**•✩ - Eins


**•✩ - Die Poltergeisha

„Warum genau sind wir nochmal hier?", seufzte Jimin unwillig, sah dabei dem davonfahrenden Bus nach, bevor er sich zu Jungkook umdrehte. Sie waren die Einzigen, die an dieser Bushaltestelle ausgestiegen waren. Er hoffte wirklich, Jungkook würde allein anhand seiner Miene sehen, dass er absolut nicht hier sein wollte.

Aber Jungkook warf ihm nur einen kurzen, verschmitzten Blick zu. „Du hast doch Onkel Minjun gehört. Das ist ein waschechtes Spukhaus! Und morgen ist der 9. Dezember und es sind wieder vierzehn Jahre vergangen. Das heißt: Heute Nacht taucht der Geist auf und legt wieder alles in Schutt und Asche!"

Jungkooks Aufzählung klang so begeistert als spräche er von einem phänomenalen Konzert ihrer Lieblingsband, die nur einen einzigen Auftritt in ihrer Stadt geplant hatten und zu dem er VIP-Tickets gewonnen hatte. Aber nein, so viel Glück hatte Jimin nicht, denn so sehr sich Jungkook auch für alle möglichen Teenieaktivitäten begeistern konnte, wenn es etwas gab, was garantiert seine Aufmerksamkeit fesselte, dann waren es Spukgeschichten.

So war es schon immer gewesen.

Deswegen war Onkel Minjun auch sein Lieblingsonkel.

Seit Jimin denken konnte, hatte sich der Mann in regelmäßigen Abständen bei der Familie seines Freundes eingefunden, war ein oder zwei Wochen geblieben und dann wieder untergetaucht. Jungkook behauptete Onkel Minjun wäre Geschichtsprofessor und als Kind war Jimin nicht minder beeindruckt gewesen, von dem Mann, der so aufregende Geschichten zu erzählen wusste.

Inzwischen glaubte er eher, Minjun war ein Hochstapler und Schmarotzer mit einem Hang zu parapsychologischem Kram, der sich, immer wenn das Geld knapp wurde, eine Weile bei den Jeons durchfüttern ließ. So war das mit der lieben Verwandtschaft, oder? Man konnte sie sich eben nicht aussuchen.

Und mittlerweile konnte er Onkel Minjuns Spukgeschichten auch nichts mehr abgewinnen, immerhin war er jetzt erwachsen! Also ... fast, denn er war doch immerhin schon 17 und damit auf alle Fälle näher am Erwachsen- als am Kindsein. Auch wenn Jungkook das nicht sehen wollte oder, wie jetzt gerade, wieder zum Kind mutierte, wenn er Minjuns Gruselerzählungen im Kopf hatte. Vielleicht lag es auch daran, dass er ein Jahr jünger war als Jimin. Es hieß doch immer, man machte Sprünge in der Entwicklung. Hoffentlich würde Jungkook diesen Sprung dann auch bald machen und endlich sehen, dass-

„Jimin!", riss Jungkook ihn aufgeregt aus den Gedanken und verfiel dann in ein lautes Flüstern. „Sieh doch! Da ist es!"

Jimin blickte auf und verzog das Gesicht. In der Tat sah man oben auf dem Hügel das Dach eines Gebäudes über die Baumspitzen hinweg. Und vor allem war dort oben alles unbeleuchtet, denn kein Schimmer drang durch die Dunkelheit. Sowas hatte er ja gerne. Dunkelheit, Kälte und seinen übereifrigen Freund an der Seite, der unbedingt auf Geisterjagd gehen wollte.

Seufzend zückte er sein Handy. „Weißt du, Kookie, alles, was du über das Haus wissen willst, finden wir sicher auch im Internet. Wir könnten also zurück in die Stadt fahren, uns in ein Café setzen, Kuchen futtern und recherchieren." Er gab ein paar Suchbegriffe ein und begann laut vorzulesen. „War vor dem Krieg das Anwesen eines alten Adelsgeschlechts, blabla, wurde dann von den Japanern übernommen ... Hey, meinst du, das war so eine Art Kommandozentrale im Krieg? So mitten im Nirgendwo, wo keiner draufkommt?"

„Dann finden wir darin vielleicht noch alten Militärkram!", warf Jungkook begeistert ein und lief noch schneller voran.

„Sicher, ist ja auch erst ein paar Jahrzehnte her, war bestimmt keiner dort seitdem." Jimin schnaubte, schüttelte den Kopf und las weiter. „Ach nö, weißt du was es war? Ein Teehaus. Wie aufregend. Müssen wir echt da rein?"

Jungkook blieb stehen und sah ihn strafend an. „Ehrlich Jimin, in dir schlummert so gar kein Abenteurer, oder? Und hör endlich auf, mir aus diesem langweiligen Online-Lexikon vorzulesen. Such gezielter! Such nach Spukhaus, alle vierzehn Jahre, such nach dem Datum 09.12., das brauchen wir."

Tat Jimin, trottete dabei weiter neben Jungkook her, während sie den Weg entlangliefen, schüttelte dann aber den Kopf. „Da ist gar nichts, Kookie, okay? Und das mit alle vierzehn Jahre stimmt auch nicht. Die Hütte ist ein paar Mal abgebrannt und das wars. Zum ersten Mal 1939, da haben sie das Teehaus abgefackelt und dann wollten sie es als Zeitzeugnis wieder aufbauen und das Ding ist 1953 wieder in Flammen aufgegangen. Ach ja, und da steht: Der Grundbesitz wurde 1993 an irgendeine reiche Familie verscherbelt, die wollten da eine fette Villa hinstellen, so auf alt getrimmt, die ist ihnen dann zwei Jahre später bei einem Unwetter ebenfalls zum Teil in Flammen aufgegangen. Da waren die Bauarbeiten noch gar nicht ganz abgeschlossen."

„Ein Unwetter, soso", murmelte Jungkook. „Mitten im Dezember, tja, kommt vor." Er stapfte unverdrossen weiter und sie näherten sich der Anhöhe.

So gesehen war da schon was dran und Jimin blätterte erneut grübelnd auf seinem Handy. „Waren aber keine vierzehn Jahre, Kooks, waren mehr."

Da blieb Jungkook abrupt stehen und drehte sich zu ihm um. Er atmete tief durch, stieß dann genervt die Luft aus und stemmte die Hände in die Hüften. „Und 1967 hat es ebenfalls gebrannt, da ist sogar angeblich jemand darin gestorben! Und 1981 wurde wohl ein Brand gemeldet, aber als die Feuerwehr kam, war dann nichts. Aber 1995, wie du schon sagtest, hat es wieder gebrannt. Na – Mathegenie?"

Jimin überschlug die Zahlen und rümpfte die Nase. „Woher hast du denn diese Infos, online findet man die nicht."

„Von Onkel Minjun."

Jimin tippte erneut hastig auf dem Handy. „Gar nichts! Ehrlich, Kookie. Was soll das auch bedeuten: Hat angeblich gebrannt und dann doch nicht."

„Vielleicht hat es geregnet und das Feuer ging von selbst aus? Und wenn es wirklich spukt, findest du das natürlich nicht in den normalen Nachrichten. Dummerchen. Weil sie es vertuschen!"

Sagte bestimmt auch Onkel Minjun. Jimin addiert stumm zum parapsychologischen Spinner noch Verschwörungstheoretiker hinzu und rollte mit den Augen. Er hatte immer weniger Lust auf einen Ausflug in das angebliche Spukhaus.

„Und obwohl du davon überzeugt bist, dass alle vierzehn Jahre in dem Haus was Schlimmes passiert, willst du ausgerechnet heute da rein? Das ergibt keinen Sinn, Kooks!"

Mittlerweile waren sie auf dem Hügel angekommen und das alte Haus lag, von einigen Bäumen verdeckt, vor ihnen. Jimin blieb stehen und betrachtete die dunkle Silhouette. Sie hatte etwas Bedrohliches an sich, fand er und ein leichter Schauer jagte über seinen Rücken. War natürlich auch gut möglich, das rührte nur von ihrem Gespräch her.

Jungkook war unterdessen schon am Gartentor, welches nur schief in den Angeln hing, und trat hindurch.

„Ganz genau deswegen will ich da rein", meinte er und wandte sich breit grinsend an Jimin. „Stell es dir einfach vor! Wir beide treffen den Geist, vielleicht können wir ihn fotografieren und für die Nachwelt festhalten."

Jimin gab ein halbes Grunzen von sich. „Klar, weil Geister sich ja immer in Pose werfen, um auf Film gebannt zu werden."

Neben ihm ächzte Jungkook, als hätte er es mit einem begriffsstutzigen Kind zu tun. „Jimin, du denkst einfach nicht weit genug. Deswegen haben wir doch keinen Film, wir haben Handys!" Er zückte sein Smartphone und wackelte triumphierend damit. „Wir überlisten den alten Geist mit moderner Technik."

„Oh", meinte Jimin trocken. „Klar." Wandte sich ab und unterdrückte ein Kopfschütteln. Manchmal verstand er Jungkook einfach nicht. Und so sehr er seinen Freund mochte, so gern er jeden Blödsinn mit ihm veranstaltete, hin und wieder wollte er ihn packen und ...

... küssen.

Nein! Schütteln! Verdammt. Schütteln natürlich. Er atmete tief durch und musterte Jungkook von der Seite. Wobei, er grinste vage, vielleicht wäre küssen effektiver. Womöglich würde ihn das so überraschen, dass er ganz abkäme von seiner dummen Geisterjagd. Und mit etwas Glück würde er dann auch endlich kapieren, dass es mehr als einen Grund gab, warum Jimin mit ihm abhing und jeden Scheiß mitmachte.

Mitten hinein in diese abdriftenden Gedanken packte Jungkook ihn plötzlich an der Hand, was Jimin so erschreckte, dass er mit einem leisen Keuchen zusammenfuhr. Jungkook lachte leise, ließ ihn aber nicht los.

„Komm", flüsterte er nur. „Wir holen uns den alten Klappergeist und keine Angst, ich passe auf dich auf."

„Ich habe keine Angst", maulte Jimin, trabte aber nun gehorsam hinter ihm her, einfach weil es im Moment schlicht schön war, dass Jungkook seine Hand hielt. Er schlang seine Finger fester um die des Jüngeren und spürte ein aufgeregtes Flattern in der Magengegend.

Unterdessen schritt Jungkook mutig voran durch den verwilderten Garten, während Jimin versuchte mit ihm Schritt zu halten. Zweimal stolperte er dabei über verschobene und hochstehende Pflastersteine, verfing sich einmal im Gestrüpp und wieder schmunzelte Jungkook. Jetzt wirkte es fast nachsichtig.

„Du bist echt der tollpatschigste Kerl, den ich kenne."

Vielleicht hätte Jimin ja protestiert, aber da packte Jungkook seine Hand noch fester und er schwieg, leidlich zufrieden. Wenn das die einzige Art war, wie er Kookies Aufmerksamkeit und Fürsorge bekam, dann würde er wohl weiter wie ein ungeschickter Troll neben ihm herstolpern. Immerhin durfte er so seine warme Hand halten und ... Jimin seufzte laut. Zu laut.

„Was ist denn jetzt wieder?"

Mist. Ruckartig sah Jimin auf und fühlte sich ertappt. War es nicht unfair, dass Jungkook zwar ein Jahr jünger, dafür aber sicher einen halben Kopf größer war als er? Jetzt schon. Und seine Schultern waren auch breiter und überhaupt hatte er viel mehr Muskeln und – verdammt – er war so hübsch. Warum war er so hübsch? Und warum hatte er Trottel sich ausgerechnet in seinen besten Freund verlieben müssen? Ne, das war echt nicht fair.

„Magst du mich? Wenigstens ein bisschen?", rutschte ihm ohne Vorwarnung heraus. Aber erst als Jungkook ihn ganz verwirrt ansah, wurde ihm bewusst, wie dumm seine Worte gewesen waren und er haspelte eine rasche Erklärung hinterher. „Ich meine ja nur, wenn ich doch angeblich dein bester Freund bin und du mich in das Haus zerren willst, von dem du glaubst, dass es heute Nacht abfackelt, frage ich mich schon, ob du nicht einfach nur eine elegante Möglichkeit suchst, mich loszuwerden."

Jungkooks Miene hellte sich auf, er begann zu glucksen, dann zu lachen. „Du bist und bleibst ein Schisser, Jimin", sagte er vergnügt und zerrte ihn dabei die letzten Stufen zur Eingangstür hinauf. Dort ließ er ihn los, nahm sein Handy und schaltete die Taschenlampenfunktion ein, bevor er sich das Gerät unter das Kinn hielt, um die Lagerfeuer-Gruselatmosphäre nachzuahmen, in welcher man Geschichten erzählte. Das von unten kommende Licht verzerrte seine Züge und ließ seine Augen ganz seltsam schimmern.

„Du hast mich also durchschaut, Park Jimin", knurrte er dumpf. „Ich habe dich als Jungfrauenopfer ausgewählt und werde dich auf grausame-"

„Wieso bist du dir so sicher, dass ich eine Jungfrau bin?", unterbrach Jimin ihn. Auch, weil es durchaus gruselig gewesen war, so im Dunkeln, vor dem angeblichen Spukhaus.

Auf der Stelle richtete Jungkook den Lichtkegel nun auf Jimin und blendete ihn damit. „Bist du nicht?", kiekste er ganz überrascht. „Ahm ... Wir ... Haben wir nicht gesagt, wir erzählen uns gegenseitig, wenn ..."

Seufzend schob Jimin das Handy zur Seite und blinzelte. Bunte Lichtblitze tanzten vor seinen Augen. „No way, Kooks. Sex- und Gruselgeschichten in einer Nacht? Du bist doch nicht mehr zur retten. Und jetzt geh schon endlich rein, damit wir das hinter uns bringen und wieder nach Hause fahren können."

„Ja, aber ... Ich will das jetzt wissen", grollte Jungkook schmollend und richtete den Lichtkegel doch wieder auf Jimin. „Wann, wie, wo, was, wer?"

„Hör auf mich zu blenden oder ich gehe wieder runter zur Bushaltestelle und fahre mit dem nächsten Bus zurück, dann kannst du allein auf Geisterjagd gehen."

„Schon gut." Jetzt war Jungkook bockig, das konnte man sofort erkennen. Seine Schultern waren angespannt, seine Unterlippe schob sich etwas vor. Dafür rüttelte er wild entschlossen an der Tür, die natürlich verschlossen war.

„Sollen wir um das Haus herumgehen und gucken, ob wir durch eines der Fenster einsteigen können?", schlug er dennoch vor.

Jimin ächzte schon allein bei dem Gedanken, sich durch den verwilderten Garten zu arbeiten, sich dabei total dreckig zu machen und womöglich noch durch ein kaputtes Fenster krabbeln zu müssen. „Ist dir eigentlich klar, dass wir ganz schön verdächtig wirken würden, wenn wir mit Handy-Taschenlampe durch das ganze Strauchzeug kriechen und dann noch durch ein Fenster einsteigen?"

„Wer soll uns denn sehen?", fragte Jungkook zurück.

„Die Polizei?", schlug Jimin vor. „Kann ja sein, dass die auch so gewitzt sind wie du und vermehrt Streife fahren heute Nacht."

Darüber schien Jungkook ernsthaft nachzudenken und Jimin kam sich unheimlich schlau vor, so ein glaubwürdiges Argument vorgebracht zu haben. „Wir können auch Fotos machen", schlug er jetzt vor. „Hier vor dem Haus und dann blasen wir das Ganze ab und machen uns einen gemütlichen Abend bei dir oder mir, wir zocken, wir gucken von mir aus Horrorfilme – was sagst du?"

„Könnten wir machen", grummelte Jungkook unzufrieden, also zückten sie beide ihre Handys und machten Fotos, schnitten Grimassen dabei und gaben sich fürchterlich cool und unerschrocken. Jungkook kramte außerdem ein kleines Handbeil aus seinem Rucksack und Jimin ließ das Handy sinken. Ihm blieb vor Entsetzen der Mund offen stehen.

„Warum hast du denn eine Axt mit?!"

„Das ist doch keine Axt", erklärte Jungkook schnaubend, „das ist ein Handbeil." Wieder richtete er das Licht von unten auf sein Gesicht. „Oder hast du jetzt Angst, dass ich dich im Garten zerstückle und-"

„Kooks."

„Hm?" Er senkte das Licht.

„Nicht witzig."

„Sorry." Jungkook wandte sich zur Tür um, klemmte die Schneide der kleinen Axt zwischen Tür und Türstock und benutzte sie als Hebel. „Ich dachte ...", schnaufte er vor Anstrengung, „sie könnte ... nützlich sein." Als er sich fast mit dem ganzen Gewicht drauflehnte, gab das Holz knirschend nach und die Tür sprang auf. „Bitte", grinste er zufrieden. „Und ich hatte recht."

„Großartig, wir machen uns gerade strafbar", murmelte Jimin. Er war ein paar Schritte zurückgewichen und linste von dort in die undurchdringliche Schwärze im Inneren des Hauses. „Was hast du denn sonst noch Praktisches in deinem Rucksack? Eine anständige Taschenlampe vielleicht?"

„Klar!", meinte Jungkook, kramte besagtes Stück heraus und reichte es Jimin. „Außerdem noch Benzin, Streichhölzer und ..." Er blickte auf, Jimin fixierte ihn strafend und Jungkook schulterte den Rucksack leise seufzend.

„Okay, das war blöd, gebe ich zu. Gehen wir jetzt rein?"

Mit einem Nicken gab Jimin ihm die Taschenlampe zurück. „Nach dir."

Also schritt Jungkook voran, leuchtete mit der Taschenlampe einen großzügigen Eingangsbereich aus und drehte sich gleich wieder breit grinsend zu Jimin um, der ihm nur zögerlich gefolgt war.

„Irgendwie cool, findest du nicht?"

„Ich finde es irgendwie gruselig", murmelte Jimin. „Aber das ist wohl Sinn der Sache bei Spukhäusern, oder?"

„Ganz genau." Jungkook zwinkerte, wartete bis Jimin aufgeschlossen hatte und leuchtete derweilen mal hierhin, mal dorthin. Ein ausgefranster, dreckiger Teppich kam zum Vorschein, darauf stand oder besser lag ein kleiner umgestürzter Tisch, mit runder Tischplatte. Womöglich hatte er mal als Zierde gegolten, mit Blumen dekoriert, vielleicht die Post darauf abgelegt. Jetzt wirkte das Möbelstück seltsam deplatziert, vor allem weil es das einzige war. Es gab buchstäblich nichts in dem großzügigen Foyer. Vier, nein fünf abgehende Türen, die allesamt geschlossen waren, eine Treppe ins Obergeschoss, die in einer Galerie endete und eben diesen umgeworfenen Tisch, der mitten im Weg lag. An der Decke, wo vielleicht mal ein imposanter Lüster gewesen sein mochte, war auch nichts. Keine heraushängenden Kabel, sondern nur ein Loch. Die Tapeten an den Wänden waren fleckig und im linken, hinteren Bereich rußgeschwärzt.

Jungkook leuchtete dorthin. „Bestimmt war dort hinten die Küche oder so. Wenn es noch vor Fertigstellung wieder gebrannt hat, ging das doch sicher von der Küche aus. Kabelbrand, was auch immer."

„Und warum ausgerechnet die Küche?", fragte Jimin. „Die war doch garantiert nicht in Betrieb, wenn gerade umgebaut wurde. Eigentlich kann das doch überall im Haus angefangen haben."

„Ach ...", murmelte Jungkook. „Ich dachte wegen der ganzen Geräte oder Gasherd, was weiß ich." Und während er das sagte, marschierte er bereits in diese Richtung, sodass Jimin ihm notgedrungen folgte. Sie hatten den umgestürzten Beistelltisch gerade erst passiert, da schlug hinter ihnen mit einem lauten Krachen die Haustür zu.

„Mein Gott!", kreischte Jimin und fuhr herum. „Geht's noch?!"

Jungkook kicherte. „Das war doch nur ein Luftzug."

„Und wo genau zieht es hier? Alle anderen Türen sind zu!", zischte Jimin bissig zurück. Es nervte ihn, dass er sich so erschrocken hatte und er wollte auch nicht zugeben, dass ihm das Herz gerade bis zum Hals schlug.

„Hm, weiß nicht." Jungkook leuchtete in Richtung der Treppen und nach oben. „Vielleicht von oben?"

Skeptisch folgte Jimins Blick dem Lichtkegel, der sich im Nichts verlor. Ging sowas überhaupt, ein Luftzug der von oben schräg durch das Haus zog und die Tür zukrachen ließ? Darüber wollte er lieber gar nicht so genau nachdenken, zumal Jungkook schon wieder weitergegangen war. Er verschwand gerade unter dem Absatz der Treppe und näherte sich der Tür, die ebenso schwarz verrußt war, wie die Wände ringsherum.

Eiligst rannte Jimin zu ihm und konnte sich gerade noch so davon abhalten, seinen Arm zu umklammern.

„Also?"

„Hm?" Jimin tippelte nervös hin und her.

„Küche?" Vorsichtig drückte Jungkook die Tür auf und leuchtete über die Schwelle. Es war tatsächlich die Küche und sie sah aus, als hätte eine Brandbombe mitten im Raum eingeschlagen. Die Oberflächen waren vielleicht mal weiß gewesen, jetzt war alles schwarz oder grau, voller Ruß, Dreck und Staub. Geborstenes Glas, gesprungene Fliesen, geschmolzener Kunststoff, verkohltes Holz.

„Wow", nuschelte nun auch Jimin und trat über die Schwelle. „Perfekter Drehort für so einen Zombie-Apokalypse-Streifen."

Er folgte Jungkook, welcher vorsichtig durch den Raum schritt und sah sich still um. Die Wucht der Zerstörung verursachte ihm ein beklemmendes Gefühl. Vorsichtig bewegte er sich über den Boden. Unter seinen Schuhen knirschte Glas und Schutt. Mittendrin jedoch hielt ihn Jungkook mit einem gezischten „Jimin!" auf und schlug ihm gleichzeitig die Hand vor die Brust, um ihn vor einem weiteren Schritt zu bewahren.

„Fußabdrücke", hauchte Jungkook nun und leuchtete vor sich auf den schmutzigen Boden.

„Sicher." Jimin rollte mit den Augen. „Wir hinterlassen auch Spuren, siehst du?" Er wies hinter sich.

„Ja! Aber wir sind nicht barfuß."

Mit einem Ruck drehte sich Jimin wieder um und starrte auf die Spuren vor ihnen. Ja, das waren eindeutig Fußabdrücke. Jemand war mit nackten Füßen hier durchgelaufen.

„Das ergibt doch keinen Sinn", brummelte er leise vor sich hin. „Kein Mensch mit ein bisschen Verstand würde barfuß durch dieses Chaos laufen."

„Kein Mensch ..." Ruckartig richtete Jungkook den Strahl seiner Taschenlampe wieder auf Jimin, so dass dieser geblendet die Hand hochriss.

„Herrgott! Kookie! Wenn du noch einmal-!"

„Tschuldigung", nuschelte der Jüngere und nahm rasch die Hand herunter, sodass der Lichtkegel erneut über den Boden kroch, die Spur der Fußabdrücke entlang, die – mittendrin einfach endete. Nein, nicht einfach nur endete, es sah aus, als wäre jemand bis knapp vor die Terrassentür gegangen, dann umgedreht und stehengeblieben.

„Das ist seltsam", murmelte Jungkook und leuchtete nach rechts und links. Rechter Hand war ein Durchgang, vielleicht zum Esszimmer. Links war in der Ecke eine weitere, etwas schmalere Tür, womöglich zu einem Vorratsraum. Der Lichtkegel schwenkte wieder zur anderen Seite und Jimin schnappte überrascht nach Luft.

Da waren nicht nur Spuren gewesen, sondern auch ... Füße?! Also nicht nur Füße, sondern ... Mit zitternder Hand griff Jimin nach der Taschenlampe und führte Jungkooks Hand.

„Zurück", hauchte er. „Leuchte zurück, da-"

Schrill kreischte er auf, als der Lichtstrahl erneut auf die Füße traf.

„Füße!"

„Was?"

„Füße!" Panisch riss Jimin ihm jetzt die Taschenlampe aus der Hand, leuchtete an die Stelle, aber da war nichts, stattdessen führte die Spur jetzt deutlich weiter und zwar bis zum dem Durchgang in der rechten Wand.

„Da stand jemand!", quietsche Jimin hoch und japste dabei nach Luft. „Kookie! Hast du das nicht gesehen? Da ... es ..."

„Was?", schnaubte Jungkook wieder, rupfte ihm grob die Taschenlampe aus der Hand und leuchtete zurück an die Stelle. „Da ist gar nichts, Jimin. Hör auf zu spinnen. Oder wolltest du mich erschrecken? Dann kannst du dir das sparen, du spielst echt miserabel."

„Ich spiele gar nicht!", empörte sich Jimin. „Da stand jemand! Und guck doch, die Spuren! Sie führen jetzt nach rechts!"

Taten sie wirklich.

Für einen Moment leuchtete Jungkook vom ehemaligen Ende der Spuren zu dem gähnenden Loch Dunkelheit in der rechten Wand, dann stieß er genervt die Luft aus und marschierte los.

„Uncool", maulte er dabei. „Irgendjemand ist hier und verarscht uns, oder? Du kannst rauskommen!", blaffte er noch lauter und hielt schnurstracks auf den Durchgang zu. „Jimin hat dich schon gesehen, du Clown."

„Warum sagst du meinen Namen", flüsterte Jimin aufgeregt und schlich hinter Jungkook her. „Was, wenn das jemand ist, der sich nicht grundlos versteckt?"

„Ein Axtmörder?" Ohne ein weiteres Wort holte Jungkook das Handbeil aus dem Rucksack und wog die kleine Waffe in der Hand. Jetzt wünschte sich Jimin sie wäre größer. Wobei – hatte er nicht mal irgendwo gehört, dass eine Waffe, mit der man nicht umgehen konnte, immer ein Vorteil für den Angreifer war? Womöglich war es eine dumme Idee, auf einen potenziellen Dieb oder Einbrecher oder was auch immer, mit einer Mini-Axt loszugehen.

„Kooks, lass uns verschwinden." Er zupfte nachdrücklich an dessen Jacke, aber Jungkook ließ sich nicht beirren.

„Nein, ich will jetzt wissen, wer das ist."

„Aber warum denn?", jammerte Jimin und trat nach Jungkook durch den offenen Halbbogen. „Wir-"

Jungkook leuchtete voraus, der Lichtstrahl traf auf einen Schemen und Jimin kreischte so hoch, dass sich der Ton in seinen Ohren überschlug.

„Da!"

„Wa-?"

Wäre ihm nicht die Luft ausgegangen und wäre er sich nicht vollkommen dämlich vorgekommen, hastig einzuatmen und dann weiterzukreischen wie ein Mädchen in der Achterbahn, dann hätte Jimin es getan. So schnappte er nur nach Luft und fuchtelte wie wild in die Richtung des Lichtkegels. Denn dort stand tatsächlich jemand.

Sehr zu seiner Erleichterung war das aber offenbar eine Frau, denn sie trug ein bodenlanges Gewand und sie hatte auch keine Waffe in der Hand mit der sie auf sie zielte, sondern ... einen Fächer?

„Du!" Todesmutig riss er ein weiteres Mal Jungkook die Taschenlampe aus der Hand, leuchtete in die Richtung der Frau und fuchtelte wie wild mit der anderen Hand. „Wer bist du? Warum schleichst du hier herum? Was soll der Scheiß?!"

„Jimin...", nuschelte Jungkook neben ihm.

„Nein!" Er wiegelte ab. „Ich lass mich nicht verarschen. Schon gar nicht von einem Mädchen. Hast du es jemanden in deiner Klasse erzählt, wo du heute hinwillst?"

„Nein", raunte Jungkook. „Aber Jimin-"

„Nein!" Jimin machte einen halben Schritt und wackelte auffordernd mit der Taschenlampe, sodass der Lichtstrahl schwankte. „Du wirst uns jetzt sagen, warum du ..." Mitten im Satz unterbrach Jimin sich und runzelte die Stirn.

Irgendwas an der Frau, nein, wohl eher doch Mädchen, sie wirkte sehr zierlich, war in etwa so groß wie er selbst und das Gesicht wirkte sehr jung, auch wenn es total übertrieben geschminkt war, kam ihm sehr seltsam vor.

Was hatte sie denn für merkwürdige Klamotten an? Und diese sonderbare Frisur. Und überhaupt, warum lief sie barfuß hier herum? Das war doch absurd. In Sekundenschnelle produzierte sein Kopf die abstrusesten Gedanken, von Menschenhändlern und verschleppten Mädchen, und ...

„Jimin!"

„Ja!" Genervt sah er zu Jungkook, der ihn vollkommen verwirrt anblickte.

„Mit wem zur Hölle redest du?! Bist du irre?"

„Na mit dem Mädchen!", knurrte Jimin, drehte sich wieder um und richtete die Taschenlampe erneut auf die Person, bevor er mit einem Aufschrei zurückwich. Das Mädchen, oh, es war definitiv ein Mädchen, denn jetzt hingen ihre langen Haare zerzaust herab. Der Kimono – das war doch ein Kimono, oder? – war zerfetzt, die Stofffransen, zum Teil verkohlt, hingen herab. Ihr Make-up, eben noch perfekt, bis hin zu den tiefrot geschminkten Lippen, war verschmiert und verlaufen, was ihr Gesicht zu einer grotesk verzerrten Fratze machte.

„Was zum-?"

Weiter kam Jimin nicht, denn da stürzte das Mädchen plötzlich wild kreischend auf ihn zu. Ihre Augen waren nur noch schwarze Löcher, der Mund aufgerissen und riesig, mit zwei Reihen nadelspitzer Zähne. Aus ihrer Kehle drangen wütende Knurrlaute. Sie streckte beide dürren Arme nach ihm aus, die ausladenden Ärmel ihres Gewandes rutschten zurück und gaben ledrige Haut frei, die ebenfalls zum Teil in Fetzen herabzuhängen schien.

Kurz bevor sie ihn packen konnte – und Jimin war sich ganz sicher, dass sie ihm mit ihren knochigen Fingern einfach die Kehle herausreißen würde – löste sich seine Starre. Mit einem ebenfalls wilden Aufschrei warf er die Taschenlampe nach ihr, registrierte aber nur am Rande, dass diese ohne Widerstand durch sie hindurchsegelte. Gleichzeitig machte er auf dem Absatz kehrt und rannte los.

„Kookie!", brüllte er noch, sah seinen Freund jedoch nicht mehr, weil ja die dumme Taschenlampe nun mitten im anderen Raum auf dem Boden lag und eine Zimmerecke anstrahlte, während er blindlings nach vorn stolperte und buchstäblich um sein Leben rannte.


...

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