Die Reise ihres Lebens
Der Fernseher lief noch, als Anne mitten in der Nacht aufwachte. Ihre Hand hatte sie in der Schüssel voll Popcorn vergaben, links von ihr stand ein Glas voll Cola, das sie sich vor mehreren Stunden hatte eingegossen. Das Rauschen des Fernsehers lief im Hintergrund, als sie sich dann schließlich aufraffte, ihre zerzotterten Haare versuchte, zu richten und schließlich an sich hinunter sah. War das das Leben, welches sie wollte? Hatte sie so, wenn es denn jemals passieren sollte, in die Geschichte einzugehen? »Hallo, mein Name ist Anne Parks und ich bin 23«, spottete sie schließlich über sich selbst.
In diesem Moment musste sie an ihre Oma denken, die sie damals oft besucht hatte, bevor eben jene starb und eine kleine Anne zurückließ. »Kämpf' um das, was du willst«, sagte sie. »Du bist mehr wert als du denkst«. Da musste Anne lächeln und gleichzeitig auch weinen — wie sehr dachte sie, dass es alles anders wäre, dass sie doch nicht so viel wert war, dass sie vielleicht doch lieber alleine sterben sollte, mit sieben Katzen, die sie dann aufessen würden, wenn sie eines Tages einfach umfallen würde. Anne war unglücklich.
Seit Anne denken konnte, war Anne alleine gewesen. Ihre Eltern verstarben früh, die Großmutter etwas später und das kleine Waisenhaus am Ende der Straße schaffte nicht die Geborgenheit, die Kinder in Annes Alter benötigen, um glücklich zu werden. Es warteten am Ende des Tages keine Freunde auf sie, kein Hund begegnete ihr, wenn sie das Haus betrat. An ihren Wänden hingen keine Bilder mit der Familie, der weiße Schrank blieb karg und trist. In Annes Leben hatte Farbe keinen Platz gehabt.
Als sie sodann wieder auf den rauschenden Fernseher sah, die Bilder desinteressiert verfolgte, erblickte sie die Werbung von »Tropic Islands«, die mit einem muskulösen Mann in Unterwäsche und einer halb-angezogenen Frau warb: »Wollten Sie nicht auch immer mal glücklich werden, mit dem richtigen Partner an Ihrer Seite?« Da machte Anne den Fernseher aus.
Es war schon fast Mittag gewesen, da dachte Anne immer noch über den Spruch aus dem Fernseher nach. Neben der Entscheidung, dass sexistische Dinge in ihrem Leben keinen Platz mehr haben sollten, wodurch der Fernseher bei nächster Gelegenheit auf den Schrottplatz wandern würde, fasste auch sie den Entschluss, endlich glücklich werden zu wollen. »So kann es nicht weitergehen«, war ein beliebter Satz in ihrem Leben, der aber erst in diesem Moment seine wahre Bedeutung erhielt. Anne packte ihre Koffer und den Fernseher auf den Schrottplatz.
»Und wo willst du bitte hin?«, sagte ihre Freundin, die sie zum Flughafen begleitet hatte. »Das weiß ich nicht«, antwortete Anne daraufhin kurz. »Und wann kommst du wieder?« Sie hob die Koffer aus dem Auto und verfolgte Anne bis zum Terminal. »Keine Ahnung, nichts, ich habe einfach nichts geplant. Wenn es gut läuft, komme ich wieder, wenn ich glücklich bin.« Erst träumte Anne davon, Tierärztin zu werden, dann Ballerina und schließlich wollte sie fröhlich sein.
Im Flugzeug wurde ihr ein Sitzplatz zugewiesen und neben ihr saß ein Mann, der in seine Lektüre vertieft war und gleichzeitig Musik hörte. Anne nahm einen Zettel, der vor ihr im Sitz klemmte und sie erst fragte: »Wovon träumen Sie?«, bevor er dann über die Vorzüge eines Nachtfluges mit Annes Airline berichtete.
»Wovon träumen Sie?«, fragte sich Anne wieder. »Wovon träume ich?« Zuerst dachte sie daran, dass sie vielleicht mehr Geld möchte, die Welt sehen will, mit ihrem Freund am Strand spazieren will, lieben will, auch geliebt werden will, einen echten Begleiter finden will, Wunder sehen will. Vielleicht wollte sie auch die Perfektionslosigkeit, von der sie nichts wusste. Vielleicht wollte sie ihre eigene Perfektionslosigkeit erkennen. Manchmal war sie sich sicher, manchmal nicht. Aber ganz sicher war, dass sie die Welt wollte. Ja, Anne wollte die Welt.
Sie stieg in Ulaanbaatar aus. Sie war noch nie in der Mongolei gewesen und wahrscheinlich auch nie wieder die Gelegenheit haben, dieses Land zu besuchen. Mit einem Rucksack bewaffnet, schritt sie durch die Straße. Die Hände an die Gurte haltend, öffnete sie ihre Augen und ihren Geist, beobachtete Menschen und fühlte ihre 20 Pfund in der Tasche. »Das ist alles, was ich habe«, sagte sie und ging sowohl betrübt als auch glücklich in das nächste Geschäft, wechselte das Geld und hielt, freudestrahlend, 64.720 Tügrög in ihrer Hand. »Wow«, sagte sie. »Ich glaube, ich bin reich!«. Sie übernachtete bei einer Familie mit einem Bauernhof, aß gemeinsam, lachte und streichelte, bevor sie in ihr Bett verschwand, die Tiere auf dem Hof. »Schön«, dachte sie, als sie begann, einzuschlafen.
Mit ihren restlichen 60.000 Tügrög, einem Rucksack und jeder Menge Hoffnung bewaffnet, trampte und wanderte sie die große Straße hinunter. Ihr nächstes Ziel sollte Peking sein, dass sie nach ein paar Tagen schließlich auch erreichen sollte. Ungewiss darüber, was als nächstes passieren sollte, erblickte sie an der Pekinger Stadtgrenze eine wilde Menge aufgeregter Asiaten, die wildstrampelnd und lachend auf sie zeigten, ein Schild in der Hand hielten und zustimmend nickten, als Anne sie fragwürdig ansah. Die Sonne schien in just dem Augenblick, als schließlich ihre beste Freundin hervortrat, eine Karte in der Hand hielt und sie sehnlichst umarmte: »Ich kann dich doch nicht alleine lassen«, sagte sie dann. »Du spinnst«, Anne lachte.
Sue, die Freundin, Anne und die wilden Asiaten liefen zum Wagen, fuhren zum Flughafen, liefen zum Terminal, wo die beiden Damen sich herzlich von ihren männlichen Begleitungen verabschiedeten und schließlich auf ihren Flieger warteten. »Warum die Asiaten?«, fragte Anne dann. »Weil sie dich schön fanden«, Sue schmunzelte.
Sie lagen am Strand von Pattani, Anne hatte einen weißen Anzug und eine ebenso reinen Sonnenhut auf, blickte durch ihre schwarze Sonnenbrille auf die schäumenden Welle an der thailändischen Küste. Und so setzte sie sich hin, fasste sich an ihren nicht makellosen Körper und bewundere alldie schönen Menschen, die am Strand Hand in Hand entlang gingen. Am weißen Strand mit dem türkisfarbenen Wasser waren sie nicht die einzigen, die in diesem Moment diesen Augenblick mit den zwei Freundinnen teilen wollten. Anne spitzte ihre roten Lippen, fasste sich ans Kinn und beobachtete sie genau: Mister und Misses »Tropic Island« liefen vor ihr, Hand in Hand wanderten sie über die weißen Körnchen, standen sich schließlich liebend gegenüber, bis Sue plötzlich aufsprang, zu ihnen lief und sich übergab. »Entschuldigung«, sagte sie dann und eierte ins Wasser, entspannte, während die zwei liebenden davon liefen, die Wellen ihr Erbrochenes wegspülten und Anne zu lachen begann. Doch die Frau mit dem weißen Hut verfolgte die zwei Liebenden noch eine ganz-lange Zeit, fragte sich ganz viel, bevor auch sie sich zu ihrer Freundin gesellte, einen Wein bestellte und versuchte, nicht an morgen zu denken. »Vielleicht« und »Manchmal« waren Wörter, die sie an den nächtlichen Abenden ganz besonders häufig benutzte, sie trotz ihres so gradlinigen Weges wählte und dann nicht genau wusste, wo sie hinsollte. Sue und Anne dachten dann den ganzen Abend lang nach, warfen sich aufs Bett, sich mit Kissen ab, warfen alles davon. Doch Anne hielt immer an etwas fest.
Als beide vor dem Atomium standen, sie die Katze schon sehr lange verfolgt hatte, schoss Anne ein Foto von Sue mit ihrem treuen Begleiter, ein Polaroid, dass sie sich in ihr Portmonee steckte. »Da bleibst du jetzt für immer«, dachte sie, hielt an dem Bildnis für eine Sekunde fest, bevor sie es ihrem Geldbeutel schenkte.
»Wollen wir reingehen?«, fragte sie Sue und Anne nickte.
»Daraus ist also die Welt gemacht«, stellte Anne fest, als sie durch die verschiedenen Etagen ging und ein paar Ausstellungen über Gott und die Welt aufmerksam verfolgte.
»Stell dir das doch mal vor: Da stehen wir in einem riesigen Modell über ein winziges Atom und fragen uns, ob wir noch nicht alles gesehen hätten.«
»Vielleicht schätzt man vieles viel zu wenig.«
»Vielleicht«, entgegnete Sue und für einen Moment sahen sich beide ganz verwundert an.
»Wie viel Tügrög hast du eigentlich noch?«
»Sicher um die 35.000.«
»Das ist eine Menge Geld.«
»Vielleicht?«, beide lachten.
In eben jenem Brüsseler Restaurant lächelte sie ein großer Mann an, der seine Haare zu einem Zopf gebunden hatte, ein gestreiftes Hemd trug und die Bestellung des Tisches neben ihr aufnahm. Sue stupste ihre Freundin an und Anne lächelte ihm zurück. In diesem Augenblick spielte ein Lied von Edith Piaf im Hintergrund und sie bereute es noch lange, nicht aufgestanden zu sein, bevor sie bezahlten. Dann lächelte sie der Mann wieder an, so, wie sie es später an diesem Tage noch feststellen sollte, wie er auch die ganzen anderen Damen im Restaurant bezirzte.
»Manchmal«, sagte Anne, »Manchmal habe auch ich Glück.«
»Glück«, wiederholte Sue dann nur die Worte ihrer Freundin.
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