**•✩ - Drei


Er war ein Stück weitergegangen und links nahe den geborstenen Schränken stehengeblieben. Sein Blick war auf den Fußboden gerichtet.

„Wenn du mich verrätst, schlage ich dich windelweich, du hässliches Ding", zischte Riki. Seine Erscheinung veränderte sich ein weiteres Mal. Die schönen Kleider waren erneut einfachen Gewändern gewichen. Die langen Haare hingen herab. Er hatte sich im Schneidersitz auf den dreckigen Boden gesetzt und wiegte leise jammernd vor und zurück. „Wenn du mich verrätst, schlage ich dich windelweich, du hässliches Ding", wiederholte er flüsternd ein ums andere Mal und schluchzte dabei leise. „Wenn du mich verrätst ..."

„Riki. Hey ..." Jimin machte einen Schritt auf ihn zu, bis ihm klar wurde, dass er ihn ja nicht berühren und an der Schulter rütteln konnte. Dafür wurde er von Jungkook gepackt und zurückgehalten.

„Jimin! Nein! Du darfst ihn nicht-"

Aber was immer Jungkook hatte sagen wollen, ging im nachfolgenden Getöse unter. Mit einem schrillen Aufschrei schwenkte Riki herum. Seine Augen jetzt wieder nichts als schwarze Höhlen, während er in einem so hohen Ton kreischte, dass es beinahe in den Ohren schmerzte.

„Um Himmelswillen", murmelte Jungkook und stolperte erschrocken rückwärts, wobei er Jimin mit sich riss, der wie erstarrt war.

„Bitte nicht einsperren! Bitte nicht! Es ist kalt! Und dunkel! Und ich habe Angst! Nein! Nicht NICHT!" Der Junge fiel ohne erkennbaren Grund rückwärts. Es sah aus, als würde er über den Boden geschleift. Dabei schrie und strampelte er angstvoll.

„Riki!" Jimin sprang auf und stolperte nach vorn. Er strauchelte, stürzte und fiel mitten durch den Geist. Nun war es Jimin, der panisch aufschrie.

„Was?!" Auch Jungkook war jetzt auf den Beinen. „Was ist? Was ist passiert? Geht es dir gut?!" Er rannte zu Jimin, griff seinen Arm und betrachtete ihn besorgt.

„Ist dir etwas passiert? Bist du verletzt?"

„Nur mein Stolz", seufzte Jimin. Seine Wangen brannten vor Verlegenheit und er hoffte wirklich, dass man das hier in der Düsternis nicht sehen konnte. „Ich ... hab mich nur erschrocken", murmelte er, ließ sich von Jungkook aufhelfen und klopfte sich den Dreck von der Jeans. „Und es war ... irgendwie kalt." Jetzt allerdings nicht mehr. Jungkook stand so nah bei ihm, immer noch lag seine Hand auf Jimins Schulter, als müsste er ihn vor was auch immer beschützen und die Wärme seiner Finger drang Stück für Stück durch den Stoff.

Das war schön, fand Jimin. In seiner Magengrube kribbelte es leicht und er unterdrückte ein Seufzen. Ach, wenn sie nur nicht hier festgesessen hätten. Wenn sie einfach einen gemütlichen Abend bei ihm zu Hause gehabt hätten, wie schon so oft.

Er sah auf und traf Jungkooks besorgten Blick.

„Wirklich alles okay?"

Jimin nickte, sah sich dabei um und erst jetzt schien auch Jungkook aufzufallen, dass das Lärmen und Schreien aufgehört hatte. Der kindliche Geist hockte wieder auf dem Boden, hatte die Knie umklammert und weinte bitterlich.

„Riki?", versuchte er es wieder, etwas leiser dieses Mal. „Wir werden dir helfen, okay? Wir lassen dich raus, versprochen."

Da hob der Geist den Kopf und sah von Jimin zu Jungkook. „Könnt ihr mich zu meiner Mama bringen?"

„Oh Mann", nuschelte Jungkook dumpf und wog die kleine Axt in seiner Hand. „Wir sollten echt vorsichtig sein mit irgendwelchen Versprechungen." Etwas lauter fuhr er fort: „Okay, ich sag dir was, wir suchen jetzt diese Falltür und dann sehen wir weiter."

Unterdessen hatte sich der Geist aufgerappelt und war ein Stück weiter über den Boden gehuscht, wo er schließlich auf eine Stelle wies, die völlig verkohlt war. Schutt und geborstenes Holz türmte sich auf und Jungkook begann ächzend etwas von dem Zeug zu entfernen. „Hier?", fragte er dabei schnaufend. „Die Grube ist hier? Jimin hilf mir mal."

Zu zweit zerrten sie also an gesplittertem Holz, verbogenen Plastikteilen und allerlei verbranntem Gerümpel, bis sie wenigstens ein Stück des dreckigen Bodens freigelegt hatten.

„Hier?", fragte Jungkook wieder und schob mit dem Fuß noch mehr Schutt zur Seite. Aber der Boden darunter bestand einfach nur aus geschwärzten Dielen. „Hier ist gar nichts. Es wäre echt einfacher, wenn du uns zeigen könntest, wie es hier früher ausgesehen hat."

Riki schüttelte traurig den Kopf. „Das kann ich in diesem Raum nicht."

„Vielleicht, weil er hier gestorben ist", mutmaßte Jimin.

„Aber du weißt noch, wie es früher im Teehaus ausgesehen hat. Wo genau, war die Falltür, Riki?", wollte Jungkook wissen.

Der Geisterjunge sah sich um, huschte nach links, in Richtung des Vorratsraums und wieder ein Stück zurück. Er beugte sich hinab, richtete sich wieder auf, drehte sich halb im Kreis und huschte wieder ein Stück zur Seite. Dabei scherte er sich weniger darum, ob ihm halbverbrannte Möbelreste im Weg waren, Gerümpel oder gar echte Menschen.

Eine Weile sahen sie ihm dabei zu, dann schüttelte Jungkook den Kopf. „Ich glaube er hat einen Knacks weg oder so. Guck doch, er wuselt die ganze Zeit hin und her und benimmt sich komisch. Hat er es vergessen?"

„Womöglich", brummelte Jimin, neigte dann aber den Kopf legte schließlich eine Hand auf Jungkooks Arm. „Nein, warte. Er ... macht irgendwas, oder?"

Tatsächlich wirkte es, als würde Riki irgendwelche bestimmten Tätigkeiten ausüben und eine ganze Weile sahen sie ihm dabei zu. Vielleicht holte er Feuerholz, oder Eimer voll Wasser. Mal trug er imaginäre Wäsche auf den Armen, dann schien er wieder Körbe zu schleppen. Es dauerte eine ganze Weile bevor er stehenblieb und – völlig erschöpft wie es schien – die Schultern hängen ließ.

„Da?", mutmaßte Jungkook und wies auf die Stelle, an der er nun stand.

Riki nickte und schniefte leise. „Muss ich wieder da runter? Ich hab doch alles erledigt, so schnell ich konnte."

„Nein." Jimin schüttelte den Kopf und suchte nach irgendwas, was man als Hebel benutzen konnte, während Jungkook den Boden bereits mit seiner Miniaxt bearbeitete. Jetzt wünschte sich Jimin erneut, sie wäre größer.

„Nein, du musst nie wieder da runter, Riki. Geh zur Seite." Es war zwar nicht wirklich nötig, weil sein Abbild ja nicht tatsächlich etwas blockierte, aber Jimin war es lieber, wenn er nicht nochmal durch ihn hindurchlaufen musste. Er hatte unter dem ganzen Gerümpel eine Metallstange gefunden, mit der er Jungkook zur Hilfe kam.

„Wenn du ein Stück von dem Holz herausbringst, können wir vielleicht das verwenden?"

Fand Jungkook wohl eine gute Idee, denn er nickte zuversichtlich und hackte wie wild auf den Boden ein. Leider ging das nicht halb so gut oder einfach, wie sie sich das vorgestellt hatten und da sie auch nur ein Werkzeug dabeihatten, konnte Jimin auch nur zusehen.

„Hast du denn eine Idee, was wir tun sollen, wenn wir tatsächlich diese Grube finden?", wandte er sich an Jungkook, der mittlerweile fast wütend auf das verkohlte Holz einhackte. „Ich meine, wenn da unten wirklich eine ... wenn er da unten ist?"

„Nein." Jungkook ließ sich auf die Fersen sinken und wischte sich schweratmend den Schweiß von der Stirn. „Keinen Schimmer. Aber darüber machen wir uns Gedanken, wenn wir die Klappe wirklich aufbekommen."

Und das taten sie. Es dauerte zwar gefühlt die halbe Nacht, bis sie endlich ein ausreichend großes Loch in das Holz gehackt hatten, um den Hebel ansetzen zu können, aber dann ging es ziemlich flott. Zu zweit lehnten sie sich auf die Stange, bis das Holz knirschend nachgab. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen barsten die Bretter, Holzsplitter flogen wie kleine Geschosse nach allen Seiten und schließlich brach ein ganzes Stück einfach nach hinten weg.

„Das war tatsächlich mal eine Falltür", raunte Jungkook verblüfft, als er die Klappe vorsichtig bewegte und ein metallenes Scharnier zu sehen war. Rasch kroch Jimin zu ihrem Rucksack, schnappte sich die Taschenlampe und leuchtete in das Loch, dass sie soeben freigelegt hatten. Es war viel kleiner, als er erwartet hatte und halb mit Erde zugeschüttet.

„Das ist die Grube, in die sie dich gesperrt haben?", fragte er ungläubig, leuchtete dabei immer noch in das Loch und sah zu dem Geist, der traurig nickte.

„Da ... hat doch kein Mensch Platz. Es ist winzig! Es ist ...!" Ihm fehlten die Worte. Es war nicht mal einen Meter breit und sicher auch kaum mehr als eineinhalb Meter lang und vielleicht ebenso tief. Womöglich ein wenig tiefer, jedoch war es eben zum Teil verschüttet und man konnte die ursprünglichen Maße nur grob schätzen. Dennoch, die Vorstellung, dass man dort zur Strafe ein Kind eingesperrt hatte, jagte ihm einen Schauer über den Rücken.

Jungkook kniete ebenfalls vor dem Erdloch und spähte stumm hinein. „Soll ich ... reinsteigen?", fragte er jetzt.

Voller Entsetzen wich Jimin zurück. „Du willst da reinkriechen? Und dann? Willst du etwa nach Knochen buddeln?"

„Wenn nach der langen Zeit noch welche übrig sind", murmelte Jungkook.

„Das ist eklig", gab Jimin zurück und schüttelte sich. „Bitte geh da nicht rein, Kookie, okay? Bitte nicht."

„Aber es hat sich nichts verändert, oder?", gab Jungkook zu bedenken und wies auf den Geist, der in ihrer Nähe kauerte. „Er ist immer noch hier. Ich habe auch nicht gehört, dass eine Tür aufgeflogen wäre. Wir müssen irgendwas tun!"

„Aber nicht da runterkriechen", beharrte Jimin.

Sah Jungkook offenbar anders, denn er schüttelte nur knapp den Kopf und krabbelte dann zur Kante, um vorsichtig die Beine in das Loch zu schwingen.

Jimin ächzte leise. „Bitte geh da nicht runter."

„Was soll schon passieren?" Jungkook rückte ganz an die Kante. „Es ist noch nicht mal besonders tief. Schau." Sagte er und ließ sich anschließend in das Loch plumpsen.

Jimin riss die Hände hoch. Plötzlich überkam ihn die irrige Vorstellung, dass Jungkook womöglich darin gefangen würde. Dass die Klappe zufiel, sich nicht mehr öffnen ließ, wie die Türen und das Holz schließlich Feuer fing.

Und dann würde er verbrennen, wie Riki.

Fest kniff Jimin die Augen zu, presste die Lippen aufeinander und wartete auf das Unvermeidliche. Aber da alles ruhig blieb, schielte er schließlich zwischen seinen Fingern hindurch. Jungkook stand in der Grube, sein Kopf lugte über den Rand und er grinste.

„Siehst du, alles gut. Gib mir mal irgendwas, was man als Schaufel benutzen kann."

Wie verlangt sah Jimin sich um, fand ein verzogenes Stück Plastik, das stabil wirkte und reichte es Jungkook in die Grube. „Geht das?"

„Perfekt", antwortete Jungkook und Jimin kniete sich wieder neben das Loch. Er sah zu, wie Jungkook energisch zu graben begann und schüttelte missbilligend den Kopf. „Aber dann ... keine Ahnung ... beeil dich mit ..." Er vollführte eine schwache Geste, wusste aber nicht so recht, was er sagen sollte. Beeil dich mit graben? Ihm wäre ja lieber gewesen, Jungkook hätte nicht nach irgendwas gegraben und wer weiß was zu Tage gefördert. Trotzdem reichte er ihm jetzt nach Aufforderung auch noch die Taschenlampe und hörte mit verkniffener Miene zu, wie Jungkook alles, was er sah, kommentierte.

Spinnen, Käfer, Maden, Würmer. Dann stieß Jungkook einen triumphierenden Schrei aus und Jimin fuhr zusammen.

„Was?!"

„Knochen!"

„Nein!", hauchte Jimin. Nein, nein, er wollte keine Knochen sehen, oh Gott, bitte. Er wollte keine Beweise, dass dieser arme Junge tatsächlich in diesem Loch gestorben war. Er dachte an einen bleichen Schädel, der ihn gleich über die Grube hinweg anstarren würde, aber das, was Jungkook hochhob war einfach nur ein weißes Stück irgendwas.

„Sicher, dass das ein Knochen ist?"

Jungkook zuckte die Schultern, legte das kleine Stück, das nicht länger als Jimins kleiner Finger war, auf den Boden vor Jimins Knie.

„Warte, da ist noch eins ... und noch eins ..."

Immer mehr kleine weiße Stücke sammelten sich vor Jimins Knien und ihm wurde irgendwie schlecht. Er blinzelte vorsichtig zu Riki hinüber, dessen flackerndes Abbild am Kopfende der Grube kniete und hinuntersah. Die Knochen schienen ihn nicht zu berühren. Es wirkte viel mehr, als hoffe er auf etwas anderes.

„Und da ist ... oh!", hörte man gedämpft Jungkooks Stimme. Dreck und Erde rieselten umher, als er die provisorische Schaufel gepackt, wie wild zwischen seinen Beinen durchbuddelte, während die Taschenlampe in dem kleinen Erdhaufen steckte. Er wühlte dort unten herum, wie ein Spürhund und mittendrin tauchte er wieder auf, Dreck und Erde im Gesicht verschmiert, in den Händen ein kleines Etwas, das er mit seinen schmutzigen Finger sauberzurubbeln versuchte.

„Guck mal." Seine Augen leuchteten vor Aufregung.

Es war auf alle Fälle etwas aus Metall, wie Jimin erleichtert feststellte. Keine weiteren Knochen und auch wenn die abgerundeten Kanten etwas verbeult waren konnte man im Licht der Taschenlampe abblätternde blaue Farbe erkennen.

„Was ist das?"

„Mein Koma", murmelte Riki, streckte die Hand danach aus und Jimin sah fasziniert zu, wie die Finger durch das kleine Ding hindurchglitten.

„Es ist ein Spielzeug", erklärte der Geist. „Der Mann, der zu Ayako kam, hat es mir geschenkt. Zum Geburtstag, sagte er. Ich weiß nicht, ob das wirklich mein Geburtstag war, aber ich dachte er könnte es ja sein. Nicht wahr? Er mochte die Maiko." Schließlich sah Riki auf und kräuselte die Nase, womöglich erkannte er die verwirrten Gesichter. „Es ... dreht sich", sagte er und deutete die Bewegung an.

„Oh! Sowas wie ein Kreisel!" Jungkook grinste und imitierte die Bewegung mit der man einen Kreisel andrehte.

„Ja." Riki lächelte und nickte. „Ayako war furchtbar wütend", erzählte er. „Sie wollte ihn mir wegnehmen, also habe ich ihn da unten versteckt, während sie aus war."

Und es war immer noch da. Ein Kinderspielzeug aus Metall, als womöglich einziges Erinnerungsstück an den Jungen, der hier gelebt und von dem niemand gewusst hatte.

Leidlich betroffen hatte sich Jimin im Schneidersitz neben dem Erdloch niedergelassen und drehte das verbeulte kleine Metallteil in den Fingern, bevor er erneut zu Riki sah, der sich in ähnlicher Weise neben ihm hingesetzt hatte. Derweilen hievte sich Jungkook ächzend aus der Grube und gesellte sich ebenfalls zu ihnen.

„Und jetzt?", fragte er, deutete dann auf den kleinen Knochenhaufen – also wenn es denn Knochen waren und nicht Steinsplitter, oder Wurzelreste, oder irgendwas anderes. „Müssen wir die vielleicht anständig begraben?"

„Wie willst du das denn machen?", fragte Jimin zurück. „Wir können doch nicht einfach auf einen Friedhof gehen und dort irgendwas vergraben."

Jungkook zuckte die Schultern und machte ein zerknirschtes Gesicht. „Ich weiß nicht weiter", gab er zu.

Jimin wusste allerdings auch keine Lösung. Er hielt den kleine Metallkreisel in der offenen Hand und sah zu dem Geist. „Du weißt sicher auch nicht, was wi-"

Doch mitten im Satz streckte Riki erneut die Hand aus und griff mit spitzen Fingern nach dem Kreisel. Er hatte die Zungenspitze zwischen die Zähne geklemmt und die Augenbrauen konzentriert zusammengezogen. Jimin verstummte augenblicklich. Zum einen in der Erwartung des kalten Gefühls, wenn ihre Finger sich berühren würden, zum anderen, weil er Riki nicht wieder durch einen unbedachten Ausruf erschrecken wollte.

Aber dann hob sich der Metallkreisel aus seiner Hand, schwebte für einen Moment in der Luft und landete schließlich mit einem leisen Geräusch auf dem Boden.

„Hast du das gesehen!", hauchte er zu Jungkook, packte ihn dabei am Ärmel und rupfte aufgeregt daran. Nur kam Jungkook nicht dazu, ihm zu antworten, denn mittendrin stieß der Geist einen spitzen Schrei aus, richtete sich auf Knien auf und schlug panisch gegen eine nicht vorhandene Barriere.

„Riki?!"

„Was?"

Beide, Jimin und auch Jungkook wichen zurück, fielen erschrocken auf ihr Hinterteil und krabbelten rückwärts ein Stück weg.

„Ayako!", rief der Geist unterdessen angstvoll. „Lass mich raus! Bitte! Bitte, lass mich raus! Ayako! Bitte!" Er drehte sich auf einer kleinen Fläche immer wieder im Kreis, rutschte auf Knien herum und hämmerte gegen ein nicht vorhandenes Hindernis. Und ein Lärm war da plötzlich um das Haus! Ein Tosen und Fauchen, wie bei einem wilden Sturm. Mit einiger Verzögerung begriff Jimin, dass das nicht wirklich ein Sturm war. Es war ...

„Das Feuer", nuschelte er, sprang auf die Beine und zerrte Jungkook in die Höhe. „Es ist das Feuer! Es passiert wieder, Kookie! Verstehst du?! Es ist das Feuer!"

Tatsächlich wurde das trübe Licht plötzlich von einem schemenhaften Flackern überlagert, ganz so, als würde die Momentaufnahme eines Ereignisses, das schon so lange zurücklag, in der Realität aufflackern. War das denn möglich? Konnten sich Vergangenheit und Gegenwart so überlagern, dass beides zugleich stattfand?

Scheinbar. Denn während Jimin immer weiter zurückwich, bis er zusammen mit Jungkook gegen die Wand stieß, verschwammen immer mehr Konturen der Küche. Ein Gebilde wurde sichtbar, vielleicht ein Ofen, das mittig an der Längsseite erbaut war. Körbe standen herum, Schüsseln aus unterschiedlichen Materialien, flache Regale aus Holz oder auch Bambus an den Wänden, an denen diverse Kochutensilien und Kräuterbüschel aufgehängt waren. Und eine Frau bewegte sich durch den Raum, sie lachte. Man konnte nichts hören, aber man konnte es sehen.

Eine Frau und ein Mann. Ihre Kleidung und Aufmachung verrieten die Geisha, aber erst alles Nachfolgende, gab dem allen einen Sinn. Ein junges Mädchen mit schlicht aufgesteckten Haaren wurde sichtbar. Und die Geisha wurde böse, schlug nach dem Mädchen, packte es am Kragen ihres Kittels und schleifte es durch den Raum.

„Ayako ...", flüsterte Jimin. „Das ist Ayako, oder? Und Riki. Sie ... sperrt ihn ein und ..." Weiter sprach Jimin nicht, seine Stimme verlor sich einfach in dem wilden Tosen, dass sie umrauschte. Dennoch konnten sie zusehen, wie die Frau das Mädchen in die Grube stieß und die Bodenluke zuwarf. Sie schob etwas durch den Eisenring, um sie zu blockieren und wandte sich wieder zu ihrem Begleiter um. Die Tändelei der beiden Gestalten verlor sich im Nichts, während eine der Bastmatten, die beim Kampf von Riki und Ayako verrutscht war, neben dem Ofen zuerst zu glimmen, dann zu brennen begann.

Im Nu stand der ganze Raum in Flammen. Jimin schlug sich vor Entsetzen die Hände vor den Mund. Er glaubte die Hitze zu spüren und es fühlte sich an, als würden seine Augen brennen in dem dichten Qualm.

„Raus!", schrie Jungkook da. „Jimin?! Wir müssen raus! Sofort!"

Und erst jetzt sah Jimin, dass der flackernde Schein Realität war. In der Ecke, wo sie die Holzbruchstücke zusammengeschoben hatten, züngelten die ersten Flammen. Oh Gott! Panisch starrte Jimin auf das Feuer. Das Feuer! Sie würden verbrennen!

„Herrgott nochmal! Jimin!", schrie Jungkook wieder, packte ihn am Arm und riss ihn mit sich. Zusammen stolperten sie über die Schwelle der Küche, da machte sich Jimin ruckartig von ihm los.

„Riki!", schrie er. „Wir können ihn doch nicht hierlassen! Nicht noch einmal!" Auf der Stelle machte er kehrt und rannte wieder in den Raum, wo die Flammen bereits am Türstock zum Esszimmer emporleckten.

„Riki!", brüllte Jimin, aber der Geist war nirgendwo zu sehen.

Hinter ihm polterte nun auch Jungkook wieder herein. „Bist du verrückt!", fuhr er ihn an. „Er ist ein Geist! Er kann nicht verbrennen!"

Doch er konnte. Jimin war sich ganz sicher. Nur sehen konnte er ihn nicht. Wie also sollte er ihn dann vor seinem wiederkehrenden Schicksal bewahren? Schließlich fiel sein Blick auf den zerbeulten Kreisel, der immer noch neben der Grube am Boden lag. Jungkook hatte erneut seine Hand gepackt, aber wieder riss Jimin sich los.

„Warte!", rief er. Mit einem Satz stürzte er nach vorn und griff sich den Kreisel. Dann war Jungkook wieder heran und packte ihn erbarmungslos am Arm.

„Jetzt reichts aber!", knurrte er. „Raus hier!"

Wieder hasteten sie zusammen aus dem Raum, jagten durch die Eingangshalle und prallten beinahe gegen die Haustür. Mit einem Wutschrei riss Jungkook an der Tür, die dieses Mal sofort aufsprang und stieß Jimin über die Schwelle nach draußen. Sie rannten ein paar Schritte, dann stürzte Jimin und sie fielen übereinander, mitten auf dem unebenen Pflasterweg. Und erst jetzt, wo sie dort hockten, mehr oder weniger aufeinander, begriff Jimin was passiert war und Erleichterung machte sich in ihm breit.

Sie lebten noch! Sie waren nicht verbrannt! Sie hatten das Haus verlassen können! Rasch sah Jimin über die Schulter zurück und stutzte. Das Haus ragte gespenstisch dunkel vor ihnen in die Nacht. Kein Lichtschimmer, kein Feuer.

„Aber ... Kookie?"

„Ich weiß auch nicht", murmelte Jungkook. Er hatte beide Arme um Jimin geschlungen und war offenbar nicht gewillt, ihn loszulassen. Vielleicht hatte er Angst, Jimin würde sonst wieder aufspringen und hineinlaufen um einen Jungen zu retten, der schon längst tot war. So saßen sie noch eine lange Minute, bevor sie sich endlich dazu aufraffen konnten, aufzustehen.

„Ich habe meinen Rucksack da drinnen liegen lassen", murmelte Jungkook.

Jimin sah ihn an. „Willst du reingehen und ihn holen?"

„Spinnst du?" Jungkook grinste schief und schüttelte dann energisch den Kopf.

„Gut." Jimin lächelte erleichtert. „Ich will da auch nicht mehr rein. Das ... war echt gruselig."

„War es wirklich", stimmt Jungkook mit einem knappen Nicken zu, griff erneut Jimins Hand und zog ihn weiter den Weg entlang. Still zwängten sie sich durch das Gartentor, dann warfen sie noch einmal einen Blick zurück.

„Ich hab genug von Geistergeschichten", murmelte Jimin dabei. Jungkook seufzte.

„Ich fand den Geist nicht so schlimm. Aber dass du einfach nochmal da reingerannt bist ...", nuschelte er. „Ich dachte mir bleibt das Herz stehen." Seine Stimme vibrierte leicht und da war ein Unterton in seinen Worten, der Jimin aufhorchen ließ. Abrupt wandte er sich zu ihm um und fixierte ihn, ein vages Lächeln zupfte an seinen Lippen.

„Hattest du Angst um mich?"

„Eine scheiß Angst."

„Das finde ich gut", murmelte Jimin und Jungkook sah verlegen weg. Aber dafür legte er jetzt einen Arm um Jimins Schultern und zog ihn ganz nah zu sich heran. Dafür, fand Jimin, brauchte man keine Worte und das wohlige Gefühl, dass sich in ihm ausbreitete, verdrängte die Schrecken etwas. Er griff in seine Tasche und befühlte das Stück Metall, bevor er es herauszog, die Hand ausbreitete und Jungkook das Stück zeigte. Es war das zerbeulte Metallspielzeug, das er vom Boden aufgehoben hatte.

„Meinst du, der Junge kann jetzt endlich seinen Frieden finden? Ich will nicht, dass er für immer eine Poltergeisha bleiben und immer wieder verbrennen muss."

„Weißt du, ich denke er ist nicht verbrannt. Wahrscheinlich wurde er durch den Rauch bewusstlos und ..." Weiter führte Jungkook, das nicht aus, aber Jimin verstand auch so.

„Du meinst, es war mehr wie – einschlafen?"

„Und nicht mehr aufwachen."

Der Gedanke beruhigte Jimin etwas. Der Junge war tot, daran konnte man nichts ändern, aber die Vorstellung, dass es vielleicht nicht so qualvoll war, wie sie zuerst angenommen hatten, war dennoch tröstlich. Zumindest ein bisschen.

„Riki, der Junge aus dem Teehaus", murmelte Jimin und steckte den Kreisel wieder ein. „Jetzt gibt es ein Andenken an ihn. Er ist nicht mehr vergessen."

„Der Junge aus dem Teehaus", stimmte Jungkook zu und drückte Jimins Schulter. „Ich habe eine Idee", sagte er beim Weitergehen. „Wir schließen einen Pakt. Du und ich. In vierzehn Jahren kommen wir wieder hierher und gucken nach, ob Riki zurückkehrt und wenn nicht ..." Offenbar wusste er nicht weiter, denn er brach mitten im Satz ab.

„Ja und? Wenn nicht?", hakte Jimin nach.

„Ist doch egal", meinte Jungkook, zuckte die Schultern und grinste verschmitzt. „Wichtig war nur der erste Teil, der mit dem Pakt." Er blieb stehen.

„Okay, ein Pakt", stimmte Jimin zu und neigte den Kopf etwas. „Müssen wir das schwören?"

„Besiegeln." Jungkook nickte, Jimin auch und mittendrin beugte sich Jungkook zu ihm. Es dauerte einen Moment bevor Jimin verstand, was hier gerade im Begriff war zu geschehen und dann schnappte er nach Luft und legte Jungkook die Hand auf die Brust.

„W-was tust du denn?"

„Besiegeln", flüsterte Jungkook und Jimin lachte verunsichert.

„Aber du bist ganz dreckig."

„Stört dich das?"

Jimin schüttelte den Kopf. Nein, es störte ihn nicht. Und überhaupt konnte er dann ohnehin nicht mehr richtig denken, denn Jungkooks Lippen pressten sich auf seine und sie waren warm und ganz weich und einfach wunderbar.

Viel zu schnell war es vorbei.

„Vierzehn Jahre", raunte Jungkook an seinem Mund, griff dabei Jimins Hand und verschränkte ihre Finger.

„Vierzehn Jahre", bestätigte Jimin flüsternd und fand, es klang, als würden sie von etwas ganz anderem sprechen.


-FIN-

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