Die verlorene Stadt
Zufrieden merkte Mothruit, dass seine Geschwister den Vorschlag gut fanden. „Es wird nicht leicht, aber wenn ich durch Irkandir zum König gelange und den Weg für euch öffne, können wir Rathrankar töten! Wir müssen mit Verlusten rechnen, aber unsere Mühen sollen belohnt werden! Wind in den Flügeln und Verstärkung im Rücken!", schrie der Feuerschwanz durch Irkandirs Mund. Es erstaunte den Raubvogel immer wieder, wie sehr sich Irkandirs und Mothruits Stimmen voneinander unterschieden. Während er in seiner Gestalt nur über Gedanken sprechen konnte, und seine Stimme angenehm dröhnend, tief und bedrohlich klang, war die des Elfen klar, hell und warm. „Was sollte das? Wind in den Flügeln und Verstärkung im Rücken?", fragte Irkandir. ‚Unser Kriegsschwur aus alter Zeit', antwortete Mothruit knapp über Gedanken.
„Nun, meine Brüder und Schwestern, erkläre ich die kleine Sitzung für beendet. Geht euren Wegen nach, gehorcht dem Elfenkönig und seid bereit, gegen ihn in wenigen Monaten anzutreten!", sagte Mothruit und die Versammlung löste sich auf. Er war stolz auf sich: alle seiner Art waren seinem Ruf gefolgt und er wusste, sie würden ihm gehorchen. Er war der mächtigste unter ihnen. ‚Mothruit Schwarzfeder' wurde er oft genannt. Der Name Schwarzfeder kam aber nicht etwa davon, dass er die schwärzesten aller Federn hatte, sondern die Farbe Schwarz stand für den Unbeugsamen, den Unbezwingbaren. Und Mothruit trug diesen Namen mit Stolz. Er gab Irkandir wieder den Platz frei, Kontrolle über des Elfen Körper zu besitzen und augenblicklich wurden Mothruits Gedanken still, sodass Irkandir sie nicht hören konnte. Wenn zwei Geister zusammenschmolzen, konnten sie nur eine Gestalt annehmen. Entweder die des einen, oder die des anderen. Wenn sie eine Gestalt angenommen hatten, konnte aber nur einer die Kontrolle darüber führen.
In den letzten Wochen hatte Mothruit Irkandir sehr viel unterrichtet. Er hatte ihm das richtige Schwertkämpfen, die richtige Haltung und verschiedene Magiearten beigebracht. Irkandir vertraute ihm nun, aber der Feuerschwanz tat dies alles nur, um Irkandir später nach seinem Willen geformt zu haben. Jedes Mal, wenn Mothruit die Kontrolle über Irkandirs Körper übernahm, verwirrte er die Magie, die er damals auf dem Gipfel gewirkt hatte, mehr. Und irgendwann war es dann so weit, dass die Magie nicht mehr unterscheiden konnte, wer der eigentliche Herr des Körpers von Irkandir war. So konnte Mothruit dann unbehelligt die Kontrolle an sich reißen, wann und wo er wollte. Schließlich würde er der Magie vorgeben, dass er der eigentliche Besitzer des Körpers war und Irkandir hätte keine Chance mehr, ihn zu verdrängen. So könnten Mothruit Taten in Irkandirs Gestalt vollbringen. Aber vorher musste er den Körper ausdauernd und stark machen.
Er war gezwungen, die Muskeln zu trainieren, bis sie so hart waren, wie kein anderer Elf sie hatte. Er musste Kampftechniken durchführen, dass sich Irkandirs Körper daran gewöhnte und er musste Magie weben, um die Aura von Irkandir zu stärken.
Inzwischen waren sie wieder bei ihrem Lager angekommen. Irkandir ließ sich nieder und sagte: „Ich kann so nicht leben. Für Manalin und die anderen Elfen bin ich der tolle Held, der dich bezwungen hat, und eigentlich bin ich besessen, aber niemand darf es erfahren." Hätte Mothruit in diesem Augenblick Kontrolle über den Körper gehabt, hätte er gegrinst.
‚Ich bilde dich aus', sagte er. ‚Schon bald würden Gerüchte über den unbesiegbaren Elfen umgehen. Jeden Tag streichst du mit Manalin durch den Wald, Liebes. Jede Nacht lernst du neue Kampfarten mit Schwert, Bogen, Messer und ohne Waffe. Durch das Holz, das du für deine neue Hütte fällst, stärkst du deine Brust- und Armmuskeln. Vertrau mir, schon bald wird der König von dir gehört haben und du wirst ihm das Fürchten lehren.' Auf Irkandirs Gesicht entfaltete sich ein Lächeln, das sofort wieder schwand. „Aber was wird Manalin dazu sagen? Für wen wird sie mich halten?", fragte er dann. ‚Sie wird dich immer für sich besitzen', entgegnete Mothruit kurz, wusste aber, dass es nie so kommen würde.
~
In der Nacht, es war die siebte nach der Versammlung der Feuerschwänze, sagte Mothruit zu Irkandir, dass er nun ein Elf war, der alle bedenklichen Kampfarten erlernt hatte. Auch die Magie beherrschte Irkandir so gut wie nie zuvor in seinen unzähligen Leben. Schnell hatte Irkandir erkannt, dass seine Magie die Weiße war. Die Elfen unterschieden die Magiearten in unterschiedlichen Farben. Die grüne Magie war die der Ehrlichen, die Gelbe die der Mächtigen, die Blaue die der Schwachen, die Rote die der Weisen und die Weiße die der Krieger und Meister. Und Irkandir war stolz auf sich. Er beherrschte den nun einfachen Kampfzauber, der die Kugel erschuf, die den Feinden ein Loch in den Körper stieß. Außerdem konnte Irkandir sich in dunklen Gewölben Licht machen, indem er den Flammenzauber anwendete.
Wenn dieser geglückt war, entstand auf Irkandirs Fingerspitze eine kleine weiße Flamme. Den Stoßzauber, den Irkandir im Duell gegen Mothruit angewendet hatte, hatte er perfektioniert. Auch den Heilzauber, mit dem Manalin ihn gerettet hatte, hatte er gelernt. Irkandir spürte die Magie durch seinen ganzen Körper fließen. Er stellte sie sich als Feuer vor. Es war, als würde in ihm eine Glut brodeln, und sobald er einen Zauber wirkte, schossen die Flammen hoch, als würde er einen Scheit Holz auf sie legen. Die ruhigen Atemzüge Manalins holten ihn zurück ins Jetzt. Sie lag neben ihm und er hatte einen Arm um sie gelegt. Irkandir genoss das Leben hier. Das leise Rascheln der Bäume, das unruhige Schaben der Hirsche und die grabenden Geräusche der Waldmäuse. Das Leben der Nacht barg Geheimnisse. Geheimnisse, die nur die Eulen lüften konnten. Eulen, deren Augen tiefgründig und melancholisch waren.
Irkandir stupste Manalin an und als sie die Augen öffnete, sagte er leise: „Sollen wir etwas Verrücktes machen?" Manalin schaute ihn verwirrt an und entgegnete dann: „Was meint Eure Hoheit?" Irkandir lachte leise und antwortete: „Komm mit." Er öffnete die Tür ihrer Hütte und trat ins Freie. Lauwarme Luft schlug ihm entgegen. Er wartete ab, bis Manalin ihm gefolgt war und führte sie dann an jenen Fluss, den er als Feuerschwanz gesehen hatte. Im Vergleich zum Ihamin, dem gefährlichsten Fluss im Elfenreich, war dieser hier ohne jeden Namen. Auch war er relativ flach und das Wasser lag ruhig im Mondscheinlicht da. Am Ufer zog Irkandir sein Hemd aus und sprang in das kühle Wasser. Es schmeichelte seine Haut und auch als Manalin ihm folgte, seufzte sie wohlig auf. Irkandir ließ sich in die Mitte des schlanken Flusses treiben und blickte hinauf in die große, helle Mondsichel. Dann atmete er tief ein und tauchte unter.
Er schwamm hinab auf den Grund des Flusses und blickte zu Manalin auf, die ihm schon bald darauf gefolgt war. Als er sie durch große Pflanzen geführt hatte, sah er das Erstaunen in ihrem Gesicht. Er lächelte und ließ ein wenig Luft aus seinem Körper fließen. Die Luftblasen trieben schnell nach oben und vermehrten sich dort mit denen von Manalin. Ihr Erstaunen war gerechtfertigt. Denn nur wenige Schwimmzüge vor ihnen hatten Nixen gehaust. Nixen, deren Haut so blass und blau wie das Meer war, und unter Wasser riesige Wasserpaläste gebaut hatten. Irkandir öffnete eines der veralgten Tore. Unter den grünen Pflanzen leuchtete ein weißer Stein mit blauen Runen, Schnörkeln und fremden Schriftzeichen. Das Tor war etwa zwei Schritt groß, sodass Irkandir ohne Probleme hindurch schwimmen konnte.
Die geöffnete Pforte gab die Sicht auf eine dünne, leicht pulsierende, grünblaue Schicht frei. Irkandir spürte Manalins Abscheu und Neugier und schwamm als erster durch die glibberige Schicht. Dahinter atmete Irkandir laut auf. Hier war wieder Sauerstoff zum Atmen da. Manalin war ihm gefolgt und blieb staunend stehen. Eine riesige Glaskuppel fasste die unter Wasser liegende Stadt ein. Noch jetzt erhellten sämtliche Lichter die blau und weißgetünchten Häuser, die ein wenig verloren aussahen. Ein Fischschwarm verharrte neugierig an der Wand und blickte auf die beiden Elfen hinab. Dann schwamm der erste Fisch wieder weiter und die anderen folgten ihm. Irkandir lenkte seinen Blick erneut auf die Häuser. In verschnörkelten Runen standen die Namen der Bauten auf Holzschilden.
Manalin griff an die Türklinke einer Tür und trat in das Haus. Irkandir folgte ihr, während sich die Tür knarzend schloss. In dem kleinen Bau waren ein Tisch, ein Stuhl und ein Bett errichtet. An der Wand hing ein merkwürdiges Seil, das auf fremde Weise gedreht worden war. „Das soll eines der Werkzeuge der Nixen gewesen sein", flüsterte Irkandir. Er wagte es nicht, die Ruhe der Stadt zu stören. Manalin betrachtete das Werkzeug versonnen. „Nun weiß ich, was wir in den nächsten Tagen tun können", sagte sie dann mit einem Lächeln. „Pah, das soll schön sein?", fragte Mothruit. Irkandir seufzte innerlich auf. Immer musste der Feuerschwanz stören. „Also schön ist was ganz anderes. Aber ich denke, diese Stadt war schön, bevor ein Elf mit dem Namen Irkandir sie betreten hatte. Bei dem Geruch und diesem Aussehen ist wirklich jede Ruhestädte gestört", fuhr Mothruit fort. Irkandir ignorierte den Kommentar und wandte sich an Manalin.
Dann fasste er ihre Hände und lenkte ihren Blick auf ihn. Ein wenig verwirrt schaute sie in seine Augen. „Ich weiß, uns trennen mehr als Jahrzehnte, und trotzdem lieben wir uns", fing Irkandir an. Manalins Blick wurde noch verwirrter. „Aber das ist kein Grund, dass wir nicht zusammensein dürfen. Manalin, was ich dir sagen will ist, dass ich das Duell gegen den Feuerschwanz niemals gewonnen hätte, wenn es nicht dich gegeben hätte, die die einzige war, die an mich geglaubt hat", fuhr der Elf fort. Die Worte kamen nur schwer aus seinem Mund, es tat ihm weh, das zu sagen. Und trotzdem blickte er Manalin an, in der Erwartung, dass sie irgendetwas tun würde. Sie verharrte wenige Sekunden, dann fiel sie ihm in die Arme und küsste ihn so intensiv, dass die Schönheit der Nixenstadt verblasste, und sie ihm mit ihrer Liebe und Zärtlichkeit die schönste Nacht seit Langem bescherte.
~
Irkandir hatte mal wieder dem Drang Mothruits nachgegeben und sich als Elf aus seiner und Manalins Hütte geschlichen. Draußen im Wald hatte er sich verwandelt und als Feuerschwanz Mothruit die Kontrolle übergeben. Als Irkandir nach einem langen, ausdauernden Flug wieder landete und sich zurück in seine Gestalt verwandeln wollte, löste sich ein Schatten aus den Bäumen. Doch Irkandir konnte die Verwandlung nicht mehr stoppen. Sie hatte bereits ihren Gang genommen. „Ich wusste es", sagte die halberstickte Stimme Manalins. „Ich habe es gemerkt. Schon in der Nixenstadt, als du dich anders verhalten hast. Du wurdest fremd, seit dem Duell mit dem Feuerschwanz. Du warst in Gedanken weit fern. Und nachts fand ich unser Lager oft leer dar, wenn ich einmal aufwachte", fügte sie hinzu und schluchzte.
„Hey", sagte Irkandir und wollte ihr zärtlich über die Haare streicheln, aber sie wich vor ihm zurück. „Fass mich nicht an", schrie sie mit schriller Stimme. Irkandir ließ die Hand sinken. Er konnte Manalin verstehen.
„Aber... ich kann dir alles erklären", antwortete er ihr dann. „Ich will nichts erklärt haben, schon gar nicht von dir! Ich will dich zurück, den Irkandir, in den ich mich verliebt habe und der mein Herz noch immer besitzt!", wimmerte sie und schluchzte erneut auf. „Verstehst du nicht, wie oft ich Albträume gehabt hatte, wie oft ich fürchtete, dass dein Leben nur eine Illusion war? Und du, du verbirgst mir dein größtes Geheimnis, mit dem du nicht alleine fertig kommen würdest!"
Am nächsten Tag fand Irkandir sich dann alleine wieder. Das Lager von Manalin war verlassen, ihre Kleidung hatte sie mit sich genommen. Der Elf wusste, dass seine Geliebte nicht mehr wiederkommen würde. Sie hatte ihn verlassen und das für immer.
Das Schlimmste aber war, dass Irkandir keine Chance hatte, sie jemals wiederzusehen. Manalin hatte zu sehr einflussreichen Elfen Kontakte und wenn sie einmal untergetaucht war, würde sie auch unentdeckt bleiben.
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