1 Brugg

Der rot-weisse VW California T6 Ocean Red steht fertig beladen auf dem kleinen Parkplatz vor dem Haus. Trinkwasser, Kühlwasser und Diesel sind aufgefüllt, der Reifendruck stimmt. Ein letztes Mal geht Marco durch sein Haus, kontrolliert Fenster, Licht und die Sauberkeit des Eigenheims in Brugg. Dann dreht er zufrieden den Schlüssel, prüft, ob die Haustüre auch wirklich geschlossen ist und steigt die Treppenstufen hinab. Marco Stalder hat Ferien. Darauf freut er sich schon lange. Vor wenigen Jahren ging seine langjährige Beziehung zu Bruch. Er hat es nicht kommen sehen, alles war bisher gut gelaufen. Er und seine grosse Liebe, Salome Muggli, sie führten die perfekte Beziehung. Mit der Juristin konnte er einfach alles bereden. Sie reisten viel und hatten grosse Pläne für die Zukunft. Dann auf einmal war sie weg. Einfach so. Sie hatte sich in einen anderen verliebt und ist ausgezogen. Er blieb zurück und kann seither nicht mehr schreiben. Dabei hat er bisher immer sehr erfolgreich geschrieben.
Marco ist gross, schlank und kräftig gebaut. Sein dunkelbraunes Haar ist kurz geschnitten, seine braunen Augen strahlen Unternehmungsgeist aus. Er ist Schriftsteller und sein aktueller Roman müsste schon lange fertig sein. Kathrin Zürcher, seine Verlegerin, liegt ihm damit schon lange in den Ohren. Er aber hat sie davon überzeugen können, er könne Ferien in Italien seine aktuelle Schreibblockade lösen. Der Laptop liegt fein säuberlich verstaut im Wandschrank der Campingeinrichtung seines Wagens. Das Notizbuch, das er von Hand führt, hat er in der Schublade unter dem Rücksitz verstaut. So eine Manie von ihm, die Handnotizen und den Laptop nie am selben Ort aufzubewahren. Marco freut sich auf die bevorstehende Reise, deren Ziel er noch nicht kennt. Die Reise ist das Ziel, nicht ein ferner Ort.
Wieder denkt er an seine Partnerin Salome, also nun seine Ex. Damit hat er sich noch nicht abgefunden. Salome hätte die Reise geliebt. Sie beide waren auch schon in einem VW-Bus unterwegs und sie hatten damals eine sehr verliebte Zeit, trotz schlechten Wetters. Sie beide wollten sich damals so einen Hippie-Camper zulegen, hatten aber das Geld dazu nicht. Nach der Trennung hat sich Marco aus purem Trotz diesen eigenen Bus gekauft, grösstenteils mit einem Vorschuss seines Verlages. Er konnte Frau Zürcher ebenfalls davon überzeugen, dass dieser Bus ihm zu mehr Freiheit und mehr Inspiration verhelfen wird. Eine Möglichkeit, die Ex endgültig zu vergessen. Die geplante Reise nach Italien soll auch eine Reise weg von Salome werden, aber das hat er niemandem erzählt.
Marco steigt in den Bus, macht es sich auf dem hellgrauen Fahrersitz bequem und dreht den Schlüssel. Der kleine Diesel springt sofort an, sanft gleitet das schwere Gefährt auf die Strasse. Der Wagen riecht noch nach neuem Leder und Kunststoff. Ganz anders als der uralte gemietete hellblaue Bulli aus den Siebzigern, mit dem er damals mit Salome nach Kroatien gefahren ist.
Marco will nach Italien. Mit diesem wunderbaren Land im Süden verbindet ihn viel. Seit seiner Fernfahrerzeit kann er genügend gut Italienisch, dass er sich mit den Menschen unterhalten kann. Er nennt sich selbst „Heimwehitaliener". Die Kultur, das Essen, die Lebenseinstellung der Italiener, all das gefällt ihm. Und natürlich der Wein - seit Salome weg ist vor allem der Wein. Zwei Dinge würde er niemals nach Italien mitnehmen: Pasta und Wein. Seine Küche ist mit den Resten vollgestopft, die er aus dem Kühlschrank hat einpacken müssen, damit sie nicht verderben. Irgendwo auf einem Campingplatz wird er sich daraus ein leckeres Nachtessen kochen.
Er steuert seinen Camper Richtung Autobahn und wählt die Spur in Richtung Zürich. In Gedanken wählt er seine Route zum Gotthard. Von den vier möglichen Strecken wählt er die Autobahnvariante, über Oftringen, Luzern zum Gotthard. Im Radio wird die Musik unterbrochen, in den Verkehrsnachrichten erzählen sie von vielen Kilometern Stau vor dem Gotthard Strassentunnel.
Mist, denkt er und ändert seine Route. Die zweite Wahl einer möglichen Strecke, via Bern, Lötschberg und Aosta, ist wegen Schneefalls am Grossen Sankt Bernhard gesperrt, womit das Wallis ebenfalls wegfällt. Die dritte Wahl, der San Bernardino via Chur, wird kurzzeitig wegen eines Unfalls geschlossen. Es scheint, als wolle sein kleines aber schmuckes Land ihn mit allen Mitteln am Verreisen nach Italien hindern, als habe sich ein übelgelaunter Reisegott mit seiner Verlegerin verbündet.
Dabei hat er sich so auf die Reise gefreut. Die Arbeit und seine privaten Turbulenzen haben ihren Beitrag dazu geleistet. Er ist reif für Ferien. Durch die vielen Änderungen nicht beunruhigt, steuert er seinen Camper entlang der Variante vier, mit grossem Umweg über Österreich, Innsbruck und den Brennerpass. Da ein erstes Streckenziel Rimini ist, spielt es keine grosse Rolle, wo er die Kilometer in östlicher Richtung macht, ob nördlich oder südlich der Alpen.
In Rimini will er eine sehr gute Freundin treffen. Eine Frau, die ihm schon so oft aus seelischen Tiefs geholfen hat. Sie und die Musik, denkt er, das sind die wahren Freunde im Leben. Java und er haben sich vor vielen Jahren an einem Open-Air kennengelernt. Damals hat er selbst noch Musik gemacht. Er war der Schlagzeuger einer eher mittelmässigen Band. Sie hatten einen Auftritt auf einer Nebenbühne. Java war die schwarze Sängerin einer weit erfolgreicheren Band aus Winterthur. Sie spielten gleich nach Marcos Band auf der Hauptbühne und er folgte begeistert ihrem Konzert. Durch die VIP-Karten konnte er sie backstage treffen. Sie haben sich auf Anhieb verstanden und seither schreiben sie sich immer wieder, erzählen einander ihre Hochs und Tiefs und lassen sich an ihrem eigenen Leben teilhaben. Java ist für Marco wie eine Schwester geworden. Er freut sich darauf, die lebensfrohe und ebenfalls gerne reisende junge Musikerin an der Adria zu treffen.

***

Ein neuer warmer Tag kündigt sich in Verona an. Zu warm für September, denkt sich Bianca Verdi. Die blonde Frau mit dem berühmten Nachnamen arbeitet nicht in der Musikbranche. Nicht mehr. Es kommt ihr wie eine Unendlichkeit vor, seit sie Neapel verlassen hat, zurück in ihre Heimat im Norden. Damals war sie Tänzerin im Süden. Sie wollte eine grosse Karriere starten, blieb aber in einem schummrigen Nachtclub in der Altstadt von Neapel hängen. Auf einmal hatte sie genug davon und wollte nur noch zurück in den Norden, zurück zu den Orten, wo sie als Jugendliche ihre Inspiration gefunden hatte.
Nun hat sie weder noch. Sie arbeitet als Bürohilfe mit Zio in seinem Autohandel und in der Waschanlage, etwas ausserhalb der Altstadt Veronas. Während sie sich anzieht und danach mit einem Eyeliner die Augen schminkt, piepst ihr Mobiltelefon. Es ist Zio, der Mann, der damals mit ihr aus Neapel hergezogen ist. Obwohl er einiges älter ist als sie, mag sie es, mit ihm zusammen zu sein.
„Hallo. Buongiorno Zio. Wie gehts?"
„Ciao, Bianca, schon wach?"
„Sonst hätte ich wohl kaum geantwortet, oder? Was willst du schon? Ich bin doch in ein paar Minuten in der Werkstatt, da könnten wir den Tag bei einem Kaffee planen."
„Hör zu: Der Duce aus Palermo, der Sizilianer, hat noch ein Fahrzeug mehr bestellt."
„Grossartig! Er bezahlt uns so gut. Was soll es denn noch sein? Haben wir es schon an Lager?"
„Nein, eben nicht. Und das ist das Problem. Wir müssen für ihn einen Camper anschaffen. Er will den für seinen Neffen oder so, irgendwen in der Familie halt. Es muss ein neuer VW California Ocean sein, einer mit Küche und allem drin. Soll so ein richtig teurer Wagen sein, und einen solchen haben wir nicht am Lager. Wir müssen jedoch mit der nächsten Ladung liefern, hat er gesagt."
„Schön. Die Deutschen und die Schweizer haben ja immer Ferien, da wird sich bestimmt etwas finden lassen. Soll ich Carlo abholen gehen?"
„Ich wollte dich genau darum bitten. Du bist ein Schatz."
Bianca schmunzelt. Immer, wenn Zio in der Klemme steckt, ruft er Carlo dazu. Der ehemalige Rausschmeisser ist der dritte im Bunde, der mit ihnen aus Neapel hergezogen ist. Bianca verstaut ihr Telefon in der grauen Handtasche. Sie verlässt ihre Wohnung und geht die wenigen Schritte bis zu ihrem Wagen zu Fuss. Sie hat keinen gesicherten Parkplatz, aber gestern Abend konnte sie mit etwas Glück ganz in der Nähe ihrer Wohnung parken. Eigentlich hätte sie gerne ein Cabrio, so ein schickes, offenes Coupé aus den Fünfzigern, aber das kann sie sich bisher nicht leisten. Bianca steuert den betagten Fiat zielsicher durch die engen Strassen Veronas bis zum Aussenquartier Borgo Nuovo. Carlo wohnt in der Via Eraclea, in einer Wohnung eines Mehrfamilienhauses. Nicht schick, aber zweckmässig und nicht schlecht gelegen. Bianca stellt ihren Fiat vor einen Baum. Sie steigt aus und klingelt bei Carlo.
„Hej, du hier? Taxidienst?"
„Ciao Carlo. Ich soll dich abholen, Zio hat einen Job für uns. Wir müssen wohl wieder mal einen Tag auf die Autobahn."
Carlo grinst, schliesst die Haustüre und folgt seiner Freundin zum Wagen. „So viele Jahre, seit wir mit den schönsten Autos handeln - und du fährst immer noch diese Karre?"
„Ich warte auf mein Cabrio, das weisst du doch." Bianca steuert den Wagen wieder südwärts Richtung Innenstadt, Porta Nuova. Dort liegt die Waschstrasse, wo sie arbeitet. Die beiden steigen aus. Zio begrüsst sie, er ist sichtlich nervös.
„Hört zu, wir müssen schnell sein. Ihr wisst, wir müssen die Wagen schon bald nach Livorno fahren. Und nun hat der Duce noch so einen Spezialwunsch."
„Zio, guten Morgen. Ja, Bianca hat mir schon gesagt, dass es einen weiteren Autobahntag geben wird. Was sollen wir tun?"
„Ich fahre euch zur Raststätte im Süden. Da benehmt ihr euch wie normale Touristen und wartet vorerst mal ab. Ich denke, in der Schweiz haben die Ferien begonnen. Gut möglich, dass uns schon bald so ein gesuchtes Fahrzeug begegnet."
„Irgendwelche Wünsche bezüglich der Farbe?"
„Nein, der Duce hat nichts gesagt. Es muss ein neuer VW Camper sein, einer mit Küche und Schlafplätzen, das ist alles."
Bianca holt sich einen Kaffee aus dem Büro. „Das wird schon klappen, Zio. Wir lassen dich nicht hängen. Wissen die Bullen schon davon?"
„Montini hat mir zugesichert, dass sie euch in Ruhe arbeiten lassen. Aber viel mehr kann ich nicht versprechen. Wenn zufällig die von der Stradale vorbeifahren, müsst ihr euch verstecken."
„Schon gut, wie immer also. Na, dann fahr uns mal hin, auf diesen Rastplatz. Carlo, mein Guter, kommst du? Wir haben schliesslich Urlaub." Bianca stolziert wie eine gelangweilte Millionärin im Urlaub zu Zios Wagen. Die beiden Männer lachen. Kurz darauf braust der dunkle Wagen in Richtung Autobahn davon.

***

Zwischen Zürich und Winterthur gerät der Verkehr bereits wieder ins Stocken. Die enge und schon beinah eine Ewigkeit andauernde Baustelle lässt die Autos nur sehr langsam fahren. Als Folge davon stauen sich die Fahrzeuge vor der Baustelle. Marco wählt die etwas breitere Spur ganz rechts. Erstens, weil sein Camper mit den Spiegeln breiter als zwei Meter ist und er deshalb gar nicht auf der linken Spur fahren darf und zweitens, weil er keine Eile hat und nicht drängen muss. Er fährt sehr gerne mit dem neuen Camper. Salome wäre bestimmt neidisch. Der Wagen lässt sich butterleicht steuern, hat alle erdenklichen Sensoren, die man heute so braucht. Die Sitze lassen sich ergonomisch genau einstellen, inklusive bequemer Armlehnen auf beiden Seiten.
Kein Vergleich zum alten T2, den sie damals gemietet hatten. Die Ferien mit Salome, die vielen Reisen, sie sind immer noch in Marcos Kopf, jederzeit. Nach Winterthur läuft es wieder besser. Auf der Raststätte Thurau geht Marco kurz auf die Toilette und kauft sich zwei Flaschen Wasser. Danach steigt die Autobahn bei Büren stark an.
Früher, mit dem Lastwagen, konnte Marco da jeweils nur noch knapp sechzig Kilometer pro Stunde fahren. Mit dem modernen Camper geht es flotter voran. Bei Sankt Gallen beginnt es zu regnen. Marco hofft auf deutlich besseres Wetter in Italien. Er mag es nicht, wenn es regnet, das schlägt ihm irgendwie auf die Stimmung.
An der Landesgrenze bei Sankt Margrethen stockt der Verkehr wieder. Zu viele Menschen wollen anscheinend ausreisen. Wahrscheinlich handelt es sich dabei vor allem um Leute, die billiger einkaufen möchten. Marco mag diese Einstellung nicht. Er kauft wenn möglich immer im Inland und meidet die Billigketten. Nach der Grenze muss er bei einer Tankstelle anhalten, um sich ein Zehntagespickerl für die Autobahn zu kaufen. Der kleine Kleber ist himmelblau. Die haben es begriffen, die Österreicher. Sie verlangen Autobahngebühren und für Tunnels oder Brücken muss man zusätzlich bezahlen. Die reiche Schweiz kann es sich leisten, die luxuriösen Autobahnen fast gratis zur Verfügung zu stellen.
Die Autobahn nach der Grenze, die A14, verläuft bis Feldkirch parallel zur Landesgrenze. Danach biegt sie in östlicher Richtung ab und zieht Richtung Innsbruck davon. Zwischen Bludenz und Landeck ist die Strasse immer wieder nur zweispurig. Auf dieser Strecke gilt auch stockender Verkehr, aber wegen zu hohem Verkehrsaufkommen, bis hoch zum Arlbergtunnel. Doch ihn stört das nicht. Marco fährt entspannt, steuert sein Gefährt sicher durch die Wagenkolonnen. Aus den Lautsprechern ertönt motivierende Musik, die seine Ruhe und positive Einstellung unterstützt. Schon immer hat Fahren ihn beruhigt und nicht aufgeregt. Auf der Strasse fühlt er sich wohl, sie ist sein zweites Zuhause. Vor seiner Zeit als Schriftsteller hat er als Fernfahrer sein Studium finanziert und ist mit dem Sattelschlepper durch ganz Europa gekurvt. Nach dem Arlbergtunnel schneit es dicke Flocken, mitten im September. Bis Innsbruck wird es nicht besser.
„Na bravo", entfährt es ihm, „wenn es hier schon so schneit, wie sieht dann der Brenner aus! Und ich bin mit Sommerreifen unterwegs. Na gut, wir werden sehen." Seine ausgesprochenen Befürchtungen sind unbegründet. Der Brenner ist zwar romantisch frisch überzuckert und weiss von Schnee, die Strassen jedoch sind frei. Die Fahrt über die Europabrücke ist einmal mehr ein Spektakel, das seinesgleichen sucht. Der komfortable kleine Reisebus gleitet ruhig durch die vielen Tunnels und Kurven, weicht elegant langsamen Sattelschleppern aus und erreicht schliesslich die Passhöhe mit seinen zwei Rastplätzen, welche früher die Landesgrenze markierten.
Damals war hier der gefürchtete Zollhof. Manchmal musste man tagelang hier stehen, bis man die Wareneinfuhrpapiere für Italien schliesslich hatte. Die EU hat durchaus auch Vorteile, denkt Marco. Er denkt an die vielen Stunden des Wartens an der Grenze und blickt kurz auf die heute übergrossen Parkplätze zu beiden Seiten der Autobahn. Danach führt die enge Autobahn in vielen Kurven abwärts. Die Leitplanken sind nicht mehr wie noch in Österreich schön blank geputzt, nein sie sind rostig und verbreiten nicht gerade das Gefühl von Sicherheit. Seit vielen Jahren will Italien die Brennerautobahn erneuern, aber irgendwo scheint es zu klemmen.
Die Strasse folgt eng dem kleinen Fluss in der Schlucht, vorbei an Bozen sowie dem Gardasee entlang und erreicht schliesslich bei Verona die Poebene. Marcos Gedanken kreisen kurz um die „Liebesbriefe an Julia", einen seiner Lieblingsfilme, um seine „Julia" oder die tiefblauen Augen einer atemberaubend blonden Frau aus seiner Fantasie. Seine „Blue Eyes", wie er die Fantasiefrau nennt, spielt in vielen seiner Bücher Patin für die Hauptrolle. Die meisten Bücher, die Marco bisher geschrieben hat, sind Liebesromane. Er schreibt bildlich intensiv, gefühlvoll, aus dem echten Leben. Schrieb, müsste er ehrlicherweise sagen, denn seit seiner Trennung hat er keine einzige Seite mehr geschrieben. Viele Erlebnisse und Eindrücke verbindet er mit dem magischen Verona.
Er spürt die Einsamkeit, und je mehr er sie spürt, desto wichtiger wird die Reise für ihn. Langsam wird ihm klar, es wird nicht bloss eine Reise nach Italien, es wird auch eine Reise in sein innerstes Ich. Er ist ein einsamer Wolf, immer auf Achse, nie zur Ruhe kommend. Eigentlich sollte er Bücher schreiben, anstatt wegzufahren, denkt er.
An einer Area di Servizio, Povegliano Ovest, nach der Abzweigung nach Verona, macht er Pause. Ein Kaffee würde jetzt gut tun. Marco steigt aus, versichert sich, das Fahrzeug abgeschlossen zu haben, setzt die Mascherina auf, welche es seit Corona jetzt überall braucht und geht in Richtung Restaurant. Es ist ein kleiner, eher schmuckloser Bau, so wie alle diese Raststätten der gleichen grossen Restaurantkette in Italien. „Scheissmaske", denkt er sich dabei.
„Un caffè per favore".
Die ebenfalls maskierte Bedienung ist geheimnisvoll hübsch, ihre Augen lächeln und eine erotisch tiefe Stimme sagt: „Un Euro, Signore. Grazie, e buona giornata."
„Altrettanto, grazie", ist das einzige, was er hervorbringt, dabei hätte er ihr liebend gern noch mehr gesagt. Im Rücken Marcos verlassen eine junge Frau und ihr muskulöser Begleiter die Raststätte. Nach dem erfrischenden Kaffee geht er noch schnell ins Bagno und tritt danach wieder auf den Parkplatz. Er streckt sich und beobachtet die vielen Menschen auf dem Platz. Das tut er gerne, beobachten. Nur so kann man sich Menschen für die Geschichten vorstellen, indem man sie beobachtet und sich überlegt, wohin sie wohl unterwegs sind. Mit diesen Gedanken beschäftigt bewegt er sich von der Raucherecke weg, kurz hat er daran gedacht, selbst eine zu rauchen, hat sich dann aber anders entschieden. Die wenigen Schritte zu seinem Parkplatz tun ihm gut. Er freut sich schon wieder auf den Ledergeruch seines Wagens und richtet seinen Blick zu den Parkfeldern.
Voller Schreck erkennt er die leere Parkfläche zwischen dem grossen Lancia und dem Porsche Cayenne, da wo sich eigentlich sein VW California befinden sollte.
„Was ist denn das für eine Scheisse! Wo ist mein Bus?" Marco rennt fluchend nach hinten, er rennt zum LKW Parkplatz, vorbei an den zahlreichen Ölflecken auf dem Teer. Die Menschen beginnen, dem scheinbar irren Touristen hinterher zu schauen. Minuten vergehen, bis er begriffen hat, dass sein Wagen wohl gestohlen wurde. Irgendwie erinnert ihn die Szene an eine Folge der Achtzigerjahre-Serie „Auf Achse". Der Gedanke kommt und verschwindet auch sofort wieder.
Marco flucht in allen Sprachen, die er kennt und stürmt zurück ins Restaurant. Dort kann ihm niemand etwas sagen. Ein Deutscher vermerkt bloss, er habe den rot-weissen Bus wegfahren sehen. „Ich glaube, da hat ein Pärchen drin gesessen", fügt er noch an.
„Konnten Sie sehen, wie die aussahen?" Marco zweifelt jedoch daran und bekommt mit seiner Befürchtung recht. Eines wird schnell klar: Da waren Profis am Werk.
„Haben Sie hier Überwachungskameras?", will Marco von der leicht verstörten Bedienung wissen (und wie lautet deine Telefonnummer?).
„No, Signore, non abbiamo video. Mi dispiace". Dabei schaut sie ihn mit traurigen Augen an.
Schliesslich zückt Marco sein Mobiltelefon und ruft die Polizei. Damit er sich während der Wartezeit etwas beruhigen kann, bekommt er von den geheimnisvollen Augen einen Cappuccino geschenkt. Diesmal stellt er sich an einen der Stehtische im Innern. Links von ihm hat es einen Turm mit grossen Flaschen eines Schokoladenbrotaufstrichs. Als ob jemals irgendwer fünf Kilogramm Brotaufstrich kaufen würde. Gleich daneben hat es riesige Packungen mit Schokoküssen. Die Italiener scheinen solche Süssigkeiten zu lieben. Im Hintergrund kann man Schinken, Käse und natürlich Wein kaufen. Marco nimmt von diesen Verführungen nichts wahr. Er steht an seinem Tisch und trommelt nervös mit den Fingern auf die runde Holzplatte.
Nach unendlich scheinenden Minuten treffen die Carabinieri ein. Die zwei grimmigen Uniformierten reden kurz mit allen Zeugen, die noch da sind und bitten danach Marco, sie zu begleiten, damit sie im Büro ein Protokoll aufnehmen können. Mit mulmigem Gefühl steigt Marco in den dunkelblauen Alfa Romeo, dann braust der Wagen davon. Die immer noch aufgewühlte aber etwas traurige Bedienung räumt das Geschirr weg und bedauert den attraktiven Schweizer, dem sie bloss Kaffee hat geben können.

***

Das Büro der Carabinieri ist klein und stickig und liegt im zweiten Stock eines schmucklosen braunen Betonbaus mit grünen Jalousien. Ein Schreibtisch steht in der Mitte des spärlich und lieblos eingerichteten Raumes, ein Porträt des Polizeipräsidenten hängt an der dahinter liegenden Wand, daneben schlappt die Tricolore und gegenüber bringt ein kleines Fenster etwas Licht herein. Marco findet, dieses Fenster hätte man schon vor langer Zeit einmal öffnen müssen, aber er verschweigt seine Gedanken.
„Also, Signore, erstellen wir einmal das Protokoll", sagt der grössere der beiden Polizisten, welche Marco hierher begleitet haben.
„Mein Auto ist gestohlen worden. Ich..." beginnt Marco, aber er wird jäh unterbrochen.
„Bitte beginnen Sie mit Ihren Daten. Wer sind Sie, woher kommen Sie, was wollen Sie in Italien?"
„Nun, ich heisse Marco Stalder, ich komme aus der Schweiz, aus Brugg im Kanton Aargau, ich bin fünfunddreissig Jahre alt und Schriftsteller. Ich wollte in Italien recherchieren, für mein neues Buch, Erfahrungen sammeln und Ferien machen."
Der Carabiniere blickt finster drein: „Und da kommen Sie ausgerechnet mit einem neuen VW T6 nach Italien. Sind Sie noch zu retten? Verdient man in der Schweiz als Autore so viel? Das ist ein teurer Wagen, so ein Camper. Leider werden solche Autos immer wieder gestohlen."
Marco beginnt sich zu fragen, was denn hier los sei, macht jedoch keine Bemerkung in diese Richtung. Als Fernfahrer hat er in seinen jungen Jahren gelernt, wann er mit Polizisten diskutieren darf und wann er besser ruhig bleibt. Und das hier ist definitiv einer der Momente, in welchen Ruhe und Sachlichkeit angesagt sind.
„Können wir mal Ihre Papiere sehen?" schnauzt ihn der kleinere Polizist an.
„Naturalmente. Hier sind meine Ausweise", kontert Marco gelassen und überreicht ihm seine Identitätskarte. „Die Fahrzeugpapiere liegen noch im Wagen, leider."
„Das ist äusserst ungeschickt, das wissen Sie hoffentlich. Warum haben Sie den Wagen mit den Papieren auf einem öffentlichen Parkplatz stehen lassen?"
Marco glaubt, sich verhört zu haben. „Ich musste pinkeln gehen und wollte einen Kaffee trinken. Ich brauchte eine Pause nach der langen Fahrt. Glauben Sie allen Ernstes, ich habe meinen Camper absichtlich stehlen lassen?"
„Es gibt allerhand komische Menschen. Versicherungsbetrug ist ein alltägliches Delikt. Wir haben schon viel erlebt und müssen allen Hinweisen nachgehen." Der Carabiniere hebt zur Entschuldigung beide Hände in die Luft.
Wie wäre es, wenn ihr mal meinen T6 suchen würdet, denkt sich Marco, sagt aber gelassen: „Das verstehe ich ja, aber glauben Sie mir, ich wollte bloss einen Kaffee trinken, pinkeln und danach sofort weiterfahren."
„Wohin wollten Sie denn fahren? Haben Sie eine Adresse in Italien?" fragt der grössere Carabiniere, auf dessen Namensschild Corti steht.
„Nein, ein festes Ziel hatte ich nicht. Heute wollte ich bis an die Küste fahren. Ich wollte mich mit einer Freundin in Rimini treffen. Sie ist auch mit einem Camper unterwegs, auf der Durchreise nach Apulien."
„Das ist doch schon etwas", meint der kleinere Carabiniere, Montini. „Nach Apulien werden viele gestohlene Fahrzeuge transportiert."
„Senta," sagt Marco langsam etwas genervt, „Sie denken, ich habe mit einer Kollegin zusammen einen Diebstahl vorgetäuscht, um die Versicherung in der Schweiz zu betrügen?"
„Bleiben Sie ruhig, wir haben nichts dergleichen behauptet," sagt Corti und blickt seinen Partner mit scharfem Blick von der Seite an. Montini schnaubt beleidigt und sagt kleinlaut, er gehe Kaffee holen.
Eine Stunde und drei Runden Kaffee später ist das Protokoll schliesslich fertig. Der T6 wird offiziell zur Fahndung ausgeschrieben und Marco verlässt mit einer Kopie des Protokolls das Polizeigebäude. Draussen telefoniert er mit seiner Versicherung in der Schweiz.
Sein Agent, Ueli Hunziker, ist nicht erfreut. „Oje, ich befürchte, das Fahrzeug sehen wir nie wieder. Was hatten Sie denn alles im Wagen?"
Marco beginnt aufzuzählen: „Alles. Meinen Laptop (die Zürcher wird mich lynchen, wenn sie das erfährt...), meine Kleidung, den Hausschlüssel, Bücher, alles, was man in den Ferien so braucht halt. Am meisten aber ärgert mich mein Laptop. Da ist meine ganze Arbeit drauf. Und natürlich meine Notizen, in meinem kleinen Notizbuch."
„Haben Sie eine Sicherungskopie von der HD?" fragt Hunziker etwas unsicher. Erstaunt erfährt er, dass Marco regelmässig Sicherungskopien zuhause lagere, das sei nicht das Problem. Das neueste Kapitel des aktuellen Romans hingegen sei noch nicht doppelt gesichert.
Marco denkt darüber nach, was in diesem Kapitel alles so vorkommen sollte: Die geheimnisvolle Blonde mit den unwiderstehlich blauen Augen, zum Beispiel. Er hat sie schon in Venedig gesehen, Eis schleckend und jedem Mann die Sinne raubend. Er hat sie schon laut singend in seinem Wagen mitfahren sehen. Manchmal geht seine Fantasie mit ihm durch. Hunziker holt ihn zurück in die Realität.
„Wenn der Wagen nicht wieder auftaucht, dann können wir Ihnen den Marktwert ersetzen. Nicht aber den Wert Ihrer verlorenen Arbeit, das verstehen Sie sicher."
„Schon gut", räumt Marco ein, „das werde ich dann wohl mit meiner Verlegerin klären müssen. Danke, Herr Hunziker."
Marco schweigt einen Moment, ihm bricht der Schweiss aus in Gedanken an all die Bemerkungen, welche seine Verlegerin, Frau Kathrin Zürcher, tätigen wird. Sie ist eine harte Geschäftsfrau wie sie im Buche steht, eine erfolgsverwöhnte, emanzipierte Männerfresserin. Sie liegt ihm sowieso schon seit Wochen im Nacken, er solle seinen gefühlsgetränkten Roman endlich fertig schreiben. Die wird ihre Freude an seiner Beichte haben, ihn in der Luft zerreissen und danach ausschliesslich weiblichen Schwänen am See zum Frass vorwerfen.
Nun, es gibt wohl schlimmere Tode als von weiblichen Geschöpfen im weissen Federkleid verschlungen zu werden, denkt sich Marco und muss im Gedanken daran unwillkürlich verstohlen grinsen.
Hunziker holt ihn abermals aus den abschweifenden Gedanken zurück und fragt: „Haben Sie schon eine Bleibe? Ich schlage Ihnen vor, suchen Sie sich ein Hotel in Verona, schlafen Sie sich erst mal aus, dann organisieren wir Ihre Heimkehr. Das Hotel geht auf unsere Kosten, das ist in der Versicherung inbegriffen."
„Das ist nett von Ihnen, vielen Dank", vermerkt Marco, „ich würde aber lieber noch in Italien bleiben. Das Hotel in Verona werde ich jedoch annehmen." Marco beendet das Gespräch.
Anschliessend bestellt er sich ein Taxi und lässt sich zu einem Hotel fahren, das gar nicht so weit vom Polizeigebäude weg liegt. Ein fünfstöckiges Gebäude mit kleinen Balkonen, mitten in der Altstadt von Verona, nahe der Etsch. Marco kann sich den Namen der Strasse oder des Hotels nicht merken, er weiss nur, dass es zu einer grossen internationalen Hotelkette gehört. In seinem Kopf kreisen tausend Gedanken, diesmal aber nicht um Julia oder seine geheimnisvolle Blonde mit den blauen Augen, sondern um seinen Camper und die Möglichkeit, diesen wieder zu finden. Das Hotel ist gemütlich und liegt in der Nähe des Amphitheaters mitten in Verona. Marco checkt ein, bezieht sein Zimmer im zweiten Stock und lässt sich müde auf das viel zu weiche Bett fallen. Sofort sinkt er in einen tiefen traumlosen Schlaf.

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