Seltsame Stimmen

Mit dem neuen Tag war auch Gewissheit vorhanden, dass sich die seltsame Gesandtschaft nicht mehr am Huppiner Grabhügel befand. Den noch vorhandenen Spuren nach, hatten sie nicht übernachtet. Die Feuerstelle war erkaltet. Zurück an deren Lagerplatz blieben kleine Knochen von Geflügel sowie verschüttetes Getreide im niedergetretenen Gras, Mengen von Pferdekot und ein vergessener Feuerstein.

All dies gestrige Geschehen hier am Grabhügel war nicht nur ungewöhnlich, es hatte etwas Unheimliches an sich. Unheimlich allein deswegen, weil sich die Truppe nicht zum Ausflug hierher begeben hatte. Allein der Umstand, dass deren Anführer- wer auch immer er war- sich wohl über den gesamten Tag innerhalb der Hügelgruft aufgehalten haben musste, war mehr als seltsam.

Doch nun waren die Reiter weg. Anlass genug, dort weiterzumachen, wo die Drei aufgehört hatten.

Simon und Sina blieben oben am Hügel und beobachteten das Umfeld, um vor weiteren Überraschungen gewarnt zu sein. Und Walla konnte nun endlich auch selbst in die Gruft hinunter, um sich dort die vorhandene sehr starke magische Kraft aneignen zu können.

Walla legte eine Decke aus im Mittelpunkt des kleinen Hohlraumes im Hügel und setzte sich. Noch bevor sie ihre Augen schloss, um sich auf ihre Magie zu besinnen, atmete sie mehrfach lang und tief durch.

Was würde sie hier erwarten? Wie würde dieser starke Kraftort auf sie wirken?

Zunächst fühlte sich die Aufnahme der Energie an, wie bei den anderen Kraftorten an denen Walla schon verweilt hatte. Sie spürte, wie ihre Magie stetig anwuchs. Und was ihr wichtiger war, es war eine starke gute und helle magische Kraft, welche sich an diesem Ort befand.

Walla nahm an, dass schon viel Zeit vergangen sein musste, denn erneut spürte sie, dass sie sich selbst in einer langsam wirkenden Zeit befand, während sich die Welt um sie herum schneller zu bewegen schien. Aber auch dies kannte Walla schon. Jedoch spürte sie noch etwas: ein Gefühl von Beobachtung. Nicht nur von Beobachtung- gar von einer Art Einschätzung und Bewertung, so empfand sie es.

Walla spürte ab einem Punkt ihrer Kraftverstärkung, dass sich der Zeitpunkt näherte, da sie gestärkt sein würde.

Dann geschah es.

„Du bist es nicht!", sagte ihr eine seltsam nahe und sogleich ferne hohe männliche Stimme.

Zuerst glaubte sie, sich geirrt zu haben, aber die gleiche langsame hohe Stimme sprach erneut zu ihr.

„Du bist es nicht!", sagte die seltsame Flüsterstimme, welche wohl nur in ihrem Geist zu reden schien.

„Wer ist da? Zeig Dich!", antwortete Walla- halb verängstigt und verwirrt davon, jedoch auch fordernd, um den Sprecher der Stimme zu erreichen.

„Du bist es nicht!", sagte die Stimme erneut zu Walla. „Aber Du könntest es werden?"

Walla verstand die Welt nicht mehr. Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Gänsehaut verspürte sie, kleinste Härchen stellten sich für einen Moment lang auf.

„Was könnte ich werden?", fragte Walla zurück.

„Du bist es nicht!", antwortete die Stimme erneut. „Warum bist du hier?"

„Ich will lernen?"

„Lernen?"

„Ja. Ich möchte meine magischen Kräfte an diesem Ort stärken.", antwortete Walla irritiert.

„Doch du bist es nicht! Aber Du könntest es werden?", wiederholte die Stimme in monotoner Gleichheit.

"Der Mann gestern? War er es vielleicht?", fragte Walla gezielt.

"Der sündige Ritter? Nein. Er ist es nicht. Aber er versucht es zu werden.", legte sich die Stimme fest.

"Ich möchte es vielleicht gar nicht werden, wenn Leute wie dieser seltsame Mann danach streben- was auch immer es ist. mir ist wichtig, meine Fähigkeiten zu erkennen und vielleicht richtig nutzbringend verwenden zu können."

Auch wenn Walla einen trotzig wirkenden Ton angeschlagen hatte- die seltsame Stimme schien Walla mehr zu verstehen, als sie ahnte. "Auch wenn Du es noch nicht bist, ist dein Weg vorgezeichnet."

Auch wenn Walla nach diesen Worten auf weitere Informationen hoffte, die fremde unbekannte Stimme in der Stille ihres Geistes schien nun verstummt zu sein. Kein Wort kam ihr mehr zu Ohren. Und auch die hier am magischen Kraftort aufzunehmenden Energien schienen für Walla nun ausgeschöpft für diesen Moment.

Walla kehrte zurück in das 'Hier und Jetzt' der dunklen Gruft des Grabhügels. Nur ein geringer Schein von Licht fiel durch den schmalen Eingangstunnel aus Felsbrocken, der den Zugang stabilisierte.

Doch wie sollte sie sich verhalten? Sollte sie ihrer Schwester und Simon von dem seltsamen Begebenheiten berichten? Konnte man den Zweien die Wahrheit über die irritierende innere Stimme in ihrem Geist sagen? Oder war es nicht vielleicht angemessener, sich vorläufig nicht zu diesen Stimmen zu äußern, um nicht als verwirrt zu gelten? Doch was würde sich offenbaren, wenn auch Simon und Sina eine ähnliche Erfahrung gemacht haben und sich darüber aus Scham nicht äußern wollen? Wäre dann nicht vielleicht auch ein Keil der Heimlichkeit zwischen alle Drei getrieben, wenn jeder für sich sein Wissen zurückhielt?

Während Walla sich dem kleinen Ausgang zuwandte, wusste sie darauf noch keine Antwort. Und diese Last trug sie auch mit ans Tageslicht hinauf zu ihren Freunden.

"Gepriesen seien alle Naturwesen und Magier- da ist sie wieder. Und? Fühlst du dich gestärkt und bereit, weitere neue Wege hinab ins Tal zu beschreiten? Denn wenn wir uns gleich aufmachen, kommen wir an der Siedlung Huppin vorbei und könnten am Abend nahe dem Heldenmoor ein Lager aufschlagen- gut geschützt und abseits der Straße versteht sich."

Simons Freude wurde auch von Sina geteilt, die ihre Schwester Walla in den Arm schloss und fest drückte.

Doch Walla interessierte sich, wie ihre Weggefährten diesen eigenartigen Ort erlebt hatten, was aus Walla's Sichtweise schon einen Teil von Wahrheit in sich trug und jedem, der ein ähnliches Bild der Wahrnehmung hier hatte, erlaubt hätte, sich auch zu öffnen.

"Dieser Ort hat es wirklich in sich. Und ich bin mir sicher, dass ich ihn irgendwann wieder aufsuchen muss. Hier- und nur hier- gibt es etwas Einmaliges und sehr Durchdringendes, dass mich in gewisser Weise einer Prüfung unterzog. Einer Prüfung der Ehrlichkeit und Würdigkeit für etwas.", gestand Walla ihrer Schwester ein- doch bewusst auch so, dass Simon es vernehmen konnte. Und um sich sicher zu sein, dass Simon es auch gehört hatte, sah Walla die Beiden jeweils fest an.

Simon machte schmale Augen. Dies signalisierte Walla im ersten Eindruck, dass Simon wohl nicht diese seltsame Stimme gehört hatte. Das untermauerte sich in seinen Worten.

"Eine Prüfung der Würdigkeit? Für was?", fragte Simon.

Sina hingegen schien auch eine Erfahrung aus der Grabkammer mit dem Kraftort mitgebracht zu haben.

"Wurde dir auch etwas vorgegaukelt? Ich habe dort auch etwas erlebt- mehr als Beobachter gesehen, wenn ich so ehrlich sein kann.", räumte Sina ein.

"Du hast etwas beobachtet? Bei mir war es irgendwie anders. Ich habe eine Art Stimme gehört- von einem Mann, auch wenn niemand sonst außer mir in der Kammer war.", erklärte Walla offen und ehrlich.

Simon hatte wieder diesen Blick von Ahnungslosigkeit und Irritation. 

Doch Sina hörte mit wachen Augen zu. "Nein. Keine Stimmen. Mir wurde etwas gezeigt, auch wenn ich den Wert darin noch nicht erkennen vermag. Wie eine Art Treffen spielte sich vor meinen Augen ab- aber auch nicht wirklich, mehr im Kopf bei mir. Aber ich habe kein Gesicht erkannt. Ein seltsames Zeug war das. Ich kann es euch nicht einmal richtig umschreiben." Sina setzte sich auf die Seite und blickte starr in die Ferne, als würde sie nach etwas suchen- auch wenn es nur die richtigen Worte waren, um sich richtig zu dem Erlebten mitzuteilen.

Auch Walla ging es ähnlich- ihr fehlten die angemessenen Worte. Doch sie wollte die Wahrheit vor ihren Gefährten nicht verborgen halten.

"Die Stimme sagte mir, dass ich es nicht bin! Was auch immer die Stimme damit erklären wollte, denn dazu hat die Stimme nichts gesagt. Nur : 'Du bist es nicht!'", offenbarte sich Walla nun. "Simon? Hast Du auch irgendein Erlebnis gehabt? Ein Erscheinen von etwas nicht greifbarem?"

Simon schüttelte langsam den Kopf, er presste die Lippen aufeinander, dass sein Kinn ein Grübchen zeigte. "Nein?"

Sina und Walla sahen sich an- irritiert von dem hier Erlebten.

Nach kurzer Pause unterbrach Simon die für ihn komisch anmutende Situation. Auch wenn die zwei Frauen sich ansahen und nah beieinander am Boden hockten, so wirkten Beide recht abwesend und fremd zueinander- auch wenn sie Geschwister waren von gleichem Blut und sich ihre Hände berührten.

"Also ich habe hier viel magische Kraft aufgenommen. Ich möchte fast sagen, dass diese Kraft ausreicht, mich heute noch ins Tal zu bringen. Und wenn ihr bitte Eure Sachen aufnehmen könntet, dann reicht dieser Kraftschub auch noch für Euch, um Euch mitzuziehen. Wir können unterwegs weiterreden- ihr wisst schon: Wenn sich die Füße bewegen! Einer vor dem Anderen!"

Das ließ die Mädchen wieder einander anblicken. Sie schmunzelten über Simons Schilderungen und verstanden seinen Aufruf zum Aufbruch ins Tal.

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