Der Segen

Ihre Geschwister ringsum zogen scharf die Luft ein. Jeder von ihnen wusste nur zu gut, dass Nicodur seine Kinder nie Taten vollbringen ließ, von denen er nicht begeistert war. „Warum er?", zischte der Gott und Navèsts Geschwister wendeten den Blick von Nicodur ab und lenkten ihn nun auf sie selbst. „Ich traf ihn. Vermutlich weißt du, dass er sich der Gestalt Irkandirs bemächtigt hat. In ihrer will er den König stürzen, doch es scheint unmöglich. Rathrankar braucht ihn, denn Mothruit ist als neuer Irkandir mächtig, aber zugleich fürchtet er ihn, weil der König weiß, dass sein Fall kurz bevor steht. Ich weiß, Nicodur, du bist ein Gott, der nichts an der Zukunft ändern will, ihren Lauf nicht stören möchte, aber wenn du so denkst, werden sich Feuerschwänze, Elfen und Menschen bekriegen und alle drei Völker werden untergehen. Wir müssen eingreifen!", fuhr Navèst fort. Sie blickte in Nicodurs Gesicht. Er besaß die Gestalt eines schwarzgerüsteten Kriegers, der drei Schritt in die Höhe ragte. Durch die schwarzen Panzerplättchen auf dem Helm blickten Navèst zwei stahlblaue Augen an, ohne Iris, ohne Weiß. Einfach nur blau. 

Nicodur lachte laut auf und die Rüstung ließ das Geräusch blechern widerhallen. „Warum sollte ich dir glauben? Dir, Navèst, die  es nicht verhindern konnte, dass Rathrankar an die Macht kam, obwohl sie die Zukunft vorhergesehen hatte? Dir, die den Lauf des Schicksals so oft ändert, dass sich keine schlüssige Zukunft ergibt?", fragte er ironisch. Navèst hielt seinem unheimlichen Blick stand. „Siehst du es denn nicht?", fragte sie leise und führte ihn zu dem Bach. Ihre Geschwister rückten bereitwillig auseinander. Navèst beugte sich hinab über den Fluss und deutete auf das Wasser. Ihr Spiegelbild verschwamm und stattdessen erschienen Bilder einer möglichen Zukunft. 

Auf der glatten Oberfläche entfaltete sich ein Bild von dem Elfenkönig. Rathrankar. Er hielt seine Krone mit zitternden Fingern umfasst. Durch die offen stehende Tür links von ihm erkannte man schemenhaft ein Schlachtfeld. Und hinter ihm näherte sich ein Elf. Ein Elf, dessen Haut aus schwarzen Federn bestand. Er hob einen Dolch und stach zu, doch im selben Moment fuhr eine Klinge durch dessen Körper und durch den von Rathrankar. Als der Elf nach vorne kippte erkannte man den Mörder: Henry, aber sein Körper war nicht der eines Lebenden, sondern durchscheinend. Ein Geist. Dann verschwamm das Bild und ihre Spiegelbild kehrte zurück an die Wasseroberfläche. 

„Das ist die Zukunft, die kommen wird, wenn wir nicht eingreifen!", sagte Navèst eindringlich. „Jeder Anführer wird sterben, sie werden sich gegenseitig umbringen! Ich flehe dich an, Nicodur, erteile uns die Erlaubnis, bitte!", sie fiel vor ihm auf die Knie, obwohl sie so schon viel kleiner war als er. Navèst spürte Nicodurs Blick auf sich ruhen. „Nein!", sagte er mit klarer Stimme. „Ich werde nicht eingreifen! Dies ist ein Krieg zwischen den Elfen und Menschen und nicht ein Krieg der Feuerschwänze!", sagte er und drehte sich um. Während er sich auf den Boden kniete und ein Lichttor erschuf, sagte Navèst: „Du siehst nicht, was dein Volk will, Nicodur! Du bist blind! Blind für die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft!" Navèsts Bruder blickte nicht zurück, während er durch das Tor trat. Er sah aber auch nicht nach vorne. Er hatte den Kopf gesenkt.

~

Areen schnalzte mit der Zunge und ihr Pferd erhöhte sein Tempo. Sie musste pünktlich sein! In Gedanken war sie bei Mothruit. Früher hatte sie gedacht, Fliegen sei wie Reiten, aber dem war nicht so. Fliegen war ganz anders und unbeschreiblich. 

Areen liebte es, auf Mothruits Rücken dem Himmel nah zu sein, der Sonne, dem Mond. Nie würde sie sein Geheimnis preisgeben! 

Sie fand ihn ansehnlich als Elf und als Feuerschwanz. Wenn er in der Gestalt Irkandirs unterwegs war, hatte er volle Lippen und tiefgründige Augen. Er hatte silbernes Haar, das stets glänzte, in all den Farben, in denen auch der Mond leuchtete. In der Gestalt des Feuerschwanzes wirkte er wie ein böses Ungeheuer aus einem Kindermärchen. Er hatte einen durchdringenden Blick und wirkte wie ein Kind der Nacht und der Schatten. Er war ein Ungeheuer, ein Biest, und doch hatte er ein gutes Herz.

Als Areen am Palast angekommen war, zügelte sie ihr Pferd, wartete jedoch nicht, bis es stehen blieb, sondern sprang schon vorher aus dem Sattel. Geschmeidig landete sie und streichte sich widerspenstige Strähnen hinter ihr Ohr, woraufhin sie schnellen Schrittes in das weiße, von Efeu überwucherte Gebäude eilte. 

Sie trat gerade in den Thronsaal, als sich jenes Tor öffnete, durch das Navèst entschwunden war. Mothruit blickte ihr übermütig entgegen, was ihr Herz schneller schlagen ließ. Rathrankar sah eher nervös aus. Er lief vor Mothruit auf und ab, die Hände verschränkt. 

Areen blieb außer Atem vor ihnen stehen und blickte zu der großen, schlanken Gestalt auf, die durch das Tor trat. Sie kam allein, die Götter würden ihnen nicht helfen. Dennoch sah Rathrankar sie an und fragte: „Und?" Navèst irgnorierte ihn, beugte sich zu Mothruit vor und flüsterte ihm etwas zu. Er nickte, dann trat sie an Areen hauchte: „Alles ist vorbereitet. Wir treffen uns heute Nacht. Meine Geschwister werden dort sein, oder jedenfalls jene, die mit mir für euch kämpfen werden. Wenn mein Bruder einwilligt, wird der Krieg anders verlaufen, als Rathrankar denkt."

„Unsere Meinung ist gespalten. Jeder will für sein Volk einstehen und jeder will Frieden. Denk nach, Rathrankar! Dies ist kein einfacher Krieg zwischen Menschen und Elfen, sondern auch zwischen Göttern! Wenn du unklug handelst, so wird Unglück über uns ziehen! Überlege dir, ist es dir wirklich wert, die Macht der Götter zu spalten, um Gebiet zu erobern und die Menschen tödlich zurückzuschlagen?", fragte Navèst an den Rathrankar gewandt und blickte ihn mit ihren braun schimmernden Augen an. Der Elfenkönig blickte genauso hartnäckig zurück und erwiderte: „Die Menschen sind eine Gefahr, Navèst! Wenn wir nicht kämpfen, wird die Welt der Elfen zerstört und die Macht der Menschen heraufziehen! Und jene Zeit wird für ewig währen."

~

In der Nacht trat Areen auf die große Wiese mitten im Wald, die Navèst ihr im Traum geschickt hatte. Sie erblickte die Gestalt Mothruits auf der Wiese. „Wie ist es? Wie ist es, Herr über einen fremden Körper zu sein?", fragte sie und der Feuerschwanz antwortete: „Es ist fremd. Eigenartig. Du besitzt eine Menge Macht, hörst jenen in Gedanken reden, dessen Körper du die verschaffen hast. Du spürst, wie sehr sich die Gestalten unterscheiden. Deiner und der des Besessenen." Areen sah ihm in die Augen. Sie wünschte sich, dass er weiterreden würde, aber diesen Gefallen tat er ihr nicht. Dabei hatte er gerade das Grollen, das tiefe Knurren des Feuerschwanzes in der Stimme gehabt. Jenen Unterton, den sie über alles andere liebte.

In dem Moment, in dem der Mond hinter den Wolken hervortrat, öffnete sich eines der Lichttore und Navèst trat aus dem Schwarz. Sie drehte sich einmal im Kreis, lächelte dann versonnen und blickte auf die weite Wiese heraus. 

Dutzende andere Tore öffneten sich und heraus traten die unterschiedlichsten Gestalten. Elfen, Tierwesen, halb verschmolzen mit einem elfischen oder menschlichen Körper. Es gab aber auch durchscheinende Wesen, die auseinander flossen, wenn man sie berührte, und sich dann wieder zusammentaten. Es gab bunt schillernde Götter, farblose Götter und mit Sicherheit auch welche, die keine materielle Gestalt besaßen. 

„Wir sind zu einer Entscheidung gekommen", sagte Navèst schließlich in Areens Kopf und die Elfe zögerte nicht zu glauben, dass jeder Gott, jedes Tier, jeder Baum Navèsts Stimme in Gedanken hören musste. 

Areen schien es, als wolle sie weiterreden, doch plötzlich öffnete sich ein weiteres Tor und heraus trat ein Gott in einer schwarzen Rüstung. Blaue Augen blitzten hinter dem Sehschlitz des dunklen Helms. Die anderen Götter senkten den Blick, nur Navèst nicht. „Warum bist du hier?", fauchte sie, nun nicht mehr über Gedanken. 

Der letzte Gott beachtete sie nicht, sondern schritt bedächtig auf Mothruit zu. Dort angekommen legte er eine seiner riesigen Hände auf das Haupt des elfischen Körpers und dieser überspann sich mit schwarzen Federn. Der Kopf wölbte sich vor und die Arme verdrehten sich zu Flügeln. Die Beine schrumpften, Krallen wuchsen aus den Stiefeln und ein blutroter Schwanz brauch aus dem Körper. 

„Mothruit", sagte der Gott liebevoll, mit einer blechernen Stimme. Der Feuerschwanz senkte das Haupt. „Warum bist du hier, Nicodur?", wiederholte Navèst ihre Frage. Diesmal erhielt sie Antwort. 

„Ich sah in die Zukunft. Ich gebe es ungern zu, aber ich muss dir recht geben, Schwester. In allen möglichen Zukünften sah ich unseren Untergang, bis auf diese eine", sagte er. Navèst blickte ihm fest in die tiefblauen Augen und fragte dann: „Also haben wir deinen Segen?" Nicodur senkte das Haupt und erwiderte: „Ja, den habt ihr." Mit einem letzten Blick zu Mothruit verschwand er wieder durch eines der Tore und zurück blieb nur noch die überraschte Stille. Als wäre nie etwas dergleichen passiert.

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