Mitleid
Ohne eine weitere Erklärung wurde Mothruit wieder herausgeschickt. Ihm blieb nur noch zu hoffen, dass man ihn nicht als Lügner oder Betrüger ansehen würde, dass er falsche Nachrichten des Königs verbreitete. Aber das war ziemlich unwahrscheinlich.
Irkandir hörte Mothruit leise vor sich hin fluchen, während er sich auf das Pferd schwang. Auf ein kurzes, schmerzhaftes Drücken in die Seiten des Rappen, stieg er und galoppierte durch die weißen Straßen. Der Hufschlag hallte laut wider und Mothruit nahm keine Rücksicht auf die Kinder, Männer und Frauen, die sich nur im letzten Augenblick vor den donnernden Schritten des Rosses retten konnten.
Als Mothruit zurück an der Festung Rathrankars angekommen war, ging er ohne Umschweife zu den Kerkerwachen. „Was ist mit Flonella?", fragte er. Er gab sich keine Mühe, freundlich zu klingen. Die Kerkerwachen tauschten einen ängstlichen Blick und erwiderten: „Sie wurde vorerst freigesprochen. Es wurde festgestellt, dass sie ein Kind in sich trägt. Außerdem hat man Helburi an jenem Ort gefunden, an dem du mit Myvur, Flonella und Helburi gekämpft hast. Dort lag er von Blumen umgeben. Als hätte Flonella ihn bestatten wollen. Rathrankar schenkte ihr Glauben, doch sobald sie ihr Kind gebärt, wird sie gefangen genommen für etwa fünf Jahre. Sie könnte gegen den König rebellieren."
Mothruit stieß die Luft aus. „Wo ist sie jetzt?", fragte er dann. „Sie befindet sich in einer der Gästekammern oben im Palast. Ihre Schwangerschaft ist weit vorangeschritten. Sie befindet sich nun im fünften Monat. Die Geburt ihres Kindes steht kurz bevor", antwortete der Jüngste der Wachen. Mothruit neigte den Kopf, dann wandte er sich ab und lief hinauf zu jenen Kammern, die der Elf beschrieben hatte. Als siebenter Feldherr des Königs hatte Mothruit im Körper Irkandirs keinen Bezirk im Palast, den er nicht betreten durfte. Die einzige Ausnahme waren jegliche Gemächer des Königs.
Irkandir verspürte keinerlei Drang, jemals eine dieser Kammern zu besuchen, aber Mothruit war anders. Sobald sich die passende Gelegenheit aufgetan hatte, war er in den privaten Bereich Rathrankars vorgedrungen. Er hatte dutzende Liebeszauber in der Luft aufgefunden, Rathrankar hatte sich mit vielen Elfenfrauen getroffen. Neben den Kleidern des Elfenkönigs hatte Mothruit streng geheime Zauberbücher gefunden. Neben diesen lagen die eigentlich verbotenen Hilfsmittel für jene unerlaubte Zauber.
Unter den Hilfsmittel hatte Mothruit die schwarze Nadel gefunden. Während er das teuflische Ding betrachtete, musste er an all seine Geschwister denken. Die Feuerschwänze brauchten lange, bis sie schlüpften. Einer dieser Raubvögel verbrachte als Brut ein Jahrzehnt, woraufhin das Schlüpfen an sich weitere fünfzehn Jahre dauerte. Und bis einer dieser Art ausgewachsen und stark war, brauchte es noch weitere Jahre des Übens, Jagens und Tötens.
Die Götter Mittellands hatten einst schwarze Nadeln erschaffen, mit denen sie Verbrecher oder Schurken markieren konnten. Trug man so eine Markierung, konnte man stets geortet werden. Der Markierte konnte sich vor dieser Kennzeichnung nicht schützen, konnte dem Sichtfeld desjenigen, der ihn markiert hatte, nicht entfliehen. Einmal angsetzt, verteilte die Nadel eine Prägung durch den gesamten Blutkreislauf des Markierten.
Die Götter hatten bald schon diese Nadeln gegen sich selbst verwendet, woraufhin sie sie zerstörten. Alle wurden entzwei geborchen, bis auf eine. Und eben diese besaß Rathrankar. Egal wie stark man war, egal wie fähig man mit der Magie umgehen konnte, man konnte die Nadel nicht zerstören. Und so trug jeder Feuerschwanz und auch Irkandir neben ein paar anderen, diese Markierung. Sie konnten geortet und kontrolliert werden, sie konnten von Rathrankar mit Flüchen versehen werden, gegen die sie sich nicht schützen konnten.
Dieser Grund war nur einer von vielen, weswegen die Feuerschwänze Rathrankar stürzen sehen wollten.
~
Mothruit blickte den langen Korridor herab. Auch er war, wie jeder Teil des Palastes, aus Marmor gebaut. Der glänzende Flur war makellos sauber, durch mannshohe Fenster fiel das Licht der Sonne. Die Bäume waren an dieser Front des Gebäudes zurückgeweichen und machten einem prachtvollen Garten Platz. Große Rosenbüsche und Vergissmeinnicht zierten den großen Platz. Halb zerfallene Säulen aus dunklem Granit ragten wie abgebrochene Zähne aus dem mit Rasen übersäten Ort. Einige Buchsbaumhecken formten das Zeichen Rathrankars, den Elfen mit der Krone. Weißer Kies grenzte die Wege ab.
Mothuit vernahm ein Stöhnen und ging zu der Tür, aus der die Geräusche drangen. Es war eine große, robuste Steintür, die, dem Aussehen nach zu schließen, von den Zwergen verziert worden war. Drachenköpfe und Edelsteine waren in das feste Material gehauen. Mothruit atmete einmal tief ein, dann öffnete er die Tür.
Stickige Luft schlug ihm entgegen, die Fenster waren mit dicken Stoffbahnen verhangen. Kerzenschein erhellte den Raum in einem warmen Licht. Drei Elfenfrauen und eine kniegroße Koboldin mit grauer Haut und dutzenden von Falten in ihr, waren um Flonella versammelt, die von Schweiß überströmt auf einem Bett lag. Weiße Tücher waren um ihren entblößten Unterleib ausgebreitet. Die Elfe wimmerte, fiebriger Glanz lag in ihren Augen.
Bei dem Anblick der Koboldfrau dachte Mothruit an die anderen ihrer Art. Die Kobolde waren vor mehr als tausend Jahren zu den Elfen gezogen, die den Nordwesten mit den Ziegenmännern teilten. Weiter im Süden, in den weiten Steppen der Dornwüsten, lebten Kentauren. Nur selten waren sie anzutreffen, aber es hieß, dass sie herausragende Säufer waren. Auch gab es Riesen und noch hässlichere Gestalten. Obwohl noch kein Elf diese je zu Gesicht bekommen hatte, existierten sie mit Sicherheit. Oft verschwanden Menschen oder Elfen einfach spurlos. Nichts ließen die brutalen Jäger zurück. Nichts, bis auf die Knochen, die im Mondlicht so bleich schimmerten wie die Zähne ihrer Mörder.
„Tür zu!", knurrte die Koboldfrau heiser. Mothruit folgte der Anweisung wortlos, dann näherte er sich dem Bett. Flonella beachtete ihn nicht, sie wimmerte und Tränen hatten Bahnen auf ihrem Gesicht hinterlassen.
„Wenn du schon hier bist, dann hilf uns!", fauchte die Koboldin und deutete auf Flonella. Ihre Stirn war schweißnass, die Haut aschfahl. Mothruit schluckte. Er hatte vergessen, dass Elfengeburten schneller voranschritten als die der Menschen. Während Menschenfrauen bis zu neun Monate in Schwangerschaft verbrachten, brauchten Elfen nur vier bis fünf Monate.
„Sie hat starkes Fieber, weil sie während einer Schwangerschaft gefoltert wurde. Los, drück ihr das auf die Stirn!" Die Koboldin gab Mothruit einen nassen, kühlen Lappen, den er Flonella auf die Stirn drückte. Sie schrie laut auf, spannte all ihre Muskeln an, dann erschlaffte sie. Erschrocken wich Mothruit zurück. Seine Gedanken waren durcheinander. Was machte er hier?! Warum half er einer Elfe bei einer Geburt? Wurde er jetzt endgültig verrückt?
„Verdammt", keuchte eine Elfe. „Sie ist ohnmächtig geworden", stimmte eine andere ihr zu. Beide betrachteten die ehemalig stolze Kriegerin mitleidig. „Was steht ihr da so rum?", grollte die Koboldin. Beide ihrer kleinen Hände steckten in Flonellas Unterleib, „Wenn sie nicht gebären kann, wird das Kind sterben. Also helft mir, verdammt!"
Die beiden Elfendamen sahen Mothruit einmal kurz an, dann wandten sie sich der Koboldin zu. Der Feuerschwanz wandte sich ab, als auch sie sich an Flonellas Unterleib zu schaffen machten. „Die Schere", hörte er die Koboldin sagen und er entfernte sich ein paar Schritte. Als er das leise Zuschnappen der beiden metallenen Hälften hörte, verzog er angeekelt das Gesicht. Er war ein Raubtier, ja, und er hatte schon Beute gerissen. Aber das, was er gerade miterlebte, war alles andere als natürlich. Mothruit hatte alle Hände voll damit zu tun, sein Essen bei sich zu behalten.
Es war still, man hätte eine Nadel zu Boden fallen hören können. Das Schweigen zog sich immer länger, bis er sich schließlich umdrehte. Etwas stimmte hier nicht.
Eine Elfe trug ein blutiges Bündel in ihren Armen. Nur schwer konnte Mothruit dieses als ein Neugeborenes identifizieren. „Es lebt nicht", meinte eine rothaarige Hebamme mit erstickter Stimme, „Es ist tot zur Welt gekommen." Eine andere Elfe schluchzte leise auf. „Los", sagte die Koboldin. Ihre Stimme war noch rauer geworden, aber kein Mitleid konnte Mothruit daraus hören, „Schafft das Kind weg und die Mutter zurück in ihre Zelle. Kümmert euch um ihr Fieber und kontrolliert, dass sie sich nicht gleich umbringt. Ich werde mich ans Aufräumen machen."
Die Hebammen lösten sich auf und trugen Flonella aus dem Zimmer. Mothruit stand ein wenig planlos zwischen ihnen. Ein fremdes Gefühl hatte von ihm Besitz ergriffen, etwas, das er noch nie zuvor gespürt hatte. Es war, als triebe ihm ein mentaler Schmerz Tränen in die Augen. Trauer überwältigte Mothruit. Er musste sich zwingen, nicht zu weinen.
Er hatte Mitleid.
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