Der Aufmarsch
Warnrufe ertönten, sogar alte Hörner wurden zur Warnung vor dem herannahenden Feinden geblasen und alte Klanghölzer geschlagen: der Feind kam.
Gleich hinter der Siedlung von Huppin breitete sich an diesem Morgen eine nicht enden wollende Vielzahl von Soldaten aus. Sie mussten in der Nacht hinter dem Ort gelagert haben- zumindest haben es Späher gestern so gemeldet. Die Straße nach Moorfeld war blockiert durch ein festes Lager.
Und heute nun? Die Soldaten und Krieger ließen keinen Zweifel daran, dass sie heute die Entscheidung suchen würden.
Aus dem sicheren Wald heraus beobachtete man den Aufmarsch zwischen dem Huppiner Grabhügel und dem Ort. Sina, Gunther, Ranka und Walla standen dort, aber auch Simon, Bowien und Urien hatte es in die erste Reihe gezogen.
Während alle sorgenvoll ins Tal blickten und man überlegte, wie man es am besten angehen sollte, konnte man den Großmagister des gräflichen Hofes sehen. Ryth war zu Pferd vor die erste Reihe der Kämpfer vorangeritten. An seinem Sattelzeug war ein Stick festgebunden. Er schleppte etwas oder jemanden hinter seinem Pferd her- mal auf dem Boden schleifend, dann wieder im hastigen Lauf dem Pferd folgend.
Simon, Sina und auch Walla erkannten, wer der Gefangene war, der hier so unsanft nach vorn gebracht wurde.
Doch Ranka übernahm es, den Mann beim Namen zu nennen. „Heda? Das ist doch Meister Chisto. Aus Bleckenbeck. Was hat dieses Schwein Ryth mit dem armen alten Chisto nur vor?"
Nun zeigte sich auf Hauptmann Torgyff in der vordersten Reihe der Krieger im Zentrum, sehr zur Beruhigung von Densell und Bowien.
Chisto sah bereits geschunden aus, als Ryth hielt.
Ryth schien sich ein ganz besonderes Szenario für Chisto vorgestellt zu haben. Etwas, was die Leute im Wald- zumindest war man sich dessen gewiss beobachtet zu werden- sehr demoralisieren sollte. Eine Demonstration seiner Macht als Magister und Magier sollte es werden. So zumindest hatte er es Torgyff gesagt und den Hauptmann wiederwillig dazu aufgefordert, mit dem Angriff zu warten, bis das Schauspiel vorbei war.
Während allesamt auf das geschehen blickten, sah Walla ein wenig seitwärts hin- wo kein Kriegslärm oder Trubel herrschte.
Walla sah zum Grabhügel hin. Und sie erinnerte sich an die seltsamen Stimmen, welche sie hier erlebt hatte- wenngleich sich die Stimmen auch nur monoton und leise anhörten, sie hatten dennoch eine Art Botschaft für Walla. Walla hatte im Angesicht des schlauen Bibliothekars sogleich einen Gedanken: Was, wenn die Stimmen des Grabhügels eine Art Prüfung für Fremde sind? Was, wenn diese 'Wächterstimme' etwas beschützt, was es wert war, nicht an jeden ausgereicht zu werden. Hatte deshalb der Mann mit dem Fellumhang damals von niedergeschlagen ausgesehen? Weil auch er sich hier etwas erhofft hatte? Doch was nur? Und wenn eben dieser seltsame Kodex, diese Moorfeld- Chronik der Magier eben genau an dem offensichtlichsten Ort befand? Dem Grab des letzten Großmagiers- und an keinem anderen Ort? Würde Walla sich der Prüfung erneut stellen und nicht versagen, so würde ihr vielleicht die Chronik übertragen oder gegeben. Dann würde sich das Gefüge der Macht in der Schlacht dieses Tages enorm verändern können.
Walla musste ihre Gedanken aussprechen.
„Leute? Ich habe eine irre Idee. Ich denke, diese Moorfelder Chronik, wonach es Ryth und allen anderen verlangt, diese Chronik befindet sich genau hier- vor unseren Augen." Walla zeigte mit dem Finger zum Huppiner Grabhügel herüber.
Bowien zog die Stirn kraus. „Im Grabhügel? Das glaube ich nicht. Der Hügel ist leer. Darin gibt es nichts mehr zu holen. Er wurde schon zig- Male geplündert und untersucht. Von Räubern bis zu Gelehrten haben sich dort aufgehalten. Und du willst uns erzählen, dass diese Chronik, die wohl der machtvollste und gesuchteste magische Gegenstand des Landes ist, sich ebenda befinden soll?"
Simon traute sich dem nichts entgegen zu argumentieren. Er wollte ja auch am Liebsten Walla glauben, doch Bowiens Argumente hatten- nun ja- etwas an sich. Er sah zu Walla und rollte unschlüssig mit den Augen.
Auch Sina zuckte mit ihren Schultern, als wolle sie sagen: 'Du musst natürlich tun, was dir dein Herz hier sagt.'
Ranka und andere Kämpfer schien dies Gerede nicht zu erreichen. Wie Urien, so war auch Ranka voll auf den Feind und das Geschehen im Tal fixiert.
Walla griff ihren eigenwilligen Zauberstab fester, als würde der Stab ihr die Lösung aufzeigen können. Doch dies konnte auch er nicht.
„Aber ich muss es doch wenigstens versuchen. Findet ihr nicht? Das könnte heute alles verändern." Walla blickte zu Vater Gunther und zu Simon. „Steht ihr mir bei? Ich will mich am Kraftort den Prüfungen erneut stellen."
„Was?", fragte Simon entsetzt. „Die halbe Armee des Königs marschiert hier am Hang gegen uns auf. Und du entschließt dich, den einzigen Ort zu verlassen, der uns schützt? Du willst den Wald verlassen?"
„Ich denke ja, Simon. Ich glaube fest daran, dass dieser Weg der Richtige ist.", beharrte Walla auf ihrer absurd wirkenden Idee mit dem Hügelgrab. Und schon setzte sie sich ungeachtet allen Treibens in Bewegung- ohne Unterstützung durch die anderen abzuwarten.
Gunther sprach kurz einige Worte zu Sina, dann ging er seiner ältesten Tochter Walla nach, die an der Baumkante näher zum Grabhügel drängte. Auch Simon folgte Walla nach. Mehrere Krieger- auch Jon, der Müllersohn, sowie Zod und Troin aus Ranka's Truppe sahen darin eine neue Strategie und folgten Walla absichtlich nach.
Sicher: Walla konnte nicht ungesehen von der Vielzahl der Gegner einfach so über die Ebene hinweg bis zum Grabhügel laufen- das war ihr bewusst. Sie hoffte darauf, dass man sie gewähren ließ und sie zumindest den Kraftort einnehmen konnte für sich. Mehr wollte sie nicht gewinnen für diesen Moment.
Und tatsächlich. Einige sahen Walla, der auch weitere Leute zum Grabhügel nachfolgten. Doch taten sie nichts. Zu groß war wohl die Unterwerfung unter Torgyff und Ryth oder die anderen Ritter in der Armee. Und Ryth bereitete immer noch sein Spektakel um Chisto vor.
Walla hechtete fast hinein in die kleine Kammer des Grabhügels.
„Ich bin drinnen! Ich versuche mein Bestes. Wenn ich Hoffnung habe, so kann es ein wenig andauern. Haltet mir einfach die Feinde vom Hals, Ja?", rief Walla zurück.
„Du hast gut reden!", antwortete Simon und sah dabei Gunther in die Augen, der wohl selbiges dachte. „Du bist da unten ja gut geschützt. Aber wir? Wir halten hier nicht gerade eine gute Stellung?!"
Gunther pustete lang Luft aus und zeigte große Augen der Anspannung. Er sah sich um. Noch war man im Sichtschutz des Grabhügels. Doch bei einem Beginn der Schlacht waren sie hier vorn- am Hügel auf der Ebene- die Ersten, die gegen den Feind standen.
Kein sehr beruhigender Gedanke derzeit und unter den gegebenen Umständen.
Doch am Wald regte sich etwas. Es zogen sich einige Kräfte im Schutz der Bäume dort zusammen. Bogenschützen waren zu sehen, einige Bauern.
Walla nahm ihren Platz auf dem Kraftort ein und konzentrierte sich auf die magischen Kräfte. Ihr Geist entrückte damit der Realität, welche um sie herum bestand.
Vor dem Heer unter der Leitung Ryths und Torgyffs suchte Ryth einen gut einsehbaren Platz für sein Vorhaben. Nebenher sprach er auf Chisto immer wieder ein. Er beleidigte den Bibliothekar, machte sich über dessen Tochter und ihr Unvermögen lustig, ihn besiegen zu wollen.
„Weißt du, Chisto, mein alter Meister, heute ist der Tag, an dem ich mich zum Meister über Dich erheben werde. Und glaube mir: Was mir bei deiner Tochter nicht mehr gelang, dies wird mir in jedem Fall bei dir gelingen. Und du wirst als letztes sehen, wie ich dir all deine magischen Kräfte entziehen werde.", stammelte Ryth und zog Chisto an seinen Fesseln zu sich näher heran.
Bibliothekar Chisto überlegte kurz. Dann wiederholte er sinngemäß, was Ryth ihm gerade eingestanden hatte. „Dann sagst Du, dass du Mariettas Magie nicht aufnehmen konntest? Ist das richtig?"
„Oh ja. Sie war so schnell in das Reich der Toten gegangen, dass sie mir dieses Vergnügen nicht mehr gab." Ryth prüfte die Handfesseln an Chisto.
Der Gelehrte indessen schien leicht zu lächeln. Wenn Marietta ihr Ende vor Augen hatte, warum sollte sie auch an Ryth ihre eigene Magie abgeben? Sie konnte ihre eigene Magie doch durch einen Neodomus- Zauber selbst an Dritte auf die Reise gehen lassen? Was, wenn sie dies- ohne Wissen Ryths- sogar getan hatte? Dann würde Mariettas Wissen und ihre Magie fortleben! Doch in wem?
Simon gefiel diese Ruhe vor der Schlacht nicht. Er war extrem angespannt. Dagegen schien Gunther, Wallas Vater, wesentlich ruhiger zu sein, wenngleich auch Gunther sich nach allen Seiten umsah.
Ryth indessen wollte nun sein Schauspiel für die Massen geben. Er löste Chistos Fesselung nun letztlich vollständig. „So? Und nun, mein alter Meister, nun ist es soweit."
„Was ist soweit?"
„Wir geben uns ein Magisches Duell- du gegen mich. Der alte Meister gegen den alten Schüler!"
Chisto sah den Hofmagister Ryth lange abfällig an. Ryth indessen schien angespannt, erwartete einen heftigen Zauber durch Chisto geführt.
Doch dies blieb aus.
„Na los! Greif mich an! Zeig mir all deine magische Macht. Vernichte mich damit, wenn du es kannst!", forderte Ryth siegessicher und dennoch in Erwartung.
Auch vom Wald sah man das Geschehen. Ranka kniff die Augen zusammen. „Was treibt Ryth denn da mit Chisto? Sieht aus, als fordere er den Bibliothekar zu einem Magiekampf auf?"
„Ja. Ich denke auch so.", bestätigte Sina, das Geschehen beobachtend. Doch noch etwas anderes fiel Sina an der rechte Flanke der gegnerischen Einheiten auf.
Eine kleinere Einheit, die unter dem Grafenwappen von Moorfeld hier ins Feld gezogen war, schien sich auf der rechten Seite vom Block der Armee etwas abzusondern. Dieser Trupp bestand nur aus einem Berittenen und sieben anderen Waffenknechten der Grafengarde. Sina erkannte, wer dort in Rüstung zu Pferd saß? Es war niemand anderer als der Grafensohn Ellrick. Und noch ein anderer Knecht zog seinen Helm ab. Rodric war dies, der in der gleichen Truppe wie der Grafensohn diente und hier ins Feld gezogen war. Der gesamte Trupp schien sich nicht nur zu lösen, er distanzierte sich komplett und schien oben am Waldrand überzulaufen.
Dies bekamen auch Torgyff und Ryth mit. Sie sahen dies Spektakel, was sofort auch andere ins Wanken und in Unordnung brachte.
Hauptmann Torgyff war außer sich vor Wut gegen den Grafensohn. „Das bezahlst Du mit deinem Leben, Du Verräter!", spie er lautstark und hasserfüllt spuckend über den Platz des Tales hinweg. Dann forderte er Ryth zur Eile auf. „Na? Herr Hofmagister? Lassen wir uns heute wirklich so viel Zeit? Oder wird es bald etwas geben, was uns Eure Macht zeigen wird?"
Dieser Zuruf Torgyffs brachte Ryth aus dem geplanten Konzept heraus. Ryth reagierte unsicher. Jeder von Ihnen beiden buhlte um die Gunst des Schwarzen Grafen auf seine eigene Art und Weise. Ryth durch seinen engen Bezug zur Magie, die auch der schwarze Graf teilte, Torgyff durch seinen Hang, die anstehenden Probleme schnell und direkt zu lösen- zumeist durch Gewalt. Doch waren Beide effektiv auf ihren Gebieten. Jedoch hier, wo es darauf ankam, dass sie vertrauensvoll miteinander die Armee führten, hier gestaltete sich die Zusammenarbeit nicht sehr fruchtbar.
Und auch Ryth hatte gesehen, dass der junge Grafensohn Ellrick der Armee, die sein eigener Vater entsandt hatte, den Rücken zuwendete und überlief mit seinen Wachen.
Auch dies trug dazu bei, dass Ryth sich unter Zugzwang sah.
Doch der gelehrte Bibliothekar Chisto war vollkommen unbeeindruckt von Ryths Handeln und Herausfordern. Chisto spürte nur noch Verachtung und Abscheu gegen Ryth, jetzt, da er die Wahrheit erfahren hatte über das Schicksal von Marietta. Ryth hatte gar nichts verstanden. Hätte er, als ehemaliger Schüler von Chisto, die Zeichen erkannt oder richtig gedeutet, so hätte er die Wahrheit über Chisto schon lange erkennen müssen.
Oh ja, es ist richtig- in Chisto's Familie bestand ein starker Bezug zur Magie. Dies war unleugbar! Doch Chisto? Er besaß nur Erkenntnisse über Magie, sie war ihm nicht mit der Blutlinie gegeben, noch konnte er sie erlernen. Chisto selbst war ein zugezogener Südländer. Doch er verliebte sich in eine magisch Begabte Frau hierzulande und sie gebar ihm – mit Marietta- eine ebenso magisch begabte Tochter. Doch Chisto selbst war es nur möglich, über Magie zu lehren und sich auch selbst über die magischen Dinge fortzubilden. Mehr Magie war nicht in diesen alten Bibliothekar herein zu interpretieren. Chisto konnte sich nicht auf einen Magischen Kampf einlassen- er besaß keine Magie und war damit kein würdiger Gegner für einen magischen Zweikampf.
Und Ryth merkte es nicht. Es setzte sogar in seiner Not einen Donatus an, der den armen Chisto schwer verletzt zu Boden sinken ließ. Doch Chisto konnte dem nichts entgegensetzen. Unter Schmerzen und voller blutiger Wunden, rutschte er einfach nur auf den Boden aus Gras lang hin.
Chisto's Gedanken indessen drehten sich unermüdlich um das magische Erbe, welches Marietta wohl weitergegeben hatte. Und er fragte sich, wen dieses Erbe wohl bevorteilt haben würde.
Dieser seltsam einseitige Kampf, den Ryth ausfechten wollte und nun ausgelebt hatte, mutete in Torgyffs Augen eher erbärmlich und armselig an. Was wollte dieser Ryth damit beweisen? Seine Vorführung magischer Angriffe auf diesen willenlosen und widerborstigen standhaften alten Mann war eher lächerlich ausgefallen.
So sahen es auch viele der mit hierhergekommenen Ritter und Waffenknechte aus des Königs Armee und sie ließen ihren Zweifeln an Ryths Stärke mit Kommentaren freien Lauf.
„Wenn alle hierzulande von solch magischer Kraft gesegnet wurden, dann steht einem Sieg über die Magier nichts mehr im Wege.", rief einer der Rittersleute und erntete reichlich Gelächter aus den eigenen Reihen dafür.
„Ich hoffe nur, sie können besser und würdiger kämpfen, als dass sie zaubern können!", rief ein anderer Ritter in die Runde, woraufhin es noch längeren und anhaltenderen Beifall und Gelächter gab.
Torgyff hatte nun genug davon- jetzt sollte sein Wort gelten und diesem Zauber ein Ende machen!
„Vorwärts!", rief Torgyff entschlossen. „Vorwärts zum Sieg!"
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