Gnade zu zeigen ist auch eine Art von Stärke

Ich erwachte bereits kurz vor Sonnenaufgang. Der Tag-Nacht-Rhythmus der Natur vermochte sich zu ändern, doch Elben standen trotzdem über das ganze Jahr zur selben Zeit auf. Unser Körper wusste, wann es Zeit war, aufzustehen.

Also machte ich mich schnell fertig und stellte mich hinter meinen Schreibtischstuhl, um noch einmal einen Blick auf meine Aufzeichnungen zu werfen.

Mal wieder unterbrach ein Klopfen meine Arbeit, doch diesmal war es wenigstens zur richtigen Tageszeit, weshalb ich mich schnell daran machte, die Tür zu öffnen. Ich hatte zwei meiner sehr guten Freundinnen erlaubt, diese Gänge zu betreten, was die Wachen auch wussten. Es war auf Dauer einfach zu anstrengend, jede Nachricht durch eine Wache übermitteln zu müssen.
„Guten Morgen", begrüßte mich Calenmîr, „du hast dich gestern nicht mehr gemeldet?". Ihr Blick musterte mich besorgt. „Ich hatte ziemlich viel zu tun, tut mir leid. Willst du reinkommen?", fragte ich und trat einen Schritt zurück. Die Elbin lächelte erfreut und nickte knapp. „Lothparth ist gestern endlich zurückgekehrt", berichtete sie, während wir uns zum Wohnzimmertisch setzten. „Wurde aber auch Zeit. Hast du schon mit ihr gesprochen?", fragte ich und beendete mein Frühstück, welches ich mir vorhin zubereitet hatte.
„Nur kurz - sie war ziemlich erschöpft von dem weiten Weg", antwortete sie und machte es sich ein wenig bequem. Lothparth hatte vor ein paar Monaten geheiratet und war bis gestern auf Reisen mit ihrem Mann gewesen.
„Hast du eigentlich schon das Neueste gehört?", fragte sie mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Sie liebte es, Tratsch zu erzählen und achtete dabei auch nicht wirklich darauf, ob die Nachrichten traurig oder lustig waren - sie fand es einfach spannend. Verständlich, wenn man bedachte, dass in einem elbischen Königreich nicht besonders viel geschah.

„Sehe ich so aus?", fragte ich, als ich den letzten Bissen des Brotes hinuntergeschluckt hatte und sie erwartungsvoll ansah. Anfangs hatte es mich nicht wirklich interessiert, was gerade im Palast oder im restlichen Wald vor sich ging, solange es nicht irgendetwas Überlebenswichtiges war, doch inzwischen hatte auch ich meinen Spaß an diesen Geschichten gefunden. Als Prinzessin musste man doch über alles Bescheid wissen!
„Vor ungefähr einer Stunde wurde ein Schüler halb totgeschlagen in seinem Zimmer aufgefunden. Er wurde sofort zu den Heilern gebracht", erzählte sie mit einem Glänzen in den Augen. Mein Lächeln erstarb sofort.
„Weißt du zufällig den Namen des Schülers?", fragte ich mit einem leichten Beben in der Stimme. Calenmîr sah mich etwas verwirrt an. „Nein, warum?" Ich stand sofort auf. Es mochte vielleicht nur Zufall sein, aber schließlich wurde auch nicht jeden Tag irgendein Schüler zusammengeschlagen!

„Tut mir echt leid, aber ich muss sofort los", entschuldigte ich mich und sprang schnell auf. Meine Freundin eilte mir nach. „Was ist denn los?", fragte sie aufgeregt, als wir meine Gemächer rasch hinter uns gelassen hatten und schon in Richtung Heilertrakt unterwegs waren.
„Lange Geschichte. Ich befürchte nur, dass ich weiß, wer dieser Schüler ist", erklärte ich knapp und war inzwischen schon so schnell unterwegs, dass Calenmîr Schwierigkeiten hatte, Schritt zu halten.
„Seit wann kennst du Schüler?", fragte sie verwirrt zurück. Ich seufzte kurz. Sie würde nicht lockerlassen.
„Er hat ziemlichen Mist gebaut und sollte dafür eigentlich bestraft werden", erklärte ich und schlug eine Abkürzung ein. Ich fühlte mich nicht wirklich schuldig, dass Nengwe etwas zugestoßen war, falls er es wirklich sein sollte, doch seine Eltern würden sicher davon Wind bekommen und nach Schuldigen suchen wollen.
„Hat es etwas damit zu tun, was Legolas und du gestern nach der Versammlung besprochen habt?", fragte sie und holte wieder etwas zu mir auf. Ich verdrehte leicht meine Augen. War ja klar, dass sie uns beobachtet hatte. Sie war eine der Palastwachen und schon seit Ewigkeiten in meinen Bruder verknallt, welcher sie nur als meine Freundin kannte und auch nicht wirklich an ihr interessiert war.

„Ja", antwortete ich etwas genervt, in der Hoffnung, dass sie es dabei belassen würde. Zu meinem Glück schwieg sie auf den letzten Metern bis zum ersten Heilerraum. Ich war zwar nicht sonderlich oft hier, fand mich aber trotzdem rasch zurecht. Ich vermutete Nengwe im ersten Raum, da dort die meisten Heiler zuständig waren.

Ich klopfte und öffnete sofort. In solch einem öffentlichen Raum musste man nicht auf eine Antwort warten.
Eine Heilerin, die hier wohl die Ranghöchste war, wandte sich mir rasch zu. „Herrin Níniel?", fragte sie etwas verwirrt. „Ich habe gehört, es wurde ein Schüler hergebracht?", antwortete ich und sah mich suchend um. „Sein Zustand ist leider noch nicht stabil. Seine Familie ist gerade bei ihm", erklärte die Elbin und sah mich besorgt an. Ich wusste, dass sie damit unterschwellig ausdrücken wollte, dass ich nicht erwünscht war.
„Wie lautet sein Name?", fragte ich deswegen einfach und hoffte inständig, dass er nicht meinen Erwartungen entsprach.
„Nengwe", antwortete sie, was mich schwer schlucken ließ. „Bitte informiert mich, sobald er Gäste empfangen darf", murmelte ich noch und drehte mich zum Gehen. Calenmîrs große grüne Augen sahen mich schockiert an.
„Natürlich, Herrin Níniel", hörte ich noch hinter mir, als ich bereits dabei war, den Raum zu verlassen. Sein Zustand war also noch nicht stabil. Er könnte immer noch sterben. Ich musste herausfinden, was passiert war. Auch wenn es nicht direkt meine Schuld war, fühlte ich mich dennoch für Nengwe verantwortlich.
„Bedeutet er dir denn so viel?", fragte meine Freundin, die meinen verstörten Gesichtsausdruck verwirrt betrachtete. Ich hatte - nun etwas langsamer - den Weg zurück in Richtung königliche Gemächer eingeschlagen.
„Das ist es nicht", antwortete ich in Gedanken versunken. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass es meine Schuld war. Ich hätte Wachen abstellen müssen, von der Sekunde an, die er begonnen hatte zu reden. Er hatte mich doch gewarnt! Jemand, der mit solchen Dolchen handelte, war definitiv nicht erfreut, wenn er verraten wurde und würde Rache nehmen.

„Ich muss nachdenken, ich werde etwas später zu dir und Lothparth dazustoßen", murmelte ich als Calenmîr bereits wieder den Mund öffnete. Diese nickte etwas perplex und blieb stehen. Ich seufzte schwer und war heilfroh, als ich endlich wieder die altbekannten, ruhigen Gänge meines Zuhauses betrat.

Ich konnte nicht anders, als den Weg zu meinem Vater einzuschlagen. Es würde noch einige Stunden dauern, bis ich mit dem Schüler sprechen durfte und bis dahin sehnte ich mich nach ein wenig Gesellschaft und vor allem nach dem köstlichen Weines meines Vaters. Es war zwar noch ziemlich früh am Morgen, doch in meinem Alter machte das nicht wirklich einen großen Unterschied.

Ich betrat Thranduils Wohnzimmer und holte aus einem der Schränke eine Weinflasche. Eigentlich war es nicht unbedingt sehr passend, ohne ihn einfach mit dem Trinken zu beginnen, doch ich vermutete, dass er mich sowieso schon gehört hatte, also nahm ich mir ein Glas und öffnete sie. Noch während ich mir etwas einschenkte, hörte ich hinter mir eine Tür öffnen. Ich hatte also recht gehabt.
„Ich bilde mir ein, dass es ziemlich früh am Morgen ist", sprach mein Vater und kam näher. Ich ließ die Flasche sinken und warf ihm einen erschöpften Blick zu. „Du weißt nicht, was passiert ist", brummte ich bloß und führte das Glas zu meinen Lippen. Noch bevor ich einen Schluck nehmen konnte, nahm er es mir einfach aus der Hand und stellte es neben uns ab.
„Dann erzähl es mir." Ich seufzte etwas genervt und stellte die Flasche daneben. Es ziemte sich wohl nicht unbedingt für eine Prinzessin so früh zu trinken.
„Du würdest es nicht verstehen", antwortete ich schließlich und senkte meinen Blick. „Wenn du das glauben würdest, wärst du nicht hier", sprach er bloß wissend und sah mich erwartungsvoll an. Ich wollte widersprechen, doch wusste, dass er recht hatte.
„Nengwe, der Schüler, der den Dolch hatte, schwebt in Lebensgefahr", erklärte ich und konnte ihn dabei nicht ansehen. Warum sollte es ihn interessieren? Ich war selbst nicht einmal sicher, warum ich damit nicht zu Legolas ging. Vielleicht, weil er gerade anderes zu tun hatte oder ich nicht abermals um seinen Rat fragen wollte?
Thranduil schwieg einige Sekunden und studierte mein Gesicht. „Und du gibst dir die Schuld daran?", fragte er, wobei sich besorgte Falten auf seiner Stirn bildeten. „Er hat mich gewarnt, dass wenn er mir erzählt, woher er den Dolch hat, er in Schwierigkeiten geraten würde", murmelte ich und merkte, wie ein Teil der Last von meinen Schultern fiel. Es tat gut es auszusprechen und aus irgendeinem Grund fühlte ich mich bei ihm fast wohler als bei meinem Bruder.

Thranduil wusste, wie man mit solchen Gefühlen umging. Wie Legolas schon gesagt hatte, er befolgte bloß die Befehle des Königs und war damit nie dieser Schuld ausgesetzt.
„Ich bin mir sicher, dass du nach bestem Gewissen gehandelt hast", sprach mein Gegenüber mit sanfter Stimme und hatte mich fest mit seinem Blick gefangen. Wie eine Welle schlug mir plötzlich die Erfahrung, die er durch die lange Herrschaftszeit erlangt hatte, entgegen. Er wusste, wovon er sprach und hatte es nicht nötig zu lügen oder seine Worte zu beschönigen.

Ich wandte wieder den Blick ab. „Wie kann ich ihn denn jetzt noch bestrafen?", fragte ich leise. Mein Vater deutete auf eine Sitzecke und ging langsam darauf zu. „Ich war auch mal ein Prinz, ich weiß, was man lernt und was einem erzählt wird. Dass der Schlüssel ein guter Herrscher zu sein, sei, dass man über allem stehen muss, keine Gefühle zulassen darf und für sein Reich alles tun muss", fing er an zu erzählen und ließ sich nieder. Ich setzte mich neben ihn und hörte ihm schweigend zu. Er erzählte nicht oft aus seiner Kindheit.
„Doch eines Tages stellte sich heraus, dass jemand widerrechtlich in den Palast eingebrochen war und hier nun ungesehen lebte. Essen und Waffen verschwanden und die Kinder meinten komische Geräusche in der Nacht zu hören. Mein Vater übertrug mir die Aufgabe die Person zu finden. Es stellte sich heraus, dass es eine junge Elbin war. Sie hatte wohl Streit mit ihren Eltern gehabt und war dabei so weit geflohen, wie es ihr möglich war. Hier hatte sie Wärme und etwas zu Essen gefunden", erzählte er mit sanfter Stimme, die mich etwas beruhigte. Doch ich konnte schon das Ende kommen sehen. Er hatte sie trotzdem wegschicken müssen. Wie er vorhin gesagt hatte, als Prinz oder König musste man Entscheidungen treffen, die einem nicht gefielen, zum Wohle des Königreichs. Erzählte er es mir, um mir die Entscheidung zu erleichtern?

„Ich habe es nicht über mich gebracht sie wegzuschicken. Ich gab ihr sogar etwas zu Essen und berichtete meinem Vater, dass ich nichts gefunden hätte. Es dauerte nur wenige Jahre, bis er es herausfand und mich zu sich rief. „Thranduil", sagte er, „Könige sind auch nur Elben, sie denken und fühlen, wie es alle tun. Gnade zu zeigen ist auch eine Art von Stärke, das darfst du niemals vergessen."." Ich sah etwas überrascht auf. „Und was hast du dann getan?", fragte ich interessiert, als er eine Pause einlegte und nachdenklich ins Nichts starrte.
„Der Elbin geholfen sich in das Palastleben zu integrieren. Bald waren die alten Geschichten vergessen und sie wurde ein wichtiger Teil meines Lebens. Viele Jahre später heiratete ich sie und wir bekamen ein Kind", erzählte er, wobei seine Stimme langsam brüchig wurde. Ich meinte sogar etwas Feuchtigkeit in seinen Augen erkennen zu können, doch er blinzelte sie schnell weg, als er geendet hatte.

Wir beide schwiegen kurz. Ich lächelte leicht und lehnte mich gegen ihn, was ihn aus seiner Trance zu holen schien. Er zuckte leicht zusammen und strich kurz über seine Augen.
„Ich werde es mir merken", flüsterte ich leise und strich ihm über die Schulter. Thranduil, welcher eigentlich gerade in seine alte kühle Hülle zurückschlüpfen wollte, warf mir einen langen Blick zu und knickte dann doch ein. Mit einem sanften Lächeln legte er sein Kinn auf meinem Kopf ab. Ich liebte es ihn so emotional zu sehen.

„Ich dachte, du wärst nicht damit einverstanden, wenn ich ihm Gnade gewähre", murmelte ich nach einigen Minuten, die wir einfach schweigend dagesessen waren.
Er hob seinen Kopf wieder an und drehte sich so, dass er mir in die Augen sehen konnte. Der emotionale, ruhige Elb, der Weisheiten teilte und aus der Vergangenheit erzählte, war verschwunden, zurück blieb er erfahrene, fürsorgliche Vater, der, zumindest bei seiner Tochter, wusste, wie er den König und den Vater in sich vereinigen konnte. Ich wünschte bloß, dass ihm das bei Legolas auch so leicht fallen würde.

„Ich sollte die Vergangenheit ruhen lassen und außerdem habe ich dir diese Aufgabe anvertraut", sprach er ruhig. Ich setzte mich wieder auf und lächelte leicht. „Warum bist du zu mir und nicht zu Legolas gekommen?", fügte er hinzu, bevor ich antworten konnte. Ich wandte meinen Blick ab und dachte kurz darüber er nach, was ich antworten sollte. Ihm genügte das anscheinend schon als Antwort.
„Es ist kein Zeichen von Schwäche Rat zu suchen. Auch ich habe meine Berater", erklärte er sanft und erhob sich wieder. Ich war ihm dankbar für diese Worte, doch war mir nicht sicher, wie ernst ich sie nehmen würde. Natürlich war es keine Schande mal nach einer anderen Meinung zu fragen, doch gleichzeitig wollte ich ihn auch beeindrucken und stolz machen.
„Danke", sagte ich ernst und stand ebenfalls auf. Er lächelte erfreut und ging wieder auf sein Buch zu. Ich erkannte, dass er nun seine Ruhe haben wollte und außerdem hatte ich noch genug andere Sachen zu tun, also nahm ich das als Zeichen, dass ich gehen konnte. Ich musste mir trotz allem etwas einfallen lassen, sodass dem Schüler die Ausmaße seiner Tat bewusstwurden und so ganz nebenbei hatte ich noch einen Großangriff, den ich vorbereiten sollte. Aber da Nengwe wohl noch etwas Zeit zum Heilen brauchen würde, machte ich mich erst einmal auf den Weg zu Lothparths Zimmer.

Ich hatte sie die letzten Monate vermisst. Sie wusste noch nichts von meiner ungewöhnlichen Beziehung zu den dunklen Spinnenwesen und fürs erste gab es auch andere Themen, die wir davor besprechen konnten, wenn man bedachte, dass ich nicht sonderlich stolz auf mein Verhalten die letzte Zeit war.

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