Ruf der Natur
Henry seufzte tief und massierte seine Schläfen. Rathrankar. Überall war dieser Name verbreitet. Hässlich war er, triefend von Spott und List, ekelerregender als das Gift einer verdammten Spinne, kapitalistisch wie ein nicht genug kriegender Dieb, geiernd wie ein Kuckuck, der im Verborgenen seine Brut mit der von anderen Vögeln austauschte und...
Henry mahnte sich zur Ruhe. Er durfte nicht von blindem Hass geleitet werden. Er las sich Rathrankars Brief erneut durch. Das Friedensangebot war zu verlockend. Auch wenn Rathrankar ein verlogener, elender, dreckiger... Elf war, besaß er doch Unmengen an Kriegern, die sich für ihn in die Schlacht stürzen würden. Und nicht nur das: die Elfen hatten Jahrzehnte bis Jahrhunderte an ihren Kampfkünsten gearbeitet. Kein Mensch konnte gegen ein Spitzohr gewinnen.
Also nahm Henry eine Feder zur Hand, tunkte sie in die schwarze Tinte und setzte sie auf ein Stück Pergament. Eine Weile zögerte er, dann begann er in großen, geschwungenen Buchstaben seine Antwort zu schreiben. Vielen Menschen fiel das Schreiben und Lesen schwer, aber Henrys Mutter, eine warmherzige, gebildete Frau, hatte darauf bestanden, ihn jegliches Wissen zu lehren. Er hatte die Geschichte der Menschen erfahren, gelernt wie man liest und schreibt, konnte mathematische Rechnungen lösen und besaß die Gabe der Poesie. Allerdings setzte er sie allzu selten ein. Ihn verwirrten die vielen Worte und die durcheinanderbringenden Zeilen.
Als König Henry mit dem Schreiben fertig war und sein Siegel in das Wachs drückte, wuchs in ihm der Wunsch nach der Ferne, der kurzen Freiheit, dem Entkommen der Aufgaben. Auch wenn es nur wenige Stunden andauern würde, er brauchte eine Auszeit.
Kurzentschlossen griff er nach seinem Mantel und stieß die Tür nach draußen auf. Er ignorierte die Wachen, die ihm von ihrem Posten aus fragende Blicke zuwarfen. Mit langen Schritten eilte der König zu seinen Ställen, sattelte einen braunen Hengst und galoppierte aus der Stadt. Der Ruf der Ferne war unwiderstehlich geworden, sie drängte ihn dazu, das Pferd weiter anzutreiben. Die Hufe des armen Hengstes berührten kaum den Boden, so schnell trieb Henry ihn an. Laut hallte der donnernde Hufschlag wider, die Menschen schrien erschrocken auf und beeilten sich, aus den Gassen zu verschwinden.
Als Henry die Stadtmauer hinter sich gelassen hatte, ließ er das Pferd langsamer werden. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm all die Aufruhe, die herrschte, sobald der König entschwand. Aber ihn kümmerte es nicht. Er ließ die Zügel fallen und zog sich die Kapuze vom Kopf. Er klopfte dem Pferd den Hals und entspannte sich. Der Drang, aus Mussling zu fliehen, war verstummt. Stattdessen erfüllte ihn ein vollkommenes Glücksgefühl.
Hier draußen war er nur einer von vielen. Er besaß keinen hohen Rang, musste keinen Pflichten nachgehen. Hier konnte er frei sein, er selbst. Keine Krieger, die Befehle von ihm erwarteten. Keine Frauen, die gierig jedes Wort von ihm aufsaugten, ihm schöne Augen machten und auf den Rang als Ehefrau hofften. Diese geldgierigen Weiber konnte er nicht ausstehen. Er brauchte eine Frau, die ihn verstand, an seiner statt herrschte, wenn die Natur ihn rief. Eine Frau, die sich schützend vor ihn stellte und die garstigen Sprüche des Volkes vor seinem verletztlichen Ich abwehrte.
Das Pferd verfiel in leichten Trab und Henry trieb es erneut an. Bald schon hatte er eines der wenigen umliegenden Dörfer von Mussling erreicht. Henry blickte den Hang hinab. Nicht mehr als zwei Dutzend Holzhütten waren in einem schützenden Holzwall aufgebaut. Henry stieg ab und gab dem Braunen einen Apfel. Die warmen Augen des Hengstes schimmerten gierig, als er an der Frucht schnupperte und sie verschlang.
Während sich im Süden von Mussling eine weite Steinwüste erstreckte, deren Gebiete kaum jemand erforscht hatte, lag im Osten und Norden eine grüne Ebene. Bäume und Blumen strahlten in aller Pracht und Henry liebte es. Er liebte die Natur, die Pflanzen und Tiere.
Der König lächelte. Er rollte seinen Mantel aus und lehnte sich an einen Baumstamm, den Blick auf das Dorf gerichtet. Er würde die Nacht hier verbringen. Er brauchte seine Freiheit. Und sollte ihn doch der Tod holen, ihn kümmerte es nicht mehr.
~
„Der König ist weg!", kam es aus jeder Richtung. Es war später Abend und Henry war immer noch nicht zurück. Das Volk war in absoluter Aufruhe, die wildesten Theorien wurden geflüstert. Ohne Zweifel: das Volk liebte seinen König und doch hasste es die gelegentlichen Freizeiten, die er sich gönnte.
„Das waren bestimmt die Elfen. Ich habe gehört, unser König antwortete erst spät auf ihren Brief!", sagte eine dicke, alte Frau, die ein Kopftuch über ihren dunkelbraunen Haaren trug. Areens Blick wanderte zu einer Wache, die aufgeregt mit den Dorfbewohnern tuschelte. „Wir müssen ihn suchen!", schrie eine Frau schrill und rannte in einem riesigen, orangen Tüllmonster vom Königshof. Sie machte keine gute Figur darin. Die grelle Farbe des Kleides stach sich mit dem grauen Haar, dass zu einer unordentlichen, strähnigen Hochsteckfrisur gebunden war.
„Er versprach mir, mich zu ehelichen!", fuhr sie fort. Areen musterte sie missbilligend. Ihre Miene war erschrocken und besorgt, doch ihre Augen sagten etwas ganz anderes. In ihnen stand Verachtung, Hass. Zwei Krieger begleiteten sie, wahrscheinlich die Leibwache. Die beiden jungen Knaben taten Areen augenblicklich leid.
„Wer bist du und was stehst du hier im Weg?", giftete die Frau sie an. Die Elfe trat einen Schritt zur Seite, doch die Dame tat so, als würde sie nicht vorbeikommen. Obwohl die Frau in ihrer Sprache redete, verstand Areen den Großteil ihrer Worte. Während sie hier spioniet hatte, hatte sie die Grundlagen dieser Sprache gelernt. Sie klang rau, unvollkommen. Sie war das Gegenteil der Elfensprache. Diese war melodisch, klangvoll.
„Wenn du nun bitte den Weg freimachen würdest!", empörte sich die Dame erneut und Areen war es satt, einfach ihrem Willen zu folgen. „So, du bist also die baldige Königin, ja?", fragte die Elfe giftig. Sie ließ Magie in ihre Stimme fließen, um sie eindrucksvoller wirken zu lassen. Es klang nun, als würden dutzende Geigen wütend spielen.
Die Frau nickte. Ihre Augenbrauen waren zusammengezogen, die dicken Backen fest zusammengekniffen. Eine Warze saß unter ihrem linken Auge. Mit orangener Schminke hatte sich die Frau die Augenlider gefärbt. Areen fragte sich, wie man sein Gesicht so verunstalten konnte.
„Hat er dir denn schon einen Antrag gemacht?", fragte die Elfe mit einem süßen Lächeln. Die Frau reagierte nicht. „So", Areen zog das Wort lang und fuhr dann fort: „Da haben wir es doch. Warum sollte er dich nehmen? Du bist nur eine von wenigen aus seiner weiblichen Entourage."
Die Frau warf ihr einen so giftigen Blick zu, dass Areen tatsächlich einen Schritt zurück wich. Das Weib stieß ihr einen Ellenbogen in die Rippen und drängte sich an ihr vorbei. Areen rief ihr etwas Unschönes hinterher, bevor sie sich umdrehte. Ein paar Männer, darunter auch Wachen, grinsten die Elfe an und bissen sich auf die Lippen. Anscheinend war die Frau auch bei den Kriegern nicht unbedingt beliebt.
„Du warst die erste, die ihr mal so richtig die Meinung gesagt hat", sagte ein kleiner Mann mit einem komischen Unterton. Er grinste sie an. Areen erkannte anhand seiner Stickereien auf der Uniform, dass er einer der Kommandanten war. Der Kerl sah sie an, als erwarte er eine Antwort, aber Areen schob sich an ihm vorbei und rannte in ihre Unterkunft. Sie hatte etwas Dummes getan. Wenn Henry zurückkommen sollte, und er hörte, wie sie seine vielleicht zukünftige Frau gedemütigt hatte, würde er sie vielleicht nicht länger in Mussling akzeptieren. So etwas sprach sich sicherlich schnell herum. Und wenn klar war, dass sie es gewesen war, musste auch Irkandir Konsequenzen tragen.
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