kippt in Richtung Brötchenkorb. Dann ein Hustenanfall. Jörn überlegt, ob er aufspringen und ihr auf den Rücken schlagen soll, lässt es dann aber bleiben. Sie kommt schon wieder zu sich!
»Ach herrje, die schönen Brötchen!« Evas Wangen sind gerötet. Sie wischt sich Tränen aus den Augenwinkeln, versucht die Ordnung auf dem Tisch wiederherzustellen. Ihre Stimme klingt rauer als sonst. Als käme sie von ganz weit unten. Aus dem Keller. Oder aus dem Brunnen. Aus einem frischen Grab.
Jörn greift nach ihren Handgelenken. »Lass es gut sein. Bitte!«
Jetzt lächelt sie. Ein Brötchenkrümel hängt auf ihrem rechten Schneidezahn. Jörn unterlässt es, sie darauf hinzuweisen. Vor zwanzig Jahren hätte er ihr den Krümel vom Zahn geleckt. Heute ekelt ihn diese Vorstellung bis ins Mark.

»Das Wetter hält. Bist du bereit?«
Jörn weiß nicht, wovon Eva spricht. Sie sieht nach draußen in den Garten, wo Büsche und Bäume dicht beieinander bis ans Haus wuchern. Es fällt kaum Tageslicht in die Küche. Wenn der Himmel bedeckt ist, müssen sie selbst im Sommer von morgens bis abends die Lampen brennen lassen. Jörn spürt ein brennendes Ziehen in der Hosentasche, dort wo normalerweise sein Portemonnaie steckt.
Evas Augen haben erneut diesen verträumten und leicht entrückten Blick angenommen, der Jörn so irritiert. Irgendwann ist finito mit diesem Pflanzenwahnsinn! Wie oft hat er sich schon vorgenommen, endlich einen Schlussstrich zu ziehen. Unter die Blumen-, Busch- und Baumkäufe, Evas Pflanzomanie, das ewig leere Konto, ihre morsche Ehe.

»Den Holunderstrauch. Wir wollten heute den Holunderstrauch pflanzen!« Eva klatscht in die Hände. Der Krümel ist von ihrem Zahn auf die Unterlippe gerutscht. Jörn greift nach einem durchweichten Brötchen. Evas ausgespuckter Kaffee, denkt er. Ohne sie anzusehen, murmelt er mit gespielter Freundlichkeit: »Da ist kein Platz mehr im Garten!«
Wieder klatscht Eva in die Hände. Und noch einmal.
»Eva, hör mir bitte zu! Da ist kein Platz mehr in unserem Garten!«
Hat er gerade tatsächlich »Unser« gesagt? Es ist ihr Garten! Vor allem und unter allen Umständen ihr Garten! Ganz allein! Nicht seiner. Nicht seiner. Nicht seiner! Er spürt wie ihm heiß wird. Mit dem Kaffee hat das nichts zu tun. Auch nicht mit den warmen Brötchen. Verdammt. Er ist schon wieder auf hundertachtzig. Sicherungsbrand von gleich auf jetzt. Mit Rums und Rauch und allem drum und dran. Noch eine Prügelattacke verzeiht sie ihm nicht. Leise zählt er bis zehn und wartet, bis die Lava in seinem Brustkorb zurück in den Berg gekrochen ist.

Mit der Kaffeetasse in der Hand betrachtet Jörn die grüne Hölle vor dem Fenster. Fleischige Blätter nicken ihm zu, krause Stängel schlagen in einem ihm unbekannten Rhythmus gegen die Scheiben. Der wenige Himmel zwischen dem verworrenen Dickicht färbt sich dunkelgrau. Alles Restlicht verschwindet. Farben versickern. Die angekündigte Unwetterfront ist da.
Jetzt hat Eva es eilig. Sie springt auf, rennt in den Flur, schlüpft in Gummistiefel und Mantel und ist kurz darauf im Dschungel verschwunden. Jörn eilt ihr nach. Barfuß. Im Hemd.

Es gibt keinen Sichtkontakt hier draußen. Schon seit Jahren nicht mehr. Eva und Jörn verständigen sich durch Pfeiflaute. Er wuchtet sich den Topf mit dem Holunderstrauch auf den Arm und greift nach dem Spaten. Ein Pfeifen von links, dort wo der Kirschlorbeer und die Haselnussbüsche in den Himmel wuchern und die elefantengroßen Lebensbäume jeden Weg versperren. Ein erneuter Pfiff. Jetzt schriller. Jörn weiß, dass er zu langsam ist. Er wirft sich vor den Lebensbäumen auf den Boden und beginnt, unter ihnen hindurchzurobben. Den Topf mit dem Holunderstrauch kippt er um und zieht ihn mit der linken Hand hinter sich her. Mit der Rechten hält er den Spaten umklammert. Trockene Erde bestäubt seine Lippen und Augenlider, spitze Äste bohren sich in seinen Nacken. Er pfeift. Evas Antwort erfolgt prompt. Dieses Mal von weiter vorne. Jörn schätzt den Abstand zu ihr auf fünfzig bis siebzig Meter. Gleich müsste er bei ihr sein. Auf der Lichtung mit dem Springbrunnen aus Flusssteinen. Hier soll der Holunderstrauch sein neues Zuhause bekommen.
Ein leiser Donner rollt über ihn hinweg. Kurz darauf hört er erste Tropfen auf das hoch oben gelegene Blätterdach knallen. Ungläubig starrt er auf die Uhr. Kurz nach elf. Das kann nicht sein! Seit über zwei Stunden robbt er hier schon durch den Dreck?

Er pfeift. Keine Antwort. Er pfeift erneut. Eva bleibt stumm. Nur die Stärke des Donners nimmt zu. Es regnet jetzt kräftig. Alle paar Minuten zucken grelle Blitze durchs Geäst. Jörn krabbelt weiter. Und weiter. Und weiter. Der Holunderstrauch verdorrt. Der Spaten rostet und verfault. Jörns Bart verheddert sich immer öfter in der Pflanzung. Seine Kleidung hängt in Fetzen an ihm herunter. Er durstet. Er hungert. Und irgendwann trifft ihn die Erkenntnis: die rettende Lichtung, den lebensspendenden Brunnen, er wird sie niemals erreichen. Zu mächtig, zu dicht, zu tief und undurchdringlich ist Eva Garten.

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