2. Kapitel

Seine Gestalt war imposant. Ein besseres Wort fand ich nicht, um seine beeindruckende und zugleich furchteinflößende Statur möglichst treffend zu beschreiben. Breite Schultern hatte er und hochgewachsen war er auch. Ich schätzte, er überragte mich um mehr als eine Haupteslänge. Sein langes, nachtschwarzes Haar reichte bis kurz über die Schultern und wirkte zerzaust, so als wäre er sich mehrmals mit der Hand vor lauter Nervosität hindurchgefahren. Er besaß ein kantiges Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen, die von Bartschatten verwegen umschmeichelt wurden, vollen Lippen, einer geraden Nase und Augen so strahlend blau wie das Eis eines Gletschers im Licht der Sonne. Ich verlor mich augenblicklich in ihnen und mein Verstand setzte für einen Moment aus.

Wie aus einer anderen Perspektive, in der ich nur körperlich anwesend zu sein schien, aber geistig weit entfernt verweilte, nahm ich wahr, wie dieser Bär von einem Mann in den Salon eintrat und scheinbar voller Zorn seine Stimme erhob. Die Falte zwischen seinen dunklen, vollen Augenbrauen grub sich tiefer in seine Stirn, als er mit ausufernden Schritten auf mich und meinen Bruder zutrat. Diesem verbat er mit einer wegwischenden Geste den Mund und damit ersticken jegliche Widerworte Brians im Keim.

Stattdessen wandelte sich seine Mimik, als er sorgenvoll auf mich herabblickte, vor mir auf die Knie ging und meine dumpf pochende Wange besah, indem er mein Kinn mit der Rechten umfasste und es hin- und herdrehte. Mit seinem Daumen wischte er eine Träne aus meinem Augenwinkel fort und redete beruhigend auf mich ein. Ich verstand nicht, was der Inhalt seiner Worte war, doch seine Stimme, tief und voll, berührte mich. Ließ mich ruhiger werden.

„Daniel, bereite unsere sofortige Abreise vor, aber begleite zuvor Lady Alice bitte noch zur Kutsche. Die Bedienstete vor der Tür habe ich in ihr Zimmer geschickt mit der Aufforderung, die wichtigsten Dinge von ihr zusammenzupacken. Sorge dafür, dass diese Dinge auf dem Dach der Kutsche verstaut werden!"

Daniel nickte diesem Bär von meinem Mann pflichtbewusst zu, während der Blick dieses Mannes erneut den meinen suchte.

„Alles wird gut, das verspreche ich Euch, Lady Alice."

Die Gewissheit, die diese Worte begleitete, umfing mich und hüllte mich ein. So sicher hatte ich mich selten in der Gegenwart eines Menschen gefühlt. Aus irgendeinem Grund brachte ich diesem Mann ein tiefes Vertrauen entgegen, solch eine unverbrüchliche Selbstsicherheit strahlte er aus. Wie in Trance ließ ich mich von Sir Daniel aus dem Salon zur Kutsche führen, wobei jener mich eher mit sich schleifte, als dass ich mich von selbst fortbewegte.

Den darauffolgenden Tumult im ganzen Haus nahm ich ebenfalls nur am Rande wahr. Elba und die anderen Bediensteten verabschiedeten sich mehr oder minder tränenreich von mir, versicherten mir mehrmals, dass bestimmt alles gut werden würde. Ich fragte mich, was sie damit wohl meinen mochten. Mein Leben hatte soeben eine schicksalshafte Wende erfahren, die ich im Grunde genommen nicht gutheißen konnte, jedoch fehlte mir momentan die Kraft, etwas dagegen zu unternehmen. Zu sehr hatte es mich schockiert, dass mein Bruder handgreiflich gegenüber mir geworden war. Was wäre nur geschehen, wenn Sir Daniel und der geheimnisvolle Fremde nicht anwesend gewesen wären? Ich wagte es gar nicht erst, mir das auszumalen.

Stattdessen betrachtete ich ein letztes Mal eingehend die groben Mauern von Appleby Castle und den massiven, breiten Turm, der sich an den einen Teil des Gebäudes anschloss, während der andere Teil sich erst in einer Ecke L-förmig mit diesem vereinte. Das Castle war alt, sehr alt, sodass die vielen Fenster in der aus großen und unbehauenen Steinen bestehenden Fassade eher deplatziert wirkten, allerdings dem Innenleben von Appleby Castle reichlich lichtdurchflutete Räume bescherten. An dem dreistöckigen Haus und dem Turm rankten sich dicht an dicht Efeuranken empor, die das wahre Alter des Castle für ungeschulte Augen zu verbergen wussten. Ich lächelte traurig bei dem Gedanken, diesen Ort, meine Heimat, auf unbestimmte Zeit verlassen zu müssen.

Doch ich sah ein, dass es besser war, jetzt zu gehen. Hätte man mich vor Wochen gefragt, ob ich jemals überhaupt nur in Erwägung ziehen würde, Appleby zu verlassen, hätte ich diese Frage für einen schlechten Scherz gehalten. Die heutigen Ereignisse jedoch, die in mir noch in Form von einer immer noch roten und pochenden Wange nachhallten, hatten mich wachgerüttelt. Mein Bruder hasste mich und meinen Vater und nichts in der Welt würde ihn von diesen Gedanken abbringen können, dafür saßen sein Schmerz und sein Hass einfach zu tief.

Das hatte mir seine Reaktion auf meine Worte gezeigt. Und wenn Laeticia bald hier in Appleby Castle Einzug erhalten würde, hätte ich früher oder später das sinkende Schiff mit wehenden Fahnen verlassen müssen. In ihrer Anwesenheit hätte ich keine Möglichkeit gefunden, etwas zu unternehmen, um meinen Bruder vor ihr zu schützen, denn dafür vergötterte er sie zu sehr. Sie würde nur seinen Hass auf mich und meinen Vater weiter befeuern, um ihre eigenen Interessen durchsetzen zu können.

Grimmig schaute ich erneut aus dem Fenster der Kutsche. Die Sonne stand schon fast am Zenit und in diesem kleinen Verschlag wurde es langsam unangenehm stickig. Noch immer hatten wir den Vorhof von Appleby Castle nicht verlassen. Die ersten, warmen Strahlen eines sich anbahnenden, heißen Sommers schwirrten durch Luft und ich wurde mir bewusst, dass ich schon mehr als zwei Stunden lang hier drinnen verharrte und meinen Gedanken allein ausgesetzt war, die mir zunehmend Kopfschmerzen bereiteten. Ich konnte kaum fassen, dass ich in dieser kurzen Zeit zu dem Schluss gekommen war, Appleby Castle lieber vorzeitig verlassen zu wollen und meinen Bruder seinem Schicksal zu überlassen, wenngleich die Aussicht auf mein neues Reiseziel auch keine angenehme war.

Nicht einmal mehr wütend konnte ich auf Brian sein. Da war nur noch die Enttäuschung darüber, dass er einen solch perfiden Plan hinter meinem Rücken ersonnen hatte, obwohl wir in einem vernünftig geführten Gespräch sicherlich auch eine besseren Lösung gefunden hätten. Daran wollte ich zumindest glauben. Ich seufzte. Das alles war aber nicht mehr zu ändern. Genauso wenig wie die Tatsache, dass mein Vater mich in Wahrheit verheiratet sehen wollte. Oder hatte er etwa geahnt, dass es nach seinem Tod irgendwann zu dieser prekären Situation kommen würde, und hatte einfach nur einen Ausweg für mich bereithalten wollen?

Bevor ich diesem Gedanken weiter nachgehen konnte, öffnete sich die schwere Doppeltür, die den Eingang und Ausgang zum Inneren von Appleby Castle markierte. Durch das Fenster der Kutsche sah ich dabei zu, wie zwei Männer aus dem Haus ins Sonnenlicht traten, gefolgt von zwei männlichen Dienern, die meine Truhe ins Freie hin zur Kutsche trugen. Bei den beiden Männern handelte es sich um den gutaussehenden Fremden und Sir Daniel, der trotz einer ähnlich beeindruckenden Statur ein wenig kleiner war und dem seine rötlichen Haare und Sommersprossen kein furchterregenderes, sondern vielmehr ein unbedarfteres Auftreten verliehen.

Meine Truhe, die anscheinend mit meinen wichtigsten Habseligkeiten gefüllt war, fand Platz auf dem Dach der Kutsche, während ein weiterer Diener von den Ställen hinter dem Haus einen schwarzen Hengst herbeiführte, der unruhig seinen Kopf hin und her warf und seine Ohren in alle Richtungen aufmerksam kreisen ließ. Der Diener hatte Mühe, dieses riesige Tier im Zaum zu halten, jedoch bevor dieses sich aus dessen unsicherem Griff befreien konnte, trat der Fremde auf ihn zu und nahm ihm das Pferd ab. Flüsternd und die Nüstern streichelnd beruhigte er das Pferd, bis es still stehen blieb. Zeitgleich mit dem Eintreffen des Hengstes kam Elba mit zwei prall gefüllten Taschen aus dem Haus eilig auf die Kutsche zu.

„Mylady, Mylady, Sie glauben nicht, was in den letzten Stunden so alles vor sich gegangen ist, während Sie hier draußen in all Ihrer Geduld und Seelenruhe auf diese beiden Schwachköpfe warten mussten. Keine Manieren haben die! Noch weniger Sinn für das Feingefühl einer Lady! Und der Anstand ist ihnen schon längst abhanden gekommen! Ich konnte die beiden Schwerenöter noch gerade davon abhalten, den letzten, kümmerlichen Rest Ihres guten Rufes nicht in Mitleidenschaft zu ziehen!"

Vor lauter Ärger musste sie erst einmal tief Luft holen, um fortfahren zu können. Verwundert starrte ich Elba an. Noch nie hatte ich sie derart ausfallend erlebt. Was hatten die beiden, groß gewachsenen, scheinbar unerschütterlichen Männer nur getan, um diese gute Seele in solche Rage zu versetzen? Ich musste zu meiner Erheiterung nicht lange auf eine Antwort auf diese Frage warten.

„Mylady, Sie können mir dankbar sein. Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, sodass letztlich doch all Ihr kostbarer Besitz Platz in der Truhe gefunden hat und diese auch mitgenommen wird. Die beiden Herren dort drüben waren nämlich der Meinung, es wäre ausreichend, eine lächerlich kleine Tasche für Sie zu packen. Undenkbar, finden Sie nicht auch, Mylady?"

Anklagend zeigte sie unverblümt mit dem Zeigefinger auf das Männerduo, das sie so aus der Fassung brachte. Ich unterdrückte ein Schmunzeln. Nicht einmal ich hatte es geschafft, sie in all den Jahren derart zur Weißglut zu bringen. Und diese beiden Herren, wie sie es ausdrückte, waren erst seit ein paar Stunden hier!

„Und bevor ich vergesse, es zu erwähnen ...! Diese beiden Ehrenmänner dort sahen sich in keinster Weise dazu verpflichtet, Ihren außerordentlichen Ruf als Lady zu wahren, Mylady! Ohne Anstandsdame sollten Sie mit ihnen reisen! Stelle sich das mal einer vor! Was für ein ungeheuerliches Verbrechen an der Ehre einer Frau, noch dazu einer ehrwürdigen Lady, wie Sie es sind!"

Ihr sonstige, rosige Gesichtsfarbe war inzwischen einem bedenklich dunklen Rot gewichen und ich entschied mich dazu, mich erst später dem Amüsement dieser Situation zu widmen.

„Elba, beruhige dich doch. Da du das Problem erkannt hast, gehe ich davon aus, dass du eine annehmbare Lösung dafür gefunden hast. Also besteht mit Sicherheit kein Grund zur Sorge mehr."

„Sie haben Recht, Mylady. Die Lösung liegt doch auf der Hand. Ich komme mit Ihnen! Ihren herrischen, aufbrausenden Bruder würde ich ohne Sie sowieso keinen weiteren Tag mehr ertragen können!"

Noch bevor ich etwas dagegen einwenden konnte, öffnete sie die Tür der Kutsche und trat auf die erste der drei Stufen, um sich in die Kutsche zu hieven, aber zuvor wandte sie sich noch an die beiden, wortgewaltig von ihr in Mitleidenschaft gezogenen Herren.

„He, Sie da mit den roten Haaren, kommen Sie her und helfen Sie mir mit dem Gepäck. Und denken Sie gar nicht daran, mit uns in der Kutsche zu reisen! Der Bruder Ihrer Ladyschaft wird Ihnen mit Vergnügen gern ein Pferd zur Verfügung stellen."

Sir Daniel quollen die Augen beinahe aus dem Kopf hervor und sein geöffneter Mund unterstrich nur um so mehr, wie perplex er wegen dieser Unhöflichkeit ihm gegenüber mit einem Mal war. Er fing sich allerdings erstaunlich schnell und erwiderte mit gereiztem Unterton und knirschenden Zähnen.

„Mein Name lautete Sir Daniel, du Hexe. Und so lasse ich nicht mit mir reden! Schon gar nicht von so einem vorlauten Fischweib wie dir!"

„Wer nennt hier wen Fischweib, du unglückseliger Narr von einem Mann! Solange ihr beiden meiner Lady nicht den gebührenden Respekt zollt, kannst du von mir auch keinen erwarten, du ...!"

Mit einem Räuspern sorgte der Fremde mit einem Mal für Ruhe zwischen den beiden. Seine tiefe, warme Stimme brachte die Luft um mich herum zum Knistern, während es in meinem Nacken gefährlich kribbelte.

„Ruhe jetzt! Daniel, von dir erwarte ich ein wenig mehr Zurückhaltung in deinem Ton und deinen Worten! Elba, ich habe dich vorhin schon einmal gewarnt, meine Geduld nicht bis ins Unermessliche auszureizen! Ich denke, wir haben einen Kompromiss gefunden, mit dem die meisten Anwesenden hier leben können. Also packt nun den Rest auf den Wagen, damit wir endlich von hier verschwinden können!"

Auf seinen Machtwort hin erfolgten die letzten Handgriffe innerhalb weniger Minuten, sodass wir tatsächlich endlich aufbrechen konnten. Elba konnte es sich jedoch nicht verkneifen, beim Einsteigen dem armen Sir Daniel ein „du stümperhafter Dummkopf" zuzuflüstern, während dieser dafür sorgte, dass die Taschen auf dem Dach der Kutsche ausreichend befestigt wurden. Als Reaktion darauf schaute er nur finster drein. Sie hingegen stieg mit einem triumphierenden Lächeln in die Kutsche. Und ich konnte ein schadenfrohes Grinsen kaum unterdrücken.

Die Fahrt in einer Kutsche über einen längeren Zeit war ermüdend, sowohl für meine Knochen als auch für meinen Verstand. Die holprige Fahrt über unebene Straßen brachte mein Sitzfleisch zum Streiken und auch die unerträgliche Luft in diesem kleinen Gefährt zerrte an meinem Nervenkostüm. Und dann war da noch Elba, die lauter unsinnige Bedenken im Hinblick auf diese kurze Reise von zwei Tagen äußerte. Es benötigte viel Überredungskunst, all ihre Sorgen zu zerstreuen, sodass ich mich schließlich dazu gezwungen sah, das Gesprächsthema in eine andere Richtung zu lenken.

Völlig unvermittelt unterbrach ich ihren Redefluss darüber, ob sie für mich nun genügend Kleider und vor allem eine ausreichende Anzahl von Unterkleidern eingepackt hatte. Dabei hatte ich doch eigentlich gänzlich andere Sorgen.

„... und, Mylady, dann glaube ich, dass ich noch das rote Kleid mit den schönen weißen Bändern eingepackt habe. Oh je, mir fällt gerade ein, dass ich vielleicht vergessen habe, das blaue Kleid mit den langen Ärmeln einzupacken. Lassen Sie mich kurz nachdenken .... Das blaue lag neben dem grünen, nein, neben dem roten. Also habe ich das blaue doch eingepackt ... Aber was ist mit dem grünen? Oh, Mylady, ich glaube, ich habe Ihnen zu wenig Unterkleider eingepackt ... Lassen Sie mich kurz überlegen ..."

„Elba, kannst du mir vielleicht sagen, wer der Mann ist, der da draußen neben Sir Daniel reitet?"

Diese Frage brachte sie vollkommen aus dem Konzept, was ihre Überlegungen bezüglich meiner Unterröcke betraf. So sah sie mich fragend aus ihren erdbraunen Augen an und legte den Kopf schief, als müsste sie erst prüfen, ob sie in ihrem Kopf eine Antwort auf diese Frage parat hatte.

„Nun, Mylady, hat dieser törichte Mann sich Ihnen denn nicht vorgestellt? Wie unhöflich von ihm! In was für einer Welt leben wir eigentlich, wenn ...?"

„Elba ...", fiel ich ihr in mahnendem Ton ins Wort. Die Aufforderung, endlich auf den Kern meiner Frage zurückzukommen, zeigte Wirkung bei ihr. Sie sah mich nun verschwörerisch mit den Augenbrauen wackelnd an, als ob sie mir ein streng gehütetes Geheimnis offenbaren würde.

„Hat es Ihnen denn keiner gesagt? Das ist Liam Edward, 3. Earl of Swinton. Ihr zukünftiger Ehegatte. Zwar ein wenig hochgewachsen für einen Mann, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, aber ich denke, dass er durchaus in der Lage ist, seine Pflichten im Ehebett zu erfüllen. Bei solcher geballter Manneskraft dürfte die Zeugung von Nachkommen kein Problem für Sie und ihn darstellen, Mylady. Und dann wäre das noch die Tatsache, dass ..."

Ich hörte ihr nur noch mit halben Ohr zu, als sie damit begann, mir die positiven Eigenschaften von meinem fruchtbaren, breiten Becken aufzuzählen, in welchem laut ihr mindestens Zwillinge Platz hätten. Als sie mir offenbart hatte, welcher Name sich hinter diesem verboten gut aussehenden Fremden verbarg, hatte ich noch bis zu diesem Zeitpunkt tatsächlich darauf gehofft, dass sein Name nicht fallen würde. Dabei hatte Sir Daniel doch gesagt, dass der Earl of Swinton verhindert wäre, nicht in der Lage, mich von Appleby Castle zu seinem Anwesen zu begleiten. Meine schlimmste Befürchtung hatte sich jetzt bestätigt und am liebsten wäre ich von diesem Moment an lieber im Boden versunken, als nochmals in seine anziehenden, eisblauen Augen schauen zu müssen.

Was mochte er nur über die Furie denken, die da in den Salon gestürmt war, ohne einen Hauch von Anstand zu besitzen und sich selbst und ihre Gefühle nicht im Zaum halten zu können? Es musste schockierend gewesen sein, die Tochter seines Freundes, eine Lady, derart außer Rand und Band zu sehen.

Ich spürte eine warme Hand an meinem Arm und einen besorgten Blick, der auf mir ruhte. Elbas Stimme drang nur dumpf zu mir durch, so als wäre ich vollkommen in Watte eingehüllt.

„Mylady, Sie sind ja ganz blass. Ist Ihnen nicht wohl? Warten Sie einen Augenblick ..."

Sie bellte dem Kutscher zu, sofort die Kutsche zum Stehen zu bringen. Der Aufruhr, den sie meinetwegen verursachte, sorgte dafür, dass wir ruckartig zum Stehen kamen und ich haltlos durch die Kutsche in die Arme Elbas flog. Scharf sog sie die Luft ein. Bevor sie jedoch beruhigende Worte an mich richten konnte, wurde die Tür der Kutsche aufgerissen und ein zorniges, eisblauen Augenpaar fixierte uns.

„Was zum Teufel hat dieser Aufstand hier zu bedeuten?"

Ich war zu sprachlos, um dieser Spannung in der Luft mit Worten begegnen zu können. Geradezu elektrisierend fegte seine Stimme über mich hinweg. An meiner statt antwortete Elba, die ganz entrüstet wegen seines rauen Auftretens war.

„Lord Liam, wie können Sie es wagen ...?"

„Elba, das ist nicht das, was ich von dir zu hören verlange." Man konnte seine Kiefer mahlen hören. Elba rümpfte beleidigt die Nase. In diesem Ton hatte noch nie jemand mit ihr gesprochen, wenngleich sie keine Lady war.

„Lady Alice fühlte sich nicht wohl und ich ..."

„Mir geht es gut, Elba." Ich hatte mich wieder soweit gefangen, sodass ich selbst für mich sprechen konnte. Lord Liam sah ich nicht in die Augen, auch wenn ich spürte, dass sein Blick starr auf mich gerichtet war.

„Aber, Mylady, Sie waren mit einem Mal so blass und ich dachte, etwas frische Luft ..."

„Elba, ich bitte darum, dass du dich bei Lord Liam entschuldigst. Wie du siehst, hast du die gesamte Truppe ziemlich in Alarmbereitschaft versetzt, als du so ruppig, um sofortigen Stillstand der Kutsche gebeten hast."

„Aber, Mylady ..."

„Elba ..." Ich hatte Mühe, meiner Stimme die nötige Härte zu verleihen, doch Elba folgte meinem Wunsch und sprach tatsächlich, wenn auch zähneknirschend, eine Entschuldigung gegenüber dem Earl of Swinton aus, der sich nun mit mir bekannt machte.

„Vielleicht stelle ich mich ein wenig zu spät vor, aber ich bin Liam Edward, 3. Earl of Swinton. Lady Alice, es freut mich, Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen."

„Die Freude liegt ganz auf meiner Seite, Lord Liam", entgegnete ich ihm kühl. Das intensive Blau seiner Augen brachte mich beinahe um meinen Verstand und so musste ich all meine gute Erziehung zusammennehmen, um meine Haltung in seiner Gegenwart zu wahren.

Als ich mich daraufhin von Elba zu erheben versuchte, spürte ich, wie meine Beine zitterten. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten, als ich mit gebücktem Kreuz wieder Platz auf meiner Seite des Verschlags nehmen wollte. Dieses Vorhaben misslang mir auch. Stattdessen sackten meine Beine unter mir weg und ich prallte schmerzhaft auf dem Boden der Kutsche auf.

Am Rand meines schwindenden Bewusstseins nahm ich war, wie zwei starke Arme meinen Körper umfingen und ihn aus der stickigen Kutsche ins Freie zogen. Kühle Luft umschmeichelte meine Haut, wirkte belebend auf mich, während ich im Hintergrund die lautstarken Proteste Elbas vernahm. Ich hielt die Augen geschlossen, fühlte dem Muskelspiel dieses stählernen Körpers nach und ignorierte das aufkeimende Schamgefühl, mich in den Armen eines Mannes zu wissen.

Als ich die Augen öffnete, fand ich mich an einen Baum gelehnt wieder. Vor mir saß im Schneidersitz ein großer Mann, dessen glühend blaue Augen mich eingehend musterten. Sofort schloss ich meine Augen als Reaktion auf seine Anwesenheit. Mir war sein forschender Blick mehr als unangenehm.

„Ich weiß, dass Sie wach sind, Mylady."

Widerwillig schlug ich meine Augen auf und fixierte einen Punkt hinter seinem Kopf. Mein verräterisches Herz klopfte vor Aufregung ganz wild und meine Hände waren feucht vor Schweiß. Was hatte dieser Mann nur an sich, dass ich derart ungebührlich allein auf seine bloße Gegenwart reagierte?

„Essen und trinken Sie etwas. Dann werden Sie sich gleich besser fühlen, das verspreche ich Ihnen."

Misstrauisch nahm ich Brot, Käse und Schinken entgegen sowie einen Lederbeutel, der mit würzigem Wein gefüllt war. Vorsichtig aß und trank ich ein wenig, bis ich bemerkte, dass ich tatsächlich von ziemlichen Hunger und Durst geplagt wurde. Vergessen war plötzlich seine beunruhigende Gegenwart, während ich sehr undamenhaft alles verschlang, was er mir dargeboten hatte. Als meine Lebensgeister sich nun wieder regten, erkannte ich mein maßloses Verhalten und meine Wangen liefen rot an. Wie entsetzlich peinlich mir das alles war!

„Wie fühlen Sie sich jetzt?" Seine Stimme fuhr mir wie ein verführerischer Singsang durch Mark und Bein und überzog meinen gesamten Körper mit einer Gänsehaut. Schauer liefen mir den Rücken hinab. Noch immer konnte ich ihm nicht ins Gesicht schauen.

„Besser."

„Sehr schön. Brauchen Sie noch einen Moment? Oder können wir mit der Reise fortfahren?"

Ich verneinte und erhob mich auf wackligen Knien. Als er sich ebenfalls erhob, bemerkte ich erst, wie riesig dieser Mann doch war, der mich mindestens um eine Haupteslänge überragte. Neben ihm musste ich mit meiner kurvenreichen Figur geradezu zierlich wirken. Ich verkniff mir ein Lächeln, als ich mir dieser Umstand bewusst wurde. Elba war immer der Meinung gewesen, ich sei nicht dick, aber wohlgenährt, und müsse nur darauf achtgeben, nicht doch als dick von meiner Umwelt wahrgenommen zu werden.

Gerade wollte ich mich der Kutsche zuwenden, als ich seine Hand an meinem Rücken spürte, die mich zu seinem Hengst dirigierte. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Ich schluckte und mir schwante Ungutes.

„Mylord, was hat das zu bedeuten?" Meine Stimme klang plötzlich so heiser und mein Hals war ganz trocken.

„Sie werden den Rest des heutigen Tages gemeinsam mit mir reiten. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen einzuwenden, aber für unser aller Wohl ist es wohl das Beste, wenn Sie der Kutsche fernbleiben."

„Wenn es Elba ist, die ..."

„Elba hat damit herzlich wenig zu tun, auch wenn sie ein gewissen Anteil daran trägt. Während Ihrer kurzzeitigen Bewusstlosigkeit erläuterte sie mir ausführlich, dass Sie unmöglich in diesem stickigen Gefährt weiterreisen könnten. Nun aus diesem Grund habe ich verfügt, dass Sie gemeinsam mit mir reiten werden. Ich hoffe doch, das Reiten ist Ihnen als Lady nicht allzu fremd."

Irgendetwas bei seiner Betonung des Wortes Lady passte mir ganz und gar nicht. Jedenfalls erwiderte ich aus Trotz, entgegen der Tatsache, dass ich nie länger als ein paar Minuten auf einem Pferderücken verbracht hatte: „Natürlich kann ich reiten. Immerhin bin ich eine Lady."

„Gut zu wissen, Mylady. Elba hingegen meinte nämlich, für Sie als Lady sei es unzumutbar, mit mir auch nur Sekunde gemeinsam auf einem Pferd zu verbringen." Ein schiefes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Es erschien mir gefährlich, auch wenn ich nicht sagen konnte, weshalb. Von da an sagte ich nichts mehr und schluckte nur heftig vor Nervosität.

Abermals fragte ich mich im Stillen, was er wohl von mir denken musste. Sah er in mir eine verwöhnte Lady, die es nicht mehr als ein paar Stunden in der Enge einer Kutsche aushielt? Oder gar eine Lady, die diesem Titel nicht würdig war? Ich hatte mit einem Mal das unbestreitbare Gefühl, mich selbst nicht mehr unter Kontrolle zu haben, wenn er in meiner Nähe weilte. Und diese Tatsache ließ mich wahnsinnig werden.

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