Zwei - LISA
Den halben Tag verbringe ich in meinem Zimmer, während ich meinen Koffer begonnen habe auszupacken, oder frustriert an die Decke starre. Aus diesem Raum zu treten ist im Moment keine Option für mich.
Ich lege zum Schluss den Schlafanzug in die Kommode und schaue daraufhin auf einen entleerten Koffer. Schnell wird dieser noch in die Ecke hinter meiner Tür verstaut, ehe ich wieder aufs Bett falle. Die Stille umhüllt mich und mir werden die Augenlider schwer, bis der Ton einer Benachrichtigung aufkommt. Ich greife nach dem Handy in der schlichten beigen Hülle, welches auf dem Nachttisch liegt, und schaue auf meinen Sperrbildschirm.
[15:12, Will <3]
Hey Lieschen! Bin fertig mit meiner Arbeit für heute. Soll ich bei dir vorbeifahren?
Nein! Will darf hier nicht aufkreuzen. Die Gefahr ist einfach zu groß, dass er diesen Steven trifft. Das mit dem neuen Mitbewohner muss ich ihm schonend beibringen. Oder ich kriege es hin, dass Steven verschwindet und auszieht, bevor Will auch nur irgendetwas mitbekommt.
[15:14, Lisa]
Wollen wir nicht lieber zu dir? Ich kann etwas vom Asiaten mitbringen. (:
[15:15, Will <3]
Klar, wenn das für dich kein Problem ist.
[15:15, Lisa]
Super! Ich fahre sofort los. Bis gleich! (:
Puh, das lief nochmal gut. Ich springe von meinem Bett und suche mir erstmal etwas Neues zum Anziehen aus.
Das Spiegelbild vor mir verändert sich innerhalb von wenigen Minuten. Von dem Mädchen in einer gemütlichen Leggings und einem oversized Shirt wird nun eine Lisa mit einer blauen Jeans und einem schlichten weißen T-Shirt, dass ich in meine Hose gesteckt habe. Meine blonden Haare habe ich aus dem Zopf befreit und sie liegen glatt auf meinem Brustkorb.
Ansonsten trage ich noch etwas Concealer, Puder, Mascara und Lippenstift auf mein Gesicht auf, bis ich zufrieden mit der Person bin, die im Spiegelbild erkennbar ist.
Schnell schnappe ich nach dem Handy, welches ich in meine braune Handtasche packe und diese über die Schulter schwinge.
Meine Hand legt sich auf den Türgriff und ich bete innerlich, dass dieser Idiot mir nicht den Weg kreuzt. Tief einatmend drücke ich die Klinke hinunter.
Vorsichtig strecke ich meinen Kopf durch den offenen Spalt der Tür. Sein Zimmer ist auch noch ausgerechnet direkt nebenan.
Da sich nichts regt, trete ich aus dem Raum und schließe sofort wieder die Tür.
Auf Zehenspitzen gehe ich den Flur entlang, bis sich die Küche auf meiner rechten Seite erstreckt. Anstatt Steven sitzt nun Anna an der Küchentheke mit einer Schüssel Müsli.
„Wer kommt denn da aus ihrem Zimmer gekrochen?", fragt sie mit vollen Mund, während ich an ihr vorbeischleiche, um links ins Wohnzimmer zu gucken, nur um erleichtert festzustellen, dass sich Steven dort ebenfalls nicht aufhält.
Zufrieden lächle ich und gehe zur Garderobe, um mir Schuhe und eine Jacke anzuziehen.
„Wo ist denn unser neuer Mitbewohner?", erkundige ich mich bei Anna.
„Mit seinen Freunden unterwegs, denke ich. Wohin verschlägt es dich denn?", fragt sie, derweil sie sich erneut einen gehäuften Löffel in den Mund schiebt.
„Ich fahr zu Will und sag mir nicht, dass meine Befürchtungen wahrgeworden sind, das du dich die letzten sechs Wochen nur von Müsli und tiefkühl Pizza ernährt hast." Niemand ist fauler, was das Kochen angeht, wie Anna. Ich schaue sie mit erhobenen Augenbrauen an.
„Pff, nein. Ich hatte zwischendrin auch noch Ben&Jerry's. Außerdem kann Steven gut kochen und daher hat er die letzten zwei Wochen für mich mit gekocht.", erwähnt sie mit einem provozierenden Lächeln im Gesicht.
Skeptisch schaue ich zu ihr rüber. „Es wird Zeit, dass du mal lernst, wie man kocht."
„Wieso denn, wenn ich zwei Mitbewohner habe, die das für mich tun?"
Wir Grinsen uns dämlich an, ehe ich "tschüss" rufe und aus der Wohnung verschwinde.
Ich steige in mein Auto, hole zwei Portionen Sushi vom Asiaten und fahre zu Will.
...
„Und, wie war Washington?", erkundigt sich mein Freund und pickt eine Sushirolle mit Stäbchen auf. Ich verstehe einfach nicht, wie man mit diesen Dingern etwas greifen kann. Jedes Mal, wenn ich es versuche, landet alles auf den Boden, anstatt in meinem Mund. Nun sitze ich hier und esse Sushi mit einer Gabel.
„Ganz interessant. Es ist immer wieder schön, dort zu sein und die anderen Kollegen zu sehen, die, wie ich, überall in Amerika arbeiten. Und bei der Fortbildung habe ich gelernt, wie man eine Wohnung anpreist, die eigentlich gar nicht so toll ist. Pass auf, bald werde ich als Immobilienmaklerin die schäbigsten Wohnungen zum besten Preis verkaufen.", sage ich ernst und zeige drohend mit meiner Gabel auf Will, ehe wir beide anfangen zu lachen.
„Meinst du, du wirst schon bald zugelassen, als richtige Immobilienmaklerin zu arbeiten?", fragt er und streicht ein paar Strähnen seines blonden Haares aus dem Gesicht.
Selbstverständlich hoffe ich das. Will weiß genau, wie ambitioniert ich für meinen Job bin. Allerdings fragt er diese Frage in der Art ziemlich häufig, was in mir ein wenig Unbehagen auslöst, da es eben kaum vorangeht. Jedoch sollte ich mich glücklich schätzen mit der Position meiner Arbeit.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht wenn ich mich weiter bei Sarahs Eltern einschleime. Immerhin gehört ihnen die Kanzlei und ich wäre noch lange nicht da, wo ich jetzt bin, ohne ihre Eltern."
„Natürlich, aber wenn du noch ein bisschen mehr Zeit und Konzentration in deine Arbeit steckst, kannst du es auch ohne Einschleimen schaffen."
Er wirft mir diesen du-musst-dich-mehr-anstrengen Blick zu, welchen ich so sehr hasse. Doch anstatt ihn anzuschnauzen, weil er mir wieder gehörig auf meinen nicht vorhandenen Sack geht, lächle ich ihm zu und antworte mit einem „Das werde ich tun" und hoffe, er lässt das Thema jetzt sein.
„Apropo Sarah, habt ihr schon eine neue Mitbewohnerin gefunden?"
Mir fällt fast die Gabel mit dem Sushi aus der Hand. Mist! Ich möchte das Thema doch nicht wechseln.
Angestrengt versuche ich, zu überlegen, was ich sagen soll.
Schnell schiebe ich mir das Sushi in den Mund, um nicht sofort zu antworten.
Fragend schaut mich Will an, doch ich halte den Zeigefinger hoch, damit er kurz wartet. Noch nie in meinem Leben habe ich so lange gekaut.
Was soll ich ihm darauf antworten? Ja, aber - Überraschung - es ist ein Typ, der nicht nur gut aussieht, sondern auch muskulös ist und ein Sixpack hat. Übrigens stand er heute oben ohne in unserer Küche.
Moment mal! Habe ich mir gerade ernsthaft in meinen Gedanken eingestanden, dass Steven gut aussieht? Na ja, so schlecht sieht er jetzt nicht aus und welche Frau hat etwas gegen einen trainierten Körper?
Während ich mir Steven vorstelle, wie er heute Morgen halbnackt in der Küche stand und mir seinen glatten, muskulösen Oberkörper gezeigt hat, läuft der Speichel in meinem Mund zusammen. Will unterbricht das Gedankenkarussell mit einem Räuspern. In diesem Moment fällt mir auf, dass Steven wahrscheinlich doppelt so breit, wie mein unsportlicher Freund ist.
„Was?", entgegne ich und bringe meine Gedanken wieder zurück in die Realität.
„Habt ihr schon eine neue Mitbewohnerin gefunden?", wiederholt er die Frage, nur mit einem genervten Unterton in seiner Stimme. Er hasst es, wenn ich ihm nicht direkt antworte. Aber noch mehr würde er es hassen, wenn er wüsste, dass ich nun mit einer Person des männlichen Geschlechts lebe. Die Redewendung habe ich von ihm.
„Wir sind noch auf der Suche.", lüge ich glatt und schiebe mir erneut ein Stück Sushi in den Mund, um der nächsten Frage wieder ein wenig auszuweichen.
„Kann ich verstehen. In so kurzer Zeit ist es schwer jemand Guten zu finden." Auf seine Aussage hin nicke ich nur. „Aber ihr solltet euch nicht zu viel Zeit lassen. Die Rechnung bleibt schließlich die Gleiche und ich will nicht, dass du weniger Geld sparst, nur weil ihr keine passende Mitbewohnerin findet."
„Wir geben unser Bestes.", antworte ich monoton und schiebe mir das letzte Stück Sushi in den Mund. Ich wünschte, wir könnten mal einen Abend haben, an dem er nicht über Finanzen oder generell Geld redet. Tja, so ist das halt mit meinem bankkaufmännischen Freund.
...
„Ich bin wieder zurück!", rufe ich durch die Wohnung und ziehe meine Jacke und Schuhe aus, wobei mir einfällt, dass hier eine fremde Person wohnt. Sofort bereue ich die Aussage, aber so haben wir es früher immer gemacht. Damals, als keine großen braune Männerschuhe oder breite Lederjacken in unserer Garderobe vorhanden waren.
Anna erscheint aus ihrem Zimmer und begrüßt mich mit einer Umarmung, ehe sie sich in die Küche bewegt, um in den Ofen zu schauen.
„Du hast dir nicht ernsthaft eine Pizza gemacht.", erwidere ich kopfschüttelnd und schlendere zu ihr.
„Nicht so ganz.", reagiert sie und hält einen Finger hoch. „Das sind Low-Carb Pizza-Baguettes." Optimistisch schaut sie mich an, doch ich rolle nur mit den Augen.
„Ist dein geliebter Koch, a.k.a. unser neuer Mitbewohner, immer noch nicht zuhause, um dir essen zu machen?", frage ich sie mit gespieltem traurigem Unterton und lehne mich an die Küchentheke.
„Er ist immer noch unterwegs.", beschwert sich Anna und verschränkt die Arme vor der Brust.
„Und du findest das nur doof, weil er dir kein Essen macht?", hake ich nach und verenge meine Augen. Da muss noch etwas anderes dahinterstecken.
Wenn ich sie so beobachte, sieht sie für einen Freitagabend verhältnismäßig gestylt aus, mit ihrer schwarzen high waist Jeans, dem weißen Top mit einem auffälligen tiefen Ausschnitt und den offenen, welligen Haaren. Dazu kommt ihr nicht gerade dezentes Make-up. Urplötzlich klingelt es bei mir.
„Du willst mit ihm schlafen!", stelle ich empört fest, bevor Anna überhaupt auf meine Frage antworten kann, und reiße die Augen auf.
Etwas unschuldig guckt sie mich an. „Er schaut schon gut aus...", erwidert sie und ein Grinsen schleicht sich auf ihre Lippen.
Mein Gesichtsausdruck sieht allerdings mehr entsetzt, als belustigt, aus. „Hast du ihn deshalb hier einziehen lassen? Damit du mit ihm schlafen kannst?"
„So habe ich defintiv eine höhere Chance, als wenn ich ihm eine Absage gegeben hätte. Das wäre nicht so schlau gewesen." Sie zuckt mit den Schultern.
Meine Ohren können nicht glauben, was ich da gerade höre. Die ganze Nummer wird ja immer besser.
„Anna, genau das ist nicht schlau! Weißt du überhaupt, was du anrichtest, wenn du mit ihm schläfst? Er ist nicht einer der anderen Typen, die du im Club abfängst, dann mit ihnen eine schöne Nacht verbringst und dann nie wiedersiehst. Steven wohnt hier! Hier mit uns beiden! Weißt du, wie unangenehm das werden kann?"
„Wer sagt denn, dass es nur ein One-Night-Stand ist."
Ein lautes Lachen entkommt mir.
„Du willst mit ihm also eine Beziehung führen?", frage ich sie skeptisch und ziehe meine Augenbrauen hoch.
„Warum nicht? Wenn der Sex gut ist."
Fassungslos laufe ich in der Küche auf und ab. „Anna, du kannst keine Beziehungen führen. Darf ich dich mal an deine letzten vier Beziehungen erinnern, die entweder nach 2 Wochen zerbrachen, oder du fremd gegangen bist?"
„Vielleicht ist es bei ihm ja anders."
„Das sagst du jedes Mal!", schreie ich frustriert, bleibe stehen und halte mir die Hand an die Stirn.
„Chill mal! Was regst du dich überhaupt so auf? Ein bisschen Sex hier und da mit dem Mitbewohner ist doch nichts Schlimmes. Vielleicht regst du dich nur so auf, weil du seit Ewigkeiten keinen Sex hattest. Ich denke, du könntest einen One-Night-Stand gebrauchen.", erwidert meine Mitbewohnerin und sieht mich provozierend an. Ich schaue sie mit zusammengekniffenen Augen an.
„Ich habe einen Freund, den ich sehr liebe, falls ich dich daran erinnern darf.", zische ich.
Anna stellt den Ofen aus und holt sich Ofenhandschuhe, um die Pizza herauszuholen.
„Natürlich, Will. Mister ich-bin-ultra-eifersüchtig-und-schlafe-nur-alle-paar-Monate-mit-meiner-Freundin."
„Das ist nicht wahr.", versuche ich gegen ihr Argument anzukämpfen und dieses Mal bin ich diejenige, die die Arme vor der Brust verschränkt. Anna wirft mir einen Blick zu. Ja okay, vielleicht ist es doch wahr, aber ich respektiere meinen Freund.
„Wenn wir schon bei deinem Freund sind; hast du ihm von unserem neuen Mitbewohner erzählt?", hakt sie weiter nach und schneidet ihre Pizzabaguettes in kleine Stücke.
„Nein.", antworte ich leise und schnappe ihr genervt ein Stück ihres Essens weg.
„Früher oder später wird er es sowieso erfahren, oder willst du ihn für immer von deiner Wohnung fernhalten?"
"Das ist mein Plan C.", sage ich und puste die Pizza an, damit sie schnell abkühlt.
"Und was sind Plan A und B?"
"Plan A ist, dass er auszieht, Plan B ist, dass ich dich umbringe oder ihn. Vielleicht sogar euch beide."
Empört guckt sie zu mir. "Ey, warum denn mich?"
"Weil wir ohne dich nicht in diesem schlamassel stecken würden."
Bei meiner Mitbewohnerin bilden sich Falten auf der Stirn.
"Tu doch nicht so, als hätte ich etwas schlimmes verbrochen. Außerdem, hättest du nicht diesen eifersüchtigen Typen als Freund, würde es dich genauso wenig stören, wie mich."
"D-Das stimmt doch gar nicht", erwidere ich mit einer viel zu hohen Stimme, die meine Zweifel an dem besagten deutlich hervorhebt. Anna lacht kurz auf. "Es ist mir egal was du denkst. Er muss weg. Fertig!"
Meine beste Freundin schnappt sich ihren Teller mit ihrem Essen und begibt sich in die Richtung ihres Zimmers.
„Vergiss es!", ruft sie und schlägt ruckartig die Tür zu.
Aufgebracht stehe ich nun hier rum.
Oh doch! Der Typ hat mich nur noch nicht kennengelernt. Er wird verschwinden, egal unter welchen Umständen.
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